Kapitel 2
Den eigenen Typ bestimmen
Neurologen haben herausgefunden, dass der dorsolaterale präfrontale Cortex (ein Teil des Frontallappens der Großhirnrinde) der Teil des Gehirns ist, der uns bei der Entscheidungsfindung und der Kosten-Nutzen-Abwägung hilft. Hätte man bei meinen Freunden und mir an jenem Sommerabend, als wir fünfzehn waren, ein MRT unseres Gehirns gemacht, wäre an dieser Stelle ein schwarzer Fleck gewesen, der auf eine völlige Untätigkeit dieser Gehirnregion hingewiesen hätte.
An jenem Samstagabend hatten ein paar von uns die brillante Idee, als Flitzer bei einem Bankett in einem noblen Golfklub in meinem Heimatort Greenwich/Connecticut aufzukreuzen. Abgesehen davon, dass wir garantiert wegen Exhibitionismus verhaftet worden wären, gab es nur ein kleines Problem: Greenwich war kein sehr großer Ort und höchstwahrscheinlich war auch jemand unter den Gästen, der uns erkennen würde. Nach einigem Überlegen beschlossen wir, dass unser Freund Mike nach Hause laufen sollte, um Sturmhauben für uns alle zu holen.
Und so rannten sechs nackte Jungs mit Sturmhauben oder Bommelmützen an einem warmen Augustabend gegen einundzwanzig Uhr wie aufgescheuchte Rehe durch den wunderschönen, mit Eichenholz getäfelten Saal voller Gäste. Die Männer klatschten und jubelten uns zu, aber die Damen mit ihren Juwelen um den Hals saßen wie erstarrt da. Wir hatten uns das Gegenteil erhofft, aber es war nicht genug Zeit, um unsere Enttäuschung zum Ausdruck zu bringen.
Und das wäre auch schon das Ende der Geschichte gewesen, wenn da nicht meine Mutter gewesen wäre. „Was hast du gestern Abend mit deinen Freunden gemacht?“, fragte sie mich am nächsten Morgen, als ich in die Küche kam und im Kühlschrank herumwühlte.
„Nicht viel. Wir waren bei Mike und sind dann gegen Mitternacht ins Bett gegangen.“
Meine Mutter ist normalerweise sehr gesprächig. Deshalb war ich erstaunt, als sie mich gar nicht fragte, wie es meinen Freunden gehe oder was ich heute noch vorhätte. Sofort überkam mich ein ungutes Gefühl.
„Was haben du und Papa gestern Abend gemacht?“, fragte ich fröhlich.
„Die Dorfmanns haben uns zum Bankett in ihren Golfklub eingeladen“, antwortete sie in einem halb süßlichen, halb eisigen Tonfall.
Die meisten Menschen rechnen nicht damit, dass sie bei sich zu Hause einen plötzlichen Abfall des Kabinendrucks erleben könnten und dass dann die Sauerstoffmasken von der Decke baumeln, damit sie wieder atmen können, nachdem ihnen vor Schreck die Luft weggeblieben ist.
„Eine Sturmhaube?“, fragte sie fordernd mit lauter Stimme, als sie auf mich zukam wie ein wütender Polizist, der mit seinem Schlagstock in die Hand klopft. „Eine Sturmhaube?“
Ihre Nasenspitze war nur noch ein paar Zentimeter von meiner entfernt. „Deinen dürren Hintern würde ich im Dunkeln aus einer ganzen Reihe erkennen“, flüsterte sie drohend.
