Kapitel 2
Perspektivwechsel:
Das ist dein Käfig
Wenn wir aussprechen, wie wir uns fühlen – eingeengt, isoliert, kurz davor, durchzudrehen –, bringen wir häufig Ursache und Symptome durcheinander. Wir wissen, dass etwas nicht stimmt, können es aber nicht klar formulieren. Und wenn wir frustriert sind, erschöpft, uns keinen Rat mehr wissen, klingen unsere Worte, von denen wir uns eigentlich Zuwendung und Unterstützung erhoffen, oft wie Schuldzuweisungen und verärgern unser Gegenüber.
Um diesen Gesprächen eine neue Richtung zu geben, müssen wir zunächst verstehen, dass unser Käfig nicht in einem Vakuum schwebt; er steht in einem Kontext.
Der Kontext und der Käfig
Lass es mich so erklären. Wenn ich an den Moment zurückdenke, als ich auf meinem Schlafzimmerboden zusammengebrochen bin, gibt es zwei Dinge, die ich sicher weiß:
1. Ich bin Mutter von zwei kleinen Töchtern.
Das ist eine Tatsache.
2. Ich fühle mich eingesperrt hinter Gittern aus Schuldgefühlen, Frust, Überlastung und einem geringen Selbstwertgefühl aufgrund meiner überschüssigen Pfunde.
Was ist der Unterschied? Der erste Satz ist eine konkrete Tatsache meine Situation betreffend. Es ist der Kontext, in dem sich mein Leben gerade abspielt.
Der andere Satz beschreibt ein reales Gefühl. Er ist psychologisch. Er beschreibt eine Empfindung. Er ist eine Reaktion auf den Kontext. Er beschreibt, ob und in welchem Ausmaß ich es der Situation, in der ich mich befinde, gestatte, Einfluss auf meine Gefühle zu nehmen. Er beschreibt, ob und in welchem Ausmaß ich es anderen Menschen gestatte, Einfluss auf meine Gefühle zu nehmen. Das ist der Käfig.
Kontext und Käfig sind nicht dasselbe.
Es ist wie der Unterschied zwischen
Alleinsein (eine Situation)
und Einsamkeit (eine Reaktion auf
eine Situation).
Wir können uns noch so sehr über den Kontext aufregen, es ist der Käfig, dem wir entfliehen müssen. Dass ich mich von den Gegebenheiten des Mutterseins eingesperrt fühle, bedeutet nicht, dass ich keine Mutter sein will. Meine Mädchen sind mein Glück, und die Liebe, die ich für sie empfinde, könnte die Sterne ewig am Leuchten halten. Aber vielleicht gerade weil ich den Kontext des Mutterseins so schätze, empfinde ich die Gitterstäbe als so frustrierend. Sie stehen allem anderen im Weg.
Vielleicht bist du unglücklich in deinem Job, reibst dich darin auf, hast kaum mehr Energie. Der Kontext ist, dass du einen Job hast. Der Käfig ist, wie du auf diesen Job reagierst oder was du dir darüber einredest. Dass dich dein Chef frustriert. Dass du unmittelbar jegliche Motivation verlierst, sobald du einen Fuß über die Schwelle setzt. Dass dich die Bedeutungslosigkeit nach unten zieht.
Oder vielleicht fühlst du dich in einer ungesunden Beziehung gefangen, die dich deiner Selbstachtung beraubt. Der Kontext ist, dass du in einer Beziehung bist. Der Käfig ist, wie du auf diese Beziehung reagierst oder in welchem Ausmaß du es der Beziehung gestattest, Einfluss auf deine Gefühle zu nehmen. Dass du angefangen hast zu glauben, du seiest dumm oder nichts wert oder solltest dankbar sein, weil dich sowieso kein anderer nehmen würde. Dass du das Gefühl hast, wie auf Eiern gehen zu müssen. Dass du dich jedes Mal schämst, wenn du versuchst, mit jemandem darüber zu reden.
Den Käfig zu erkennen ist der erste Schritt aus ihm hinaus. Indem wir uns eingestehen, dass es ihn gibt, werden wir uns der Hürden und der Welt jenseits der Gitterstäbe bewusst. Dieses Bewusstsein für all das, was möglich ist, kann eine so große Sehnsucht auslösen, eine so beflügelnde Vision hervorrufen, dass wir ihn schließlich einfach verlassen müssen.
Übung 3
Ich bin
Fülle, frei von jeder Bewertung, die Lücken in folgendem Satz, um deine Rolle, deine Situation und wie du dich darin fühlst, zu beschreiben: »Ich bin [Rolle], die/der [deine Situation].« Schreibe so viele Sätze, wie du möchtest.
Beispiele:
→ Ich bin … alleinerziehende Mutter von vier Kindern mit
einer Hypothek auf dem Haus, für die sich jeder Tag wie
ein Kampf anfühlt und die das Gefühl hat, ihren Kindern nicht geben zu können, was sie brauchen.
→ Ich bin … Familienvater mit einem sicheren Job in einem Unternehmen, der davon träumt, Filme zu machen, aber das Gefühl hat, nicht kündigen zu können, weil wir das Geld brauchen.
