Sommerdüfte einatmen, um den Winter zu überstehen
So kehrte ich also an den Ort zurück, an dem ich aufgewachsen war. Für mich verhieß die Rückkehr nach Hause allerdings nichts Gutes, und bei Veränderungen kommen ja immer widersprüchliche Gefühle hoch. Mir war das zwar nicht klar, aber ich sehnte mich in diesem Moment nach einem Gefühl, brauchte unbedingt eine Emotion. Allerdings wusste ich das noch nicht.
Es war kalt an jenem Morgen des 5. November, als ich an dem riesigen Haus ankam. Es gehörte Vaters Familie bereits seit vier Generationen, was übrigens auch der Staub in allen Zimmern bewies.
Dort hatte ich meine Kindheit verbracht, meine schönsten Jahre und auch die schlimmsten. Oder so ist es mir zumindest in Erinnerung geblieben …
Als ich das Auto parkte, stand Vater draußen auf der Veranda, als hätte er mich erwartet.
Er behielt mich im Auge, während ich die Wagentür öffnete. Bis ich dann endlich einen Fuß auf diesen Boden setzte, verstrich jedoch einiges an Zeit. Ich war mir einfach nicht sicher, ob dieser Besuch wirklich eine gute Idee gewesen war. Deshalb hatte ich auch nichts mitgebracht, kein Gepäck, keine persönlichen Gegenstände; ich hatte meine ganze Welt hinter mir zurückgelassen.
All mein Besitz befand sich in einigen Kilometern Entfernung.
Ich wollte es von dieser ersten Begegnung abhängig machen, ob ich mein Versprechen, mich um meinen Vater zu kümmern, wirklich halten würde … Vater beobachtete mich noch immer, wobei sich in seinem Gesicht keinerlei Emotionen spiegelten. Er schaute einfach nur von der Veranda her zu mir rüber.
Einen schlimmeren Empfang hätte ich mir kaum vorstellen können. Wahrscheinlich machte ihm meine Rückkehr auch keine Freude, aber er war sich vermutlich dessen bewusst, dass er mich brauchte.
Mein Vater war sehr krank, und das wusste er auch. Vermutlich akzeptierte er meine Rückkehr deshalb, weil sich nicht einmal die Todgeweihten nach Einsamkeit sehnen.
Die Krankenschwester, die ihn während der letzten Jahre gepflegt hatte, stand ein paar Schritte hinter ihm. Als ich nun einen Fuß auf seine Erde setzte, machte er einen kleinen Schritt nach hinten, und die Krankenschwester kam näher.
Zunächst einmal entschuldigte sie sich dafür, dass sie sich nicht länger um meinen Vater kümmern konnte. Sie musste gehen, weil ihre Familie sie brauchte.
Vermutlich fällt die Entscheidung nicht schwer, wenn man zwischen seinem eigen Fleisch und Blut und einem Wildfremden wählen muss. In meinem Fall war die Sache aber nicht so klar … Auf dem Weg vom Auto zur Veranda informierte mich die Schwester und gab mir Tipps – Namen von Medikamenten, Einnahmezeiten und ein kleines Heftchen, in dem sie alles notiert hatte.
Ich habe noch nie gut zwei Dinge gleichzeitig tun können, deswegen hörte ich kaum zu.
Und jetzt fiel es mir schon schwer genug, meinen Vater anzusehen. Er beobachtete mich weiterhin aus der Ferne, stand beinahe im Rahmen der Haustür, fast in ihrem Schatten.
Es kam mir so vor, als würde sein Gesicht immer mehr Erstaunen ausdrücken, je leiser die Stimme der Pflegerin wurde.
Als wir am Fuß der Verandatreppe ankamen, schien die Frau mir alles Wichtige gesagt zu haben. Deshalb trat sie jetzt ein paar Schritte zur Seite, um uns etwas Privatsphäre zu geben.
Ich war nur noch ein paar Meter von Vater entfernt, nicht mehr als die sechs Stufen, die zur Verandatür hinaufführten.
Und jetzt musste ich mit ihm reden … in Erfahrung bringen, was er von mir wollte und was ich ihm zu bieten hatte.
Ich hätte mich ihm schon lange stellen sollen.
Als ich die Treppe hinaufstieg, entfernte sich die Krankenschwester noch etwas weiter. Mein Vater schaute mich an, sagte aber nichts. Dann ging er in den ersten Stock hinauf, wo sich auch mein Zimmer befand, und ich folgte ihm.
Plötzlich erschien es mir bedeutsamer als erwartet, diese Treppe hinaufzusteigen, die früher mal Dreh- und Angelpunkt meiner kleinen Welt gewesen war.
Ich war doch aus diesem Haus fortgegangen, um Vater nie wiederzusehen, und vor allem, um es im Leben zu etwas zu bringen. Und beides war mir bis jetzt gelungen. Aber während all dieser Jahre hatte ich auch das Gefühl gehabt, dass mich meine persönlichen Ziele weit von meinen Wurzeln weggeführt hatten … so weit weg von diesem Zuhause.
Und zurückzukommen fand ich ganz schrecklich. Meiner Meinung nach ergab dieser Weg zurück keinen Sinn, und ich war ja auch nur hier, weil mir der Verlust eines Elternteils Worte in den Mund gelegt hatte.
Jede einzelne Stufe auf dem Weg in den ersten Stock stellte ein weiteres Argument gegen meine Entscheidung dar.
