SCHRITT 1
Verstehen Sie, dass Sie kein Felsbrocken sind
Ich möchte Ihnen eine wahre Geschichte erzählen. Es geht um ein paar Felsbrocken, und die Geschichte geht so:
Eines Tages, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, lagen hoch oben auf einem Berg in den italienischen Alpen zwei sehr große Felsbrocken. Sie lagen an der Flanke eines Berges über einem Bauernhof an der Straße zwischen Ronchi und Cortaccia, Strada Provinciale 19 (falls Sie eine Tour dorthin planen).
An diesem speziellen Tag beeinflussten externe, kontextabhängige Faktoren die Felsbrocken, Faktoren, über die sie keine Kontrolle hatten. Diese kontextuellen Faktoren verursachten einen Erdrutsch. Und die Felsbrocken fielen vom Berg herab.
Sie stürzten den Hang hinunter auf den Bauernhof zu. Am Fuß des Abhangs führte eine einspurige Landstraße am Bauernhof und an der Scheune daneben vorüber. Einer der Felsbrocken landete auf der Straße und blieb unmittelbar vor dem Eingang des Hofgebäudes liegen. Es war ein massiver Brocken. Er reichte bis zum Dach des Hofgebäudes. Noch ein wenig zusätzlicher Schwung, und er hätte das Haus und alles (und jeden) darin zerstört.
Der andere, ähnliche große Felsbrocken jedoch blieb nicht an der Straße liegen. Er rollte darüber hinweg in die alte Scheune auf der anderen Seite. Die Wucht des Aufpralls zerstörte die Scheune und verstreute die Bretter und ganze Abschnitte des Dachs über den Hof. Der Felsbrocken rollte weiter ins Tal hinab, errang einen wirkungslosen Vorsprung vor dem alljährlichen Weinfest, und kam schließlich neben einem noch größeren Brocken zum Stehen, der viele Jahre zuvor vom Berg herabgerollt war.
Wie hätte sich dieser Felsbrocken Ihrer Meinung nach gefühlt, nachdem er das getan hatte, wenn er denn Gefühle haben könnte? Peinlich berührt? Schuldbewusst? Verzweifelt bemüht, dem Erdrutsch die Schuld zu geben? Wütend auf den anderen Felsbrocken, dass er ihm bei ihrem Plan nicht gefolgt ist? Glauben Sie, dass den anderen Felsbrocken der Gedanke an die Schlächterei gequält hätte, die er angerichtet hätte, wäre er nicht dort stehen geblieben, wo er stehen blieb?
Wie hätten Sie sich gefühlt, wenn Sie einer der beiden Felsbrocken gewesen wären? Haben Sie eine Stunde damit verbracht, über das nachzudenken, was Sie in einer SMS schreiben sollten, weil Sie Angst hatten, das Falsche zu sagen und eine Partnerschaft zu ruinieren? Haben Sie jemals Mails auf der Arbeit erneut gelesen und neu geschrieben, immer wieder, weil Sie Angst hatten, gefeuert oder als inkompetent angesehen zu werden? Erweckt Verantwortung in Ihnen Angst? Verbringen Sie Tage damit, sich mit Fehlern in Ihrer Vergangenheit zu beschäftigen? Möchten Sie diese Erinnerungen loswerden? Hören Sie Menschen im Kopf, die Sie anschreien, weil Sie etwas versaut haben? Verbringen Sie Stunden mit dem Versuch zu begründen, warum nicht Sie Schuld an den Dingen haben, die in Ihrem Leben falsch gelaufen sind?
Worauf ich hinaus will: Das sind alles sehr menschliche Erfahrungen. Besagte Felsbrocken in jenem Tal in Italien werden nie solche Erfahrungen machen. Ich habe gesagt: ›Wenn er denn Gefühle haben könnte.‹ Er kann es nicht, er ist ein Felsbrocken. Sie sind kein Felsbrocken. Sie haben Gefühle.
Seien Sie Mensch
Wahrscheinlich gehen Sie an körperliche Fitness wie ein Mensch heran. Wenn Sie Kraft aufbauen wollen, heben Sie schwere Gewichte, die dafür sorgen, dass Sie sich schwach fühlen. Wenn Sie Ausdauer steigern wollen, laufen Sie, bis Sie schwitzen, bis Ihnen alles wehtut und Sie so weit sind, stehenbleiben zu wollen. Sie laufen trotzdem ein bisschen weiter, damit es beim nächsten Mal nicht mehr so schwerfällt. Wenn Sie beweglicher sein möchten, dehnen Sie sich immer wieder, bis Sie ganz steif sind, und Sie dehnen sich trotz Ihrer Steifheit immer wieder, bis Ihre Beweglichkeit größer wird. Sie versuchen, die Grenzen der vergangenen Woche zu überschreiten. Es misslingt Ihnen immer wieder, und das nennen Sie ›Übung‹. Sie machen Kniebeugen und Kreuzheben, bis Ihre Beine wie aus Pudding sind und am folgenden Tag derart schmerzen, dass Sie kaum aufstehen können, und das nennen Sie ›gutes Training‹.
Durch die paradoxe Übung, eine schwere Sache zu tun, damit die schwere Sache weniger schwer wird, verändern sich Menschen. Das ist eine den meisten Menschen verständliche Vorstellung. Wenn Sie jemandem gesagt haben, dass Sie vorhaben, dadurch stärker zu werden, dass Sie anstrengende Übungen meiden, wissen sogar Menschen, die nicht trainieren, dass das lächerlich ist.