→ Ich bin … berentete Witwe mit Gelenkrheumatismus,
die jeden Tag Schmerzen hat und traurig ist, weil sie ihren Enkeln keine Pullover mehr stricken kann.
→ Ich bin … eine Mittdreißigerin ohne festen Freund, die sich Kinder wünscht und die sich in einem Job gefangen fühlt, den sie hasst, während ihre biologische Uhr unermüdlich tickt.
→ Ich bin … eine Frau in den besten Jahren auf der Suche nach Freiheit, die sich um ihre kranken Eltern kümmert und sich schuldig fühlt, weil sie sich nichts mehr wünscht, als um die Welt zu reisen, und es ihren Eltern verübelt, dass sie sie daran hindern.
Anmerkung: Diese Übung funktioniert nur, wenn du eine Personenbeschreibung an den Satzanfang stellst (z. B. Frau, Mann, Mutter, Tochter, Australier in Europa o. Ä.). Beispiel:
In dem Satz »Ich bin … verzweifelt, weil mir das Selbstvertrauen fehlt, meiner Leidenschaft als Schriftsteller nachzugehen« fehlt das »du«.
Nun lies dir die Sätze noch einmal durch und unterstreiche die Teile, die Fakten darstellen und zum gegenwärtigen Zeitpunkt unveränderlich sind. Sie sind dein Kontext.
Beispiel: »Ich bin Mutter eines Kleinkinds und eines Babys und habe keine Zeit für mich.« Der Kontext ist, dass ich »Mutter eines Kleinkinds und eines Babys« bin. Dass ich »keine Zeit für mich« habe, trifft nur teilweise zu. Ich habe nicht viel Zeit, aber ich habe nicht keine Zeit. Dazwischen besteht ein großer Unterschied.
Was bleibt von deinem »Ich bin …«-Satz übrig, wenn du den Kontext wegnimmst? Was hast du NICHT unterstrichen? Dieser Teil des Satzes legt offen, wie du mit dem Kontext umgehst oder wie du auf ihn reagierst oder was du dir darüber einredest. Es sind die Gitterstäbe deines Käfigs.
Anmerkung: Solltest du feststellen, dass du »Ich fühle mich…« statt »Ich bin« geschrieben hast, ist das ein klares Zeichen dafür, dass du von deinem Käfig sprichst, nicht von deinem Kontext. Auch wenn du dich so fühlen magst, so stellt es keine Tatsache deine Situation betreffend dar, sondern ist vielmehr eine Beobachtung, wie du darauf reagierst. Achte darauf, dass du dich auf die wirklichen Tatsachen konzentrierst.
Den Käfig erkennen
Die folgende Geschichte über Burn-out habe ich viele Male gehört: von verschiedenen Menschen, aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Berufen, aber immer war es die gleiche Abwärtsspirale.
~ Burn-out ~
Nicola Moss fing direkt nach der Uni einen Job in einer Werbeagentur an und zeigte vollen Einsatz, indem sie morgens als Erste kam, abends als Letzte ging und häufig ihre Wochenenden opferte. Während es in der Firma so wirkte, als hätte sie alles im Griff, brach sie zu Hause regelmäßig auf dem Sofa zusammen, körperlich und psychisch am Ende. Dann eines Tages, sie wollte gerade die Tür zur Agentur öffnen, spürte sie, wie sich kräftige Hände um ihren Hals legten und ihr die Luft abdrückten. Ihr ganzer Körper spannte sich an, aber da war niemand außer ihr. Es war reine Panik, die über sie hergefallen war, und sie war gnadenlos.
Was als Nächstes geschah, war ein Segen, denn Nicolas Chef nahm sie beiseite und hörte ihr zu, während sie ihm alles anvertraute, was sich in ihr angestaut hatte. Seine Frau hatte einige Jahre zuvor einen Nervenzusammenbruch gehabt, und er wusste, dass es entscheidend war, Nicola jetzt die richtige Hilfe zukommen zu lassen. Er stellte Nicola für drei Monate von der Arbeit frei.
Nach weniger als drei Wochen, nachdem sie 14 Tage durchgeschlafen hatte, stieg Nicola in ein Flugzeug nach Bangkok und reiste in den kommenden Monaten durch die Welt, größtenteils per Bahn, Bus oder zu Fuß. Langsames Reisen entpuppte sich als das Heilmittel, das ihr zurück ins Leben half.
Inzwischen hat sie umgeschult, arbeitet als Life-Coach und hilft anderen Menschen, das Tempo zu drosseln und einen Burn-out abzuwenden.
Zu einem Burn-out kommt es, wenn wir uns selbst in einen Käfig aus Erwartungen sperren, die auf einer materialistischen, hochleistungsorientierten Vorstellung der Gesellschaft von Erfolg gründen, auf der »Nummer sicher«-Vorstellung unserer Eltern von Erfolg, auf der Vorstellung unseres Arbeitgebers von Erfolg oder auf irgendeiner anderen Vorstellung, die nichts damit zu tun hat, was für uns tatsächlich von Bedeutung ist.
Wir machen unser Selbstwertgefühl von unserer Arbeitsleistung abhängig, von unserem Kontostand oder von unserem Aussehen, und geraten dann, wie nicht...