Und dann erreichte ich schließlich das Zimmer, das jahrelang meins gewesen war. Den Türknauf zierte meine Initiale, ein riesiges E, das ich vor Jahren mal in der Weihnachtszeit dort hineingeritzt hatte. Vater stand jetzt direkt daneben, aber nicht er drehte den Knauf, sondern ich selbst.
Als ich die Tür öffnete, erfüllte mich Melancholie, weil dem Zimmer immer noch der Geruch meiner Kindheit anhaftete. Ich fand es unglaublich, dass er nicht verflogen war. Mir kam es so vor, als sei der Raum hermetisch verriegelt worden, damit ich eines Tages hier ankommen, die Tür öffnen und den alten Duft wieder in mich aufnehmen konnte.
Ich kannte doch inzwischen zig Wohnungen, Hotels und Dachterrassen, aber so ein Geruch war mir seit meiner Kindheit nie wieder untergekommen.
Der musste wohl einzigartig sein … wahrscheinlich war dazu das Zusammenspiel von jedem einzelnen Möbelstück, jedem Buch und Spielzeug nötig.
Selbst mit sechs oder sieben Gegenständen aus dem Zimmer hätte ich diesen Geruch so nirgendwo anders heraufbeschwören können. Tief sog ich diese ganz persönliche und magische Luft in mich ein.
Meine Frau hatte immer gesagt, dass man unwiederholbare Momente tief einatmen muss.
Sie sog Erinnerungen in sich auf.
Vor allem Sommerdüfte, die sie für den Winter aufbewahrte, wie sie mir erklärte.
Meine Frau mochte die Kälte nicht und erzählte mir, dass ein Teil ihres Gehirns sich an den Sommerdüften festhielt, um den Winter zu bekämpfen. Deshalb berührte sie mich immer im Nacken, wenn uns etwas Gutes passierte, und sagte: »Atme ein, tief einatmen!«
Wie sehr mir meine Frau fehlte. Sie war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, während ich im Kino gesessen hatte. Ich hatte wie immer das Handy ausgemacht, um mal die Welt hinter mir zu lassen.
Als ich wieder rauskam, schaltete ich das Mobiltelefon ein und entdeckte 23 Anrufe in Abwesenheit. Natürlich befürchtete ich sofort das Schlimmste und wählte voller Angst die Nummer der Mailbox.
Leider wusste ich schon seit Jahren, dass der Tod ziemlich hartnäckig ist, wenn er sich erst einmal gemeldet hat.
Das Auto meiner Frau war gegen eine Leitplanke geknallt, dann quer über drei Fahrspuren geschleudert worden, gegen die Leitplanke auf der anderen Seite geprallt und wieder über die drei Fahrspuren geschlittert.
Jenen Straßenabschnitt kann ich seitdem nicht mehr befahren und mache die wildesten Umwege, um ihn zu vermeiden.
Damals hörte ich mehrere andere Nachrichten ab, bevor dann die entscheidende kam. Der Anrufer wollte keine Informationen preisgeben und nur persönlich mit mir sprechen.
Ich stand direkt im Eingang des Kinos, wo über mir Poster sechs Frühlingsfilme ankündigten. Um mich herum strömten Leute herbei, die auf der Suche nach Emotionen waren oder der Langeweile entfliehen wollten.
Für diese Jahreszeit hatte man die Klimaanlage des Kinos viel zu hoch eingestellt, deshalb war mein halber Körper völlig durchgefroren – die Hälfte, die sich noch im Gebäude befand.
Nach vier anderen Nachrichten ertönte dann diese neutrale Stimme, ganz ähnlich denjenigen, die einen sonst zum Wechsel des Handyanbieters überreden wollen: »Kommen Sie bitte ins Hospital Miramar. Ihre Frau ist lebensgefährlich verletzt. Sie hatte …«
An dieser Stelle wurde die Nachricht unterbrochen, und es erklang nur noch Stille.
Aber meine Welt war bereits explodiert, deshalb sank ich in die Hocke, während die Angst über mich hinwegrollte.
Niemand schien sich zu fragen, was denn mit mir los war. Der Schmerz anderer Menschen führt in der Öffentlichkeit wohl nur zu Befremden.
Keine Ahnung, wie lange ich reglos dahockte. Es war, als ob mein Gehirn sich neu hochfahren würde, in der Hoffnung, dass in Wirklichkeit gar nichts passiert war. Irgendwann beschloss ich, mich in Gang zu setzen. Hier konnte ich nicht bleiben, jetzt hieß es handeln. Darum griff ich nach dem Handy und rief meine Frau an. Als Erstes musste ich mich einfach bei ihr melden.
Denn vielleicht war ja alles gelogen. Ich hatte mal gehört, dass man im Internet leicht an die Daten von Menschen kommen konnte, die irgendwelche Eintrittskarten online gekauft hatten. Dann riefen Kriminelle diese Leute an und lockten sie mit einer erfundenen Geschichte an ein Ende der Stadt, während sie ihnen am anderen Ende die Wohnung ausräumten.
Ja, bestimmt war es so, versuchte ich mir selbst einzureden, obwohl das doch gar keinen Sinn ergab.
Nachdem ich gewählt hatte, klingelte das Telefon meiner Frau auch, was ich für ein gutes Zeichen hielt. Dreimal, viermal. Aber sie ging nicht ran, also legte ich wieder auf.
Und dann erschien auf einmal eine unglaublich lange Nummer auf dem Display, genauso lang wie die der Anrufe in Abwesenheit. Die Ziffern schienen allerdings anders zu sein. Es klingelte drei- oder...