Johanniskraut auf dem Prüfstand
Vielfältige Wirkungen
Als Stimmungsaufheller haben Johanniskraut-Präparate den chemischen »Glückspillen« längst den Rang abgelaufen. Wie sich in vielen groß angelegten Studien gezeigt hat, helfen die natürlichen Wirkstoffe im Johanniskraut bei leichten bis mittelschweren Depressionen ebenso gut wie chemische Antidepressiva. Was die Verträglichkeit der Mittel angeht, schneidet Johanniskraut sogar um Längen besser ab. Welche Stoffe jedoch im Einzelnen für die eine oder andere Wirkung verantwortlich sind, ist unter Wissenschaftlern heftig umstritten. Vieles spricht dafür, dass die Inhaltsstoffe in ihrer Gesamtheit wirken – und das gilt für die antidepressiven wie auch für die antibakteriellen und antiviralen Effekte.
Wie ist das mit dem roten Farbstoff?
Er gehört zweifellos zu den medizinisch wirksamen Stoffen. Es handelt sich dabei um das »Hypericin«, dessen antibakterielle Wirkung bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts entdeckt wurde. Auch hypericinähnliche Substanzen (die chemisch zu den Naphthodianthronen gehören) sowie Flavonoide wie Quercetin und Quercitrin, Biflavonoide wie Biapigenin, Amentoflavon und Xanthone sind wichtige Inhaltsstoffe. Und nicht zuletzt das antibiotisch wirksame Hyperforin, dessen chemische Struktur den bitteren Substanzen im Hopfen (Humulon und Lupulon) ähnelt. Außerdem enthält Johanniskraut Gerbstoffe, Blütenfarbstoffe, ätherische Öle, Procyanidine und Phytosterine. Den Pharmakologen ist es zwar gelungen, etliche Inhaltsstoffe von Hypericum perforatum zu isolieren, es sind aber längst noch nicht alle.
Gibt es für die antidepressive Wirkung eine Erklärung?
Nein, die gibt es (noch) nicht. Obwohl mittlerweile viele Studien die Wirksamkeit von Johanniskraut als Antidepressivum bestätigen, konnte der komplizierte Wirkmechanismus bis heute nicht ganz entschlüsselt werden. Wissenschaftler versuchen derzeit herauszufinden, welche pharmakologischen Inhaltsstoffe der Pflanze die antidepressiven Effekte auslösen und auf welche Weise sie in die körpereigenen Abläufe eingreifen. Vor Jahren hatten Forscher dem Hypericin als Hauptwirkstoff die depressionslösenden und stimmungsaufhellenden Effekte zugeschrieben. In mehreren pharmakologischen Modellen konnten die Experten bei Hypericin und zwei Flavonoiden biochemische Wirkungen nachweisen, die für bestimmte antidepressiv wirkende synthetische Medikamente typisch sind. (Von den herkömmlichen Antidepressiva ist weitgehend bekannt, in welcher Weise sie in die Stoffwechselvorgänge im Gehirn eingreifen und über hormonelle Veränderungen die psychische Reaktion entweder stimmungsaufhellend und aktivierend oder dämpfend beeinflussen.) Spätere Forschungen ließen den Schluss zu, dass Hyperforin eine der wohl wichtigsten pharmakologischen Substanzen der Pflanze ist. Es ist im Johanniskraut-Extrakt in noch höherer Konzentration als Hypericin enthalten. Hyperforin steckt nur in den frischen Blüten des Krauts. In umfangreichen biochemischen Versuchsreihen hatte sich herausgestellt, dass hyperforinhaltige Fraktionen des Extrakts weitaus stärkere Hemmwirkungen an Enzymsystemen unseres Körpers hervorrufen als hypericinhaltige Auszüge.
Die wichtigsten Inhaltsstoffe auf einen Blick
Hypericin: 0,1 %
Pseudohypericine (hypericinähnliche Stoffe): 0,2 %
Flavonoide: 1,6 %
Hauptkomponenten sind Flavonole, Flavonolglycoside und Biflavonoide wie Quercetin, Quercitrin, Isoquercitrin, Rutin und Hyperosid.
Gerbstoffe: 10 %
Ätherische Öle: 0,1 bis 0,35 %
Hauptkomponenten sind Pinene, Cineol, Myrcen und n-Alkane wie n-Nonan, n-Octal, n-Decanal.
Antibiotisch wirksame Substanzen: 3 %
Hauptkomponenten sind Hyperforin, Hypericin und Adhyperforin.
Wodurch entgleist der Hirnstoffwechsel?
Trotz vieler Erklärungsmodelle ist bis heute noch nicht endgültig klar, welche biochemischen Mechanismen zu einer Depression führen. Man geht allgemein davon aus, dass bei einer Depression Botenstoffe des Gehirns aus der Balance geraten, die Gefühle, Gedanken und Körperfunktionen steuern. Solche Botenstoffe (»Neurotransmitter«) sind zum Beispiel Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und andere.
Die meisten chemischen Antidepressiva verhindern, dass bestimmte Botenstoffe des Hirnstoffwechsels blitzschnell wieder ins Nerveninnere zurückgepumpt werden. Dadurch entsteht an den Kontaktstellen zu den benachbarten Nervenzellen eine erhöhte Konzentration dieser Neurotransmitter, die die stimmungsaufhellenden Signale intensivieren und verlängern.
Was kann Johanniskraut bewerkstelligen?
