Vom Nicht-Wahrhaben-Wollen
Die reinste Form des Wahnsinns ist es,
alles beim Alten zu belassen und gleichzeitig
zu hoffen, dass sich etwas ändert
Albert Einstein
Die fünfundvierzigjährige Frau hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt, war auf der Intensivstation einer Klinik gelandet, wollte jetzt kürzer treten und, wie sie mir sagte, ihr stressiges Leben ändern. Ob sie sicher sei?, fragte ich. Ja, ganz sicher. Was sie dieses Wochenende geplant habe? Da komme eine Freundin aus Paris. Ob es nicht besser wäre, sich Zeit für sich zu nehmen anstatt sich ständig mit Leuten zu umgeben? Ich verstünde nicht, sagte sie, dieser Besuch bedeute keinen Stress, im Gegenteil, er werde ihr gut tun.
Ich machte noch weitere Vorschläge, die alle darauf abzielten, weniger unter Leuten und mehr für sich zu sein – sie lehnte alle ab. Ihre Gründe waren nachvollziehbar und einleuchtend, nur lief ihr Argumentieren darauf hinaus, dass sie nichts, aber wirklich gar nichts ändern konnte. Doch hatte sie nicht gesagt, sie wolle was ändern?
Wenn Menschen sagen, sie wollten und brauchten eine Veränderung, ja, sie sehnten sich geradezu danach, meinen sie damit meist nicht, dass sie sich ändern wollen, sondern dass sich die Umstände ändern sollen. Der Job, der Chef, die Freunde, eigentlich alles, nur nicht sie selber.
Niemand ändert sich freiwillig, denn das würde bedeuten, ein anderer Mensch zu werden. Und niemand will ein anderer Mensch werden, es sei denn, er muss.
***
Dass ich jahrelang nicht wahrhaben wollte, dass ich ein Alkoholproblem hatte, ist mir besonders deutlich aufgegangen, als ich in alten Tagebüchern las. Ich litt, weil ich so sensibel war, weil ich so speziell war, weil mich niemand verstand, weil ich meine Bestimmung noch nicht gefunden hatte.
Um Hilfe bitten, kam nicht in Frage. Das tun nur Schwächlinge. Der Einzige, der sein Leiden lindern konnte, war ich selber. Ob ich das damals wirklich so geglaubt habe, vermag ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen – das Gedächtnis ist bekanntlich kreativ und selektiv. Für meine Weigerung mir helfen zu lassen habe ich keine bessere Erklärung.
Meine Suche führte mich zu Philosophischem, Psychologischem, Ethnologischem, Soziologischem, zu fast allem, was zwischen zwei Buchdeckel passte – nur Mainstream durfte es nicht sein. Wurde etwas an der Uni gelehrt, konnte man es vergessen. Meine damaligen „Helden“ schätze ich auch heute noch (soviel zu meiner persönlichen Entwicklung!): Robert M. Pirsig, Alan Watts, Eugène Ionesco, Charles Bukowski.
Mein erstes Bukowski-Buch, „Aufzeichnungen eines Aussenseiters“, habe ich vor vielen Jahren während wenig inspirierender juristischer Vorlesungen gelesen – das war kein schöngeistiges Getue, das war nicht artifiziell-kompliziert, das war schnörkellos, direkt und klar. Und es spielte in Los Angeles, wo in meiner damaligen Vorstellung das richtige Leben stattfand. Als ich dann Jahre später während einiger Wochen dort lebte, fühlte es sich allerdings nach kurzer Zeit auch nicht wesentlich anders an als anderswo.
Charles Bukowski beschreibt ein anderes Amerika, als das uns aus den Massenmedien vertraute, schildert es als das einsamste Land der Welt, in dem nichts passiert und alle immer etwas müssen, vor allem arbeiten, denn ohne Job zu sein, ist das Allerschlimmste, das einem passieren kann. „Hunderttausende einsame und frustrierte Männer und Frauen leben weitgehend ohne Sex und mit Sicherheit ohne Liebe, arbeiten in verhassten Jobs, überfahren rote Ampeln, rasen in Feuerhydranten und Schaufenster, zocken, saufen, nehmen Drogen, rauchen 2 Päckchen am Tag, masturbieren, werden verrückt, verrückter und noch verrückter, werden gläubig, kaufen sich Goldfische, Katzen, Affen ...“. So recht eigentlich klingt das auch sehr nach dem Europa oder dem Asien von heute.
Eine meiner liebsten Geschichten aus „Noch mehr Aufzeichnungen eines Dirty Old Man“ handelt davon, wie Bukowski mit Patricia zum Boxen geht, die beiden auf der Heimfahrt in Streit geraten („Worüber weiss ich nicht mehr, aber ich glaube, es ging darum, ob der Fahrstuhl oder die Rolltreppe die grössere Erfindung war.“) und dieser dann eskaliert: „Patricia war zwar im Irrenhaus gewesen, aber Nina auch. Fast alle Frauen, die ich kannte, waren im Irrenhaus gewesen. Es bewies gar nichts. Mir war, als hörte ich ein Geräusch. Ich drehte mich um. Patricia war auf den Gehsteig gefahren und kam mit dem Wagen auf mich zu. Ich machte einen Satz an die Hauswand, und der rechte Kotflügel schrappte mir übers Bein ...“.
