»Irgendwie sind wir alle verrückt«
Der stets lächelnde Mönch mit dem breitkrempigen Hut sagte das, als sei damit alles erklärt. Meine Partnerin und ich übernachteten ein paar Tage lang als Gäste im buddhistischen Kloster Amaravati in der Grafschaft Hertfordshire nördlich von London. Ich arbeitete damals als Wissenschaftsredakteur für den Guardian und war bereits am Vortag angereist, um ein ausgiebiges Interview mit dem Klosterabt zu führen. Ajahn Amaro war ein zuvorkommender, freundlich wirkender Engländer, der als buddhistischer Mönch zu der Schule der sogenannten Thailändischen Waldtradition innerhalb des Buddhismus gehört. Zu dritt standen wir im strahlenden Morgenlicht der Sonne auf einem der Gartenpfade inmitten makelloser Blumenbeete. Die Wege führten von den farbig gestrichenen Holzhütten des Klosters zu einem mit wildem Heidegras bewachsenen Gelände; dort sah man eine Anzahl von Männern und Frauen, ganz in sich versunken, sehr langsam und bedächtig umherschreiten. Einige gingen auf ausgetretenen Pfaden zwischen Bäumen hin und her, andere umkreisten unentwegt einen glockenförmigen Granit-Stupa, einen buddhistischen Kultbau, der in den Himmel ragte.
Am Abend zuvor hatte ein zweiwöchiges Retreat für etwa dreißig Teilnehmer begonnen. Heute Morgen waren sie vom Abt – dem Mönch mit dem Sonnenhut – hier hinausgeschickt worden, um eine Meditationsübung im Gehen durchzuführen. Seine Bemerkung hinsichtlich des gestörten geistigen Gleichgewichts von uns allen fand ich, ehrlich gesagt, etwas irritierend, vor allem angesichts dieser auf den ersten Blick merkwürdigen Aktivitäten in der Heidelandschaft, die mir wie eine Szene aus einem Zombie-Film vorkamen. Das war keine angemessene Reaktion auf die Bemerkung eines allseits verehrten buddhistischen Meisters, aber ich war übermüdet und schlecht gelaunt, nachdem ich bereits in aller Herrgottsfrühe vom Dröhnen der großen Messingglocke des Klosters geweckt worden war. Die Glocke war das Zeichen, uns um halb fünf in unseren Schlafräumen zu erheben und in der Meditationshalle zu gemeinsamem Gesang und Meditation einzufinden.
Erst sehr viel später wurde mir klar, dass im Buddhismus ein Mensch erst dann als geistig gesund betrachtet wird, wenn er die völlige Erleuchtung erlangt hat.1 Die Buddhisten gehen davon aus, dass der menschliche Geist, das Gehirn, falsch eingestellt ist – etwa so wie ein Uhrwerk, das zu schnell oder zu langsam läuft. Egal wie vernünftig oder geistig fit wir sind: Wir beschäftigen uns viel zu viel mit unserer gesellschaftlichen oder beruflichen Stellung, mit Gedanken an Krankheit und Alter, verzehren uns nach allen möglichen materiellen Dingen oder ärgern uns über unsere Fehler und Schwächen oder die anderer Leute. Die Buddhisten glauben, dass unser Geist auf diese Weise Dukkha hervorbringt – Leiden oder Gestresstsein aufgrund der Unzulänglichkeiten des Alltags, der geradezu unentrinnbaren Bürde des Daseins, des nie versiegenden Wunsches nach mehr Besitz und mehr Vergnügen. Wir klammern uns an bestimmte Erfahrungen, gleichzeitig verdrängen oder verleugnen wir andere – oftmals ganz vehement. Mit der Aussage, wir seien doch alle irgendwie geisteskrank, brachte der Mönch diesen psychologischen Befund auf seine Weise und aus buddhistischer Sicht zum Ausdruck.
Im blassgrauen Dämmerlicht dieses Morgens saßen wir mit den Mönchen und Nonnen des Klosters im Schneidersitz vor der vergoldeten Buddha-Statue in der Meditationshalle und rezitierten:
Geburt ist Dukkha
Altern ist Dukkha
Krankheit ist Dukkha
Tod ist Dukkha
Trauer, Schmerz, Unwohlsein sind Dukkha
Mit jemandem zusammen sein, den man nicht liebt, ist Dukkha
Von etwas Geliebten getrennt sein ist Dukkha
Nicht bekommen, was man sich wünscht, ist Dukkha
Das war ein Unterschied wie Tag und Nacht im Vergleich zu den inspirierenden, fröhlichen Hymnen, die wir während meiner Schulzeit im Internat bei den Morgenandachten gesungen hatten. Statt den Triumph der himmlischen Mächte über die Finsternis zu verkünden, wurde hier fortlaufend daran erinnert, dass das menschliche Dasein im Sumpf des Leidens versinkt. Die Kernbotschaft lautete anscheinend: Der Mensch hat keine Aussicht auf Seligkeit, irgendetwas Positives ist einfach nicht zu erwarten. Trotz aller kleinen Freuden, liebevoller Momente, Errungenschaften und Erfolge, an denen wir auf unserem Lebensweg durchaus teilhaben, erwarten uns hinter der nächsten Ecke doch wieder Niederlagen, Enttäuschungen, Krankheit und Tod. Das ist unausweichlich so, egal wie hart wir arbeiten, wie viel wir verdienen, wie gesund wir uns ernähren, wie regelmäßig wir Sport treiben. Diese Rezitation in der Meditationshalle war nichts anderes als eine altehrwürdige Formulierung der modernen Erkenntnis »Das Leben ist kein Ponyhof und am Ende bist du tot«.