Der natürliche Stoff wirkt genauso wie die chemischen Antidepressiva: Er verzögert den Rücktransport der Botenstoffe in die Nervenzelle. Doch das natürliche Gemisch aus verschiedenen Inhaltsstoffen greift in das System mehrerer Stoffe ein, die für den Signalaustausch zwischen den Nerven wichtig sind.
Anders als beispielsweise ein »selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer«, der auf diesen einen Botenstoff spezialisiert ist, steuert der Pflanzenextrakt neben Serotonin auch die Botenstoffe Noradrenalin, Dopamin, GABA und Glutamat.
Man nimmt an, dass Johanniskraut außerdem bestimmte Rezeptoren im Gehirn anspricht. All das erklärt auch, warum Johanniskraut ein sehr viel breiteres Wirkungsspektrum hat als herkömmliche Antidepressiva.
Seelische und körperliche Effekte
In Dutzenden von medizinischen Studien kamen die Experten zu dem verblüffenden Ergebnis: Den meisten Menschen ging es nach der Einnahme von Johanniskraut-Extrakten nicht nur seelisch, sondern auch körperlich deutlich besser. Typische Symptome, die durch seelische Belastungen verursacht werden, wie Mattigkeit, Mutlosigkeit, Kopfschmerzen, innere Unruhe und Schlafstörungen, verschwanden binnen weniger Wochen. Außerdem ist Johanniskraut besser verträglich als die chemischen Mittel, denn es macht nicht müde und beeinträchtigt auch nicht die Konzentrationsfähigkeit.
Welche Wirkungen sind denn »amtlich« bestätigt?
Eine Kommission des damaligen Bundesgesundheitsamtes bescheinigte erstmals 1984 dem Johanniskraut, dass es bei psychovegetativen Störungen, depressiven Verstimmungszuständen, Angst und /oder nervöser Unruhe zur Anwendung kommen kann. In die »positive Monografie« der Pflanze nimmt die Kommission aus unabhängigen Fachleuten auch die öligen Hypericumzubereitungen auf, die innerlich bei dyspeptischen Beschwerden (Verdauungsstörungen bei Säuglingen) und äußerlich zur Behandlung und Nachbehandlung von scharfen und stumpfen Verletzungen, Myalgien (Muskelschmerzen) und Verbrennungen ersten Grades zur Anwendung geeignet sind.
Es wirkt das harmonische Ganze. Die neuesten Erkenntnisse lassen zwar den Schluss zu, dass Hypericin und Hyperforin die pharmakologisch aktivsten Substanzen im Johanniskraut sind. Dennoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Menge eines einzelnen Inhaltsstoffs der Pflanze allein die Wirkung ausmacht. Zumal die modernen phytopharmazeutischen Forschungen beim Johanniskraut nur bestätigen, was auch für andere Pflanzen gilt: Es sind komplexe Vielstoffgemische, bei denen stets das harmonische Ganze aus Blüten, Blättern und Stängeln seine volle Wirkung entfaltet.
Was hat der sanfte Seelentröster sonst noch für Stärken?
Verschiedene experimentelle Studien haben gezeigt, dass die Pflanzenextrakte von Hypericum perforatum neben der antidepressiven Wirkung antientzündliche, antivirale, antibakterielle, insektizide sowie antikanzerogene (krebshemmende) Effekte haben. Damit bestätigen die beobachteten Ergebnisse in etwa das, wovon die Volksheilkunde schon seit Langem ausgeht.
Hilft Johanniskraut-Öl auch bei schweren Verbrennungen?
Dass mithilfe von Johanniskraut-Auszügen Wunden besser und schneller abheilen, hat die Schulmedizin inzwischen bereits mehrfach dokumentiert. Zu den ersten wissenschaftlichen Nachweisen gehört eine Studie, die in den Vereinigten Staaten vor mehr als zwei Jahrzehnten aktenkundig wurde. Forscher hatten mit einer Mixtur aus fünf Gramm frischen Johanniskraut-Blüten und 100 Gramm Olivenöl, die sie zehn Tage lang bei Zimmertemperatur »ziehen« ließen, Patienten mit Verbrennungen ersten, zweiten und dritten Grades behandelt. Das verblüffende Ergebnis: Verbrennungen ersten Grades waren nach 48 Stunden abgeheilt, die zweiten und dritten Grades geschädigte Haut heilte dreimal schneller ab als Verbrennungen, die mit konventionellen Mitteln behandelt wurden. Die Johanniskraut-Zubereitung verhinderte außerdem, dass sich nach der Abheilung der Wunden narbenartige Hautgeschwülste (Keloide) bildeten. Die antiphlogistische Wirkung der öligen Zubereitung wird übrigens auf den hohen Flavonoidgehalt zurückgeführt.
Die wundheilenden Kräfte hat das Johanniskraut jedoch nicht nur, wenn es äußerlich verwendet wird. Das jedenfalls konnten Forscher im Jahre 1991 beobachten, nachdem Patienten mit verletzter Haut eine Johanniskraut-Tinktur eingenommen hatten. Diese Arznei war in der Studie wesentlich effektiver als eine Salbe aus Ringelblumenextrakt (Calendula officinalis), mit der traditionell schlecht heilende Wunden und Geschwüre äußerlich behandelt werden.
Was hat es mit der keimabtötenden Wirkung auf sich?
Zur guten Wundheilung tragen im Johanniskraut offenbar mehrere antibiotisch wirkende Inhaltsstoffe bei, die zum Teil eine beachtliche Potenz haben. Obwohl nicht alle diese Stoffe bekannt sind, spricht doch vieles dafür, dass...