Schildern, was man denkt, beschreiben, was passiert. Ohne Sinngebungsversuche. Das ist die Art Schreiben, die ich liebe. Auch natürlich, weil ich selber ständig auf der Suche nach Sinn und Bedeutungsvollem (gewesen?) bin. Unter anderem bei den Zahlen.
So hat etwa die 9 für mich immer schon eine ganz besondere Bedeutung gehabt. Ich führe das darauf zurück, dass ich im September, dem neunten Monat, geboren wurde. Als mir dann jedoch eine brasilianische Masseurin, die ich wegen Rückenschmerzen aufgesucht hatte, sagte, dass Angst und Depressionen charakteristisch seien für meine Zahl, die 9, war ich dermassen verblüfft (Angst und depressive Anwandlungen – wirkliche Depressionen habe ich bislang nicht erfahren – waren mir in der Tat nicht fremd), dass ich ganz vergass, sie zu fragen, wie sie darauf komme, dass die 9 meine Zahl sei.
Obwohl ich so recht eigentlich keinerlei Zweifel habe, dass die 9 meine Zahl ist, so ist mir doch auch die 11 immer teuer gewesen. Trotz intensiven Nachdenkens ist mir jedoch nie richtig klar geworden, weshalb dem so ist; die einzig mir einleuchtende Erklärung hat mit frühen Erfahrungen zu tun (und dass die prägend sind, weiss ja nun wirklich jeder). Seit ich als Bub in Zürich in den Ferien weilte, ist die Trambahn Nummer 11, die Verbindung vom Hauptbahnhof zur Wohnung meiner Grossmutter, mir von allen Trambahnen die liebste, auch heute noch.
Dass ich mir diese Zahlen vielleicht auch ganz einfach aus einer Laune heraus zu eigen gemacht haben könnte, ziehe ich zwar durchaus in Betracht, doch, so sage ich mir, auch wenn dem so gewesen sein könnte, so musste es ja einen Grund gehabt haben, dass es gerade die 9 und die 11 und nicht etwa die 2 oder gar die 0 waren, die mir eingefallen und für die ich mich entschieden hatte.
Überhaupt, die 0, also die kam auf gar keinen Fall in Frage, denn ich erinnere mich bei dieser Zahl immer an ein ehemaliges Mitglied der Schweizer Regierung, dessen Name mit einem O (und damit der Zahl 0 zum Verwechseln ähnlich) beginnt – und diese Zahl beschreibt die Fähigkeiten dieses Mannes derart überzeugend, dass eine solche Koinzidenz schlicht nicht zufällig sein konnte.
Von Zeit zu Zeit streift mich der Gedanke, dass mein Lebensschicksal möglicherweise nicht so sehr von einer einzelnen Zahl, sondern von einer Zahlenkombination abhängig sein könnte. Wäre es vielleicht möglich, dass in meinem Falle die 9 und die 11 zusammengehörten? Dafür spräche, dass ich am 9.11., dem Tag, als die Berliner Mauer fiel, mich in Berlin aufhielt, obwohl, das war 1989 und da stört dann eben die 8. Und überhaupt denkt man ja bei der Kombination von 9 und 11 schnell einmal an 9/11, wie die Amerikaner den 11. September 2001 nennen. Dass die immer eine Extrawurst haben müssen! Es ist doch weltweit gängig, dass zuerst der Tag, dann der Monat und dann das Jahr kommt. Nur bei den Amis nicht, bei denen kommt der Monat zuerst. Man kann sich schon fragen, ob man Leuten, die so willkürlich mit Daten umgehen, eigentlich trauen kann.
Ich bin nicht der einzige, dem es Zahlenkombinationen angetan haben. So schrieb etwa Eva Gabrielsson, die Frau, die 32 Jahre mit Stieg Larsson zusammen war, dass dieser sein Leben lang der Kristallnacht vom 9. November 1938 gedachte … und dann am 9. November 2004 starb. Wieder ein 9.11! Ob es da vielleicht eine Verbindung zwischen mir und Larsson …? Ich habe doch auch selber einmal angefangen, einen Krimi zu schreiben …
Übrigens: Ich bin kein Esoteriker, der in allem und jedem Bedeutungsvolles zu sehen imstande ist. Überhaupt nicht. Und Zahlenrätsel sind schon gar nicht mein Ding. Zahlen gibt es in der Natur ja gar nicht, sie sind erfunden worden. Wenn wir ihnen also spezielle Bedeutung zumessen, so ist dies vor allem Ausdruck unseres Bedürfnisses nach Orientierung und Sinn. Und daran ist ja nichts verwerflich, auch wenn dieses Bedürfnis manchmal etwas gar eigenartige Blüten treibt.
Im Grunde, und davon bin ich überzeugt, finden wir nur, was wir selbst versteckt haben. Oder etwa doch nicht? Gott, ist das schwierig!
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