Man kann diese Einstellung für übertrieben negativ halten oder für eine Erkenntnis letztgültiger Wahrheiten. Ich persönlich entdeckte, dass sie etwas Befreiendes hat. Indem wir solche Dinge laut aussprechen, machen wir uns die Lügengespinste bewusst, in die wir uns im Alltag einspinnen. Die illusionslose Grundehrlichkeit dieser Rezitation bewegte mich innerlich. Sie wirkte wie eine Art Versöhnung mit der Realität. Gleichwohl verblüffte mich die Aussage des Abtes, wir seien »alle irgendwie verrückt«. Zugegeben, es ist eine Sache, aus bestimmten Gründen zu leiden, wie Verlust eines Menschen, persönliches Versagen, Krankheit, Alter – und eine ganz andere, von einer erbarmungslosen, kaum therapierbaren Depression oder Psychose befallen zu sein, einem Zustand, der immer im Schatten lauert, egal wie gut oder schlecht die Dinge des Lebens laufen. Doch speziell diese Leiden gehören doch zu einer ganz eigenen Art von Dukkha, die nur besonders unglückliche Menschen betrifft – oder?
Es wäre zu einfach gedacht, die Menschen in zwei Kategorien einzuteilen: diejenigen, die in irgendeiner Form an einer psychischen Krankheit leiden, und die »geistig Gesunden«. Psychiater kommen zunehmend zu der Erkenntnis, dass überkommene Krankheitsbilder wie Depression, Angstpsychosen, Schizophrenie oder manisch-depressive Erkrankungen keineswegs so scharf umrissene, eindeutige Konturen haben, wie man sich das lange vorgestellt hat. Vielmehr finden sich Symptome, die man bisher der einen oder anderen Krankheit zugeordnet hat, in stärkerer oder schwächerer Form auch bei der allgemeinen Bevölkerung.2,3
Nehmen wir beispielsweise die echte Psychose, eine Krankheit, von der man landläufig annimmt, dass sie extrem selten auftritt. Herkömmlicherweise werden damit verwirrte und verstörende Gedanken und Vorstellungen verbunden, Halluzinationen, Wahnvorstellungen wie Paranoia (die Betroffenen bilden sich grundlos ein, dass andere Menschen ihnen Schaden zufügen wollen). In Wahrheit kommen Halluzinationen und paranoide Vorstellungen sehr viel häufiger vor als viele meinen. Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent unserer Bevölkerung hin und wieder halluzinatorische Erfahrungen macht und zwischen 20 und 40 Prozent werden Opfer von paranoiden Einbildungen.4 5 6 Bei eindeutig diagnostizierten Psychotikern wiederum gibt es eine erstaunliche Bandbreite von Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Allem Anschein nach sind die wichtigsten gemeinsamen Merkmale beziehungsweise Symptome von Menschen mit »Psychose« Angstzustände, Depressionen und emotionale Labilität; alle diese Symptome findet man aber auch bei Menschen, die niemals als geisteskrank bezeichnet wurden.7 Die Tatsache, dass schwer depressive Menschen auch Wahnvorstellungen und Halluzinationen erleben, die üblicherweise mit Psychose in Verbindung gebracht werden, macht das Bild noch konfuser.
Ähnlich ist es bei manisch-depressiven Erkrankungen, die von einem Wechsel zwischen depressiven Zuständen und Ausbrüchen von Hyperaktivität gekennzeichnet sind. Allenfalls 1 bis 1,5 Prozent der Bevölkerung in Europa und den USA gelten als manisch-depressiv. Gleichwohl sind Stimmungsumschwünge und Launenhaftigkeit weit verbreitet. Bis zu 25 Prozent der westlichen Bevölkerung kennen Zustände von länger anhaltender Euphorie mit geringem Schlafbedürfnis und Gedankenrasen. Nach Ansicht der British Psychological Society bedeutet dies, dass eine Entweder-oder-Diagnose, etwa der manisch-depressiven Erkrankung oder einer Psychose, nur durch übermäßige Vereinfachung zustande kommt.8
Erste Anzeichen für geistige Krankheiten finden sich bei den betroffenen Menschen oft schon in jungen Jahren. Schätzungen zufolge zeigen 10 Prozent der Kinder weltweit klinisch eindeutig erkennbare Anzeichen einer geistigen...