Spiritualität im Wandel
Wir sind nicht menschliche Wesen, die spirituelle Erfahrungen haben. Wir sind vielmehr geistige Wesen, die menschliche Erfahrungen machen.
Teilhard de Chardin
In der Antike ist Spiritualität unmittelbar mit dem Erlebnis einer Schau des Göttlichen verknüpft, einer tiefen individuellen religiösen Erfahrung, die im Ritus erlebt wird, jedoch ihren Ursprung im Mythos hat. Die Kenntnis des Mythos wird vorausgesetzt und ist Bestandteil des kulturellen Erbes. Die kollektive religiöse Grundlage ist der Glaube an ein komplexes Götterpantheon.
Der Begriff Spiritualität wird heute so unterschiedlich gebraucht, dass es mir wichtig ist, ihn in seinem Bedeutungswandel genauer zu betrachten. Der Begriff enthält, etymologisch betrachtet, das lateinische Nomen spiritus. Dies wird mit Luft, Atem, Hauch oder im übertragenen Sinn mit Seele bzw. Geist übersetzt. Das Verb spiro, das dem Nomen zugrunde liegt, bedeutet wehen, hauchen, atmen, leben oder beseelt sein. Das griechische Pendant dazu ist pneuma (Atem, Wind, Geist), das dem alttestamentarischen Wort ruach entspricht, welches den Wind beschreibt, den Gott über die Erde kommen ließ.[8] So steht ruach für den göttlichen Atem, der dem Menschen Leben einhaucht, ihn beseelt. Hier beginnt die monotheistische Prägung des Begriffs, und damit verbunden ist eine Verflachung des Verständnisses von Spiritualität. »Im Laufe der Geschichte verengte sich der Begriff Spiritualität auf kirchliche Frömmigkeit.«[9] Dies gilt z. B. für das christliche Mittelalter. Jetzt bestimmte die Kirche, wie Spiritualität gelebt wird, erteilte Anweisungen und verfolgte mit der Inquisition die Abweichler als Ketzer. Spiritualität drückte sich aus in christlich religiösen Übungen oder Erfahrungen (in Gottesdiensten, Gebeten, Ritualen, dem Bibelstudium, der Einhaltung der Zehn Gebote, der Lebensführung im Sinn der christlichen Ethik). Deren legitimer Rahmen wurde von der Kirche bzw. von Religionsvertretern wie Kardinälen, Bischöfen, Priestern festgelegt. Schließlich bezeichnete spiritualitas auch den Besitz der Kirche. Die christliche Kirche legte fest, was Spiritualität im Guten wie im Schlechten ist, bestimmte die Rituale, belohnte die Frommen, verfolgte die Abweichler, missionierte die Heiden, formte sie nach ihrem Bilde, ohne deren Religion auch nur annähernd zu respektieren. Das Weltbild war dualistisch.
In neueren religionspsychologischen Erläuterungen wird Spiritualität vage als geistliches oder inneres Leben bezeichnet.
Gegenwärtig wird Spiritualität innerhalb der verschiedenen religiösen Traditionen und der unterschiedlichen esoterischen Systeme neu interpretiert und kontrovers diskutiert. Dazu beigetragen hat auch die Hippiebewegung mit ihrem Interesse an außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, aus dem die New-Age-Bewegung hervorging. Hier wurden vielfältige spirituelle Systeme erprobt und erforscht und z. B. in die Psychologie und andere Wissenschaften integriert. Eine Öffnung für Erfahrungen der Naturvölker ebenso wie für die großen spirituellen Traditionen Asiens kam in Mode. Spiritualität wurde als Möglichkeit gesehen, sich neue Bewusstseinsräume zu erschließen, sich außergewöhnlichen Geisteserfahrungen zu öffnen, und zwar den jeweiligen individuellen Bedürfnissen entsprechend. Damit einher gingen auch Experimente mit bewusstseinserweiternden Drogen, Tranceerfahrungen, die Nutzung des Atems (Holotropes Atmen, Rebirthing) oder Musik und Tanz (Sufitanz), die Reise zu Schamanen (z. B. am Amazonas) oder Geistheilern (z. B. auf den Philippinen), die Suche nach indischen Gurus oder buddhistischen Lehrenden vielfältiger Traditionen, bei denen Westler nun in die Lehre gingen. Dies alles offenbarte ein wachsendes Interesse an individueller und spiritueller Selbstfindung. Das, was das Christentum zum Teil abgespalten, verurteilt und verdammt hatte, wurde zurückgeholt, wertgeschätzt, erforscht, reintegriert. Vielleicht ist dies auch als eine Form kollektiver Wiedergutmachung zu verstehen. Diese Bewegung rebellierte gegen erstarrte religiöse Systeme und feierte den spirituellen Weg des Einzelnen als Teil höherer menschlicher Selbstentfaltung. Die neuen Esoteriker oder Spirituellen sind experimentierfreudig. Sie grenzen sich ab gegenüber den Weltreligionen mit ihren gemeinschaftlich geregelten spirituellen Lebensentwürfen.