Aber es gibt wahrscheinlich genügend Menschen in Ihrem Umfeld, die Sie dazu ermuntern, auf genau entgegengesetzte Art und Weise an Ihre psychische Gesundheit heranzugehen. Angst meiden, weniger Stress spüren, keine schlimmen Gedanken hegen, auf Auslöser achten, Ungewissheit loswerden, seinen Mann stehen, nicht so emotional sein, sich nicht schlecht fühlen (alles wird in Ordnung kommen). So entwickeln Menschen nicht die Fähigkeit, mit schwierigen Herausforderungen fertigzuwerden. Schwierige Dinge zu meiden, macht schwierige Dinge noch schwieriger.
Das zu verstehen ist so wichtig, weil Sie daran gehen wollen, bessere emotionale Fitness zu erwerben. Sie können Ihre Fähigkeit entwickeln, mit Emotionen umzugehen, indem Sie mehr fühlen und insbesondere mehr der Gefühle spüren, die für Sie eine Herausforderung darstellen. Indem Sie schwere Gefühle anheben, wird das Anheben schwerer Gefühle leichter. Sie können eine größere Spannbreite an Gefühlen empfinden, und Sie können sie tiefer empfinden.
Schlechter psychischer Gesundheitszustand fällt nicht vom Himmel. Psychische Krankheit ist wie eine Herzerkrankung – Sie arbeiten sich über eine komplexe Mischung aus Umwelt, genetischen und erzieherischen Faktoren in Verbindung mit jeder Entscheidung, die Sie zu Hause, auf der Arbeit, in der Schule, in Beziehungen treffen, zu ihr hinauf – wo auch immer Sie sein mögen, in jeder einzelnen Minute des Tages. Das Meiden von Gefühlen, der Versuch, sie zu kontrollieren, sie zu übertünchen oder ihnen nachzujagen, ist in der Welt der psychischen Gesundheit so etwas wie die frittierten Pepperonisticks, dreifachen Cheeseburger und extra großen Pizzas. Gewiss, Sie spüren Verlangen danach, und sie fühlen sich gut an, und Sie sind nie in der Lage, einem bestimmten Junkfood die Schuld an einem Herzinfarkt zuzuschreiben, aber wenn solche Sachen regelmäßiger Teil Ihres Alltagslebens werden, ist das Ergebnis immer ein hässliches.
In diesen ersten beiden Kapiteln bespreche ich zwei Konzepte, die fundamental für den Aufbau einer besseren psychischen Gesundheit und emotionalen Fitness sind. Es ist wichtig, dass wir uns einig darüber sind, wie Übungen für die seelische Gesundheit aussehen und warum wir sie ausführen. Daher sage ich noch einmal:
Sie sind kein Felsbrocken. Sie empfinden Dinge.
Ich wollte ein Felsbrocken sein
Früher habe ich ständig Dinge getan, in meinem Kopf und außerhalb meines Kopfs, um Dinge nicht zu spüren. Ich wollte mich nicht unsicher fühlen, oder gehasst, oder allein, oder zerbrochen, oder gefangen, oder hässlich, oder verletzt, oder unglücklich, oder schuldig, oder ängstlich ... Es gab so viele Gefühle, die ich nicht empfinden wollte! Im Grunde wollte ich ein Felsbrocken sein.
Felsbrocken verfügen nicht über verschiedene Zustände verbesserbarer psychischer Gesundheit. Felsbrocken stellen sich nicht vor, andere Felsbrocken zu erstechen. Felsbrocken werden nicht eifersüchtig oder kämpfen nicht mit ihrer Sexualität oder stellen die Bedeutung ihrer Existenz in Frage. Felsbrocken reden sich nicht ein, dass andere Felsbrocken sie vergiften wollen.
Wenn wir versuchen, Dinge nicht zu empfinden, versuchen wir, Felsbrocken zu sein. Daher ist es nicht überraschend, dass wir in dem Augenblick, wenn wir in Unsicherheit geworfen werden, versinken. Felsbrocken versinken.
Felsbrocken werden immer weniger Angst empfinden als Sie. Sie werden Sie jedes einzelne Mal schlagen, wenn es darum geht, weniger Schuld und Bedauern zu spüren. Kein Felsbrocken wird je so viele Fehler begehen wie Sie. Wie sehr Sie sich auch in Meditation üben, Sie werden immer wesentlich leichter abgelenkt werden und weniger konzentriert sein als der durchschnittlichste Kieselstein in einem verschlammten Graben. Sie werden sich nie so wenig Sorgen machen wie ein Felsbrocken. Sie werden nie so sehr Ihre Begierden unterdrücken können wie ein Felsbrocken. Kein Felsbrocken wird jemals so häufig rückfällig werden wie Sie. Kein Felsbrocken wird jemals so häufig versagen wie Sie.
Wenn Sie die Übungen in diesem Buch durcharbeiten und Ihren Alltag bestreiten, denken Sie an jenen Felsbrocken8 in jenem Weinberg in Italien, der nicht an die Scheune denkt, die er zerstört hat, und auch nichts dabei empfindet. Sie sind nicht wie dieser Felsbrocken. Sie können nicht wie dieser Felsbrocken sein. Sie...