Spiritualität im 21. Jahrhundert
In den westlichen Industriegesellschaften scheint sich im 21. Jahrhundert möglicherweise ein Prozess tiefgreifender Veränderung des religiösen Verständnisses in Form einer Revolution des Bewusstseins zu vollziehen. Die Suche nach einem aller Existenz zugrundeliegenden Urgrund des Geistigen findet zum Teil jenseits der herkömmlichen religiösen Glaubenssysteme statt, und es formt sich die Vision von einer Welt, in der das Trennende der Weltreligionen zurückgelassen und das Verbindende gesucht wird. Ziel ist, dass der oder die Einzelne entscheiden kann, auf welchem Weg er oder sie das eigene grenzenlose Potenzial erfahren will. Es geht um die freie Wahl des individuellen spirituellen Weges. Wie immer in Zeiten großer Umwälzungen gibt es auch hier eine machtvolle Opposition, in Form eines religiösen Fundamentalismus, der gegen zu viel Individualismus im Religiösen kämpft, auf die strenge Einhaltung traditioneller Regeln und Werte pocht und sich mit aller Macht gegen den Wandel zu stellen versucht.
Spiritualität wird im 21. Jahrhundert auch im Rahmen der Wissenschaft neu definiert. Sie wird auf individuelle geistige Wahrnehmungen bezogen, die in den transzendenten Raum verweisen und daher die Grenzen des Alltagsbewusstseins sprengen. Es handelt sich um überpersönliche Erfahrungen in der Sphäre eines absoluten, nondualen Bewusstseins. Darin zeigt sich »… ein Verständnis von Spiritualität, in dem diese wesentlich Verbundenheit und Beziehung ist, und zwar zu einem den Menschen übersteigenden, umgreifenden Letztgültigen, Geistigen, Heiligen, das für viele nach wie vor das Göttliche ist, aber auch die Beziehung zu den Mitmenschen und zur Natur. Diese Öffnung setzt voraus, dass der Mensch vom eigenen Ego absehen bzw. dieses transzendieren kann.«[10]
Spiritualität wird heute gemeinhin als transkulturell und transreligiös verstanden, da sie eine universelle Dimension des Menschseins anspricht, die weit über religionsgebundene Glaubensinhalte hinausgehen kann. »Die postmoderne Ära mit ihrer Infragestellung und Relativierung sämtlicher Autoritäten (Staat, Religion, Wissenschaft, Tradition) führte zunehmend zu einer Dissoziation von Spiritualität und Religion.«[11] Daher lässt sich heute individuelle Spiritualität von institutioneller Religiosität weitgehend trennen.
Die Globalisierung hat den oben beschriebenen Prozess in Sachen Spiritualität weiter beschleunigt. Das, was die Hippies 1967 wollten, ist immer einfacher, schneller zu realisieren. Mit Hilfe des Internets lassen sich umstandslos räumliche und zeitliche Grenzen überwinden. Das geht aber auch schon in Form virtueller Reisen mit Hilfe von Computeranimationen oder wenn der Schamane vom Amazonas in München einen Workshop gibt. Die Erschließung spiritueller Ressourcen basiert heute auf der individuellen Verfügbarkeit einer Vielfalt von Methoden und Inhalten unterschiedlicher spiritueller Systeme von den Weltreligionen bis hin zum Schamanismus im Zeitalter der Globalisierung. Der oder die Einzelne kann über spirituelle Methoden nicht nur lesen oder sich (im Internet) darüber austauschen, sondern sie mit Repräsentanten der jeweiligen Tradition ausprobieren, kann persönliche Erfahrungen sammeln und somit einen ganz individuellen Weg gehen. Das ist so etwas wie die Internationalisierung der Spiritualität.
Spirituelle Vielfalt und der persönliche Weg
Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien über den Bedeutungswandel der Spiritualität in der modernen Gesellschaft. Besonders aufschlussreich sind die Ergebnisse, die man dem »Religionsmonitor« der Bertelsmannstiftung aus dem Jahr 2008 entnehmen kann.[12] Darin wird deutlich, dass religiöse Haltungen und Weltbilder in den vergangenen Jahren vielfältiger und bunter geworden sind. Das Göttliche wird mittlerweile von vielen Deutschen als eine Energie, ein Durchströmtwerden, empfunden, als etwas, das im tiefsten inneren Raum geschieht, als heilsames Erleben, das eine ganz persönliche, transpersonale Erfahrung ist.[13] Hier zeichnet sich ein entscheidender Wandel im Hinblick auf das individuelle spirituelle Selbstbewusstsein ab.
In diesem Kontext wird die Arbeit mit Kraftquellen, um die es im weiteren Verlauf dieses Kapitels gehen wird, besonders wichtig. Der oben skizzierte Wandel stellt den Nährboden dafür dar, dass sich immer mehr Menschen ihnen zuwenden und sie anwenden werden. Kraftquellen können Menschen einen persönlichen Zugang zu dem ihnen innewohnenden Potenzial vermitteln, ohne dass diese sich an religiösen Vorgaben orientieren müssen. Es ist jedoch dabei auch möglich, sich auf religiöse Quellen zu beziehen oder auf abendländische Traditionen wie die Antike zurückzugreifen.