Ich spannte die Muskeln an und fragte mich, was wohl als Nächstes kommen würde, aber der Sturm verzog sich genauso schnell, wie er sich zusammengebraut hatte. Das Gesicht meiner Mutter entspannte sich und sie grinste verschlagen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und sagte im Hinausgehen über die Schulter zu mir: „Du hast Glück gehabt, dass dein Vater das lustig fand.“
Das war bei Weitem nicht das erste Mal gewesen, dass ich zum Schutz eine Maske getragen hatte …
…
Die Menschen haben einen Überlebenstrieb. Als kleine Kinder legen wir instinktiv eine Maske namens Persönlichkeit über Teile unseres wahren Ichs, um uns zu schützen und uns in dieser Welt den Weg zu bahnen. Unsere Persönlichkeit besteht unter anderem aus angeborenen Eigenschaften, Bewältigungsstrategien, antrainierten Reflexen und Abwehrmechanismen. Mithilfe unserer Persönlichkeit können wir erkennen, was wir unserer Meinung nach tun müssen, um unseren Eltern zu gefallen, uns unseren Freunden anzupassen, den Anforderungen unserer Kultur gerecht zu werden und dafür zu sorgen, dass unsere Grundbedürfnisse erfüllt werden. Mit der Zeit werden unsere Anpassungsstrategien immer komplexer. Sie werden so vorhersehbar und außerdem so oft und so automatisch ausgelöst, dass wir nicht mehr wissen, was unsere Reaktionen und was unser wahres Ich ist. Ironischerweise leitet sich das Wort „Persönlichkeit“ vom griechischen Wort für Maske – persona – ab. Das deutet auf unsere Neigung, im Erwachsenenalter oft noch Masken zu tragen und sie mit unserem wahren Ich zu verwechseln, obwohl die Bedrohungen aus unserer Kindheit lange vergangen sind. Jetzt haben wir nicht mehr eine Persönlichkeit, sondern unsere Persönlichkeit hat uns! Jetzt schützt unsere Persönlichkeit unsere schutzlosen Herzen nicht mehr vor den unausweichlichen Verletzungen und Verlusten während der Kindheit, sondern unsere Persönlichkeit schränkt uns ein und nimmt uns gefangen. Damit ist jene Persönlichkeit gemeint, die wir und andere als unsere vorhersehbaren Denkweisen, Gefühle, Handlungen, Reaktionen erleben und die zeigt, wie wir mit Informationen umgehen und welche Einstellungen wir haben.
Das Schlimmste ist, dass wir den Kontakt zu unserem wahren Ich verlieren, wenn wir uns zu sehr mit unserer Persönlichkeit identifizieren. Wir vergessen, wie wunderbar wir eigentlich geschaffen sind. Frederick Buechner beschreibt das sehr treffend: „Das wahre, glänzende Ich wird so tief begraben, dass die meisten von uns kaum noch darin leben. Stattdessen leben wir in den anderen Persönlichkeiten, die wir uns ständig überziehen wie Mäntel zum Schutz gegen das Wetter dieser Welt.“2
Ich bin zwar ein ausgebildeter Seelsorger, aber ich weiß nicht genau, wie, wann oder warum das so geschieht. Ich kann nur aus eigener Erfahrung dem Gedanken zustimmen, dass ich den Zugang zu meinem wahren Ich verloren habe. So oft schon habe ich meine Kinder beim Spielen beobachtet oder nachdenklich zum Mond hinaufgeschaut und dabei eine seltsame Sehnsucht nach etwas oder jemandem verspürt, zu dem ich vor langer Zeit den Kontakt verloren habe. Ich habe das Gefühl, dass in den tiefsten Tiefen meines Seins ein echteres, strahlenderes Ich begraben liegt und dass ich mich nie wirklich lebendig oder ganz fühlen werde, solange ich diesem Ich entfremdet bin. Vielleicht haben Sie das auch schon gespürt.
Die gute Nachricht ist, dass wir einen Gott haben, der unseren dürren Hintern überall erkennen würde. Er weiß, wer wir sind, wer die Person ist, die er im Mutterleib zusammengefügt hat, und er will uns helfen, damit wir wieder zu unserem wahren Ich zurückfinden.
Spricht hier ein Therapeut, der sich als Theologe getarnt hat? Nein. Die großen christlichen Denker von Augustinus bis Thomas Merton würden zustimmen, dass das einer der wichtigsten Wege ist, die wir als Christen gehen müssen und ohne die wir niemals zu der Person werden, die wir eigentlich sein sollten. Merton sagte: „Bevor wir zu dem Menschen werden können, der wir in Wahrheit sind, muss uns bewusst werden, dass die Person, die wir im Hier und Jetzt glauben zu sein, bestenfalls ein Betrüger und ein Fremder ist.“3 Und bei diesem Bewusstwerden kommt das Enneagramm ins Spiel.
Den eigenen Enneagramm-„Typ“ oder die -„Zahl“ zu erkennen – ich verwende beide Begriffe im Buch –, hat nicht zum Ziel, die eigene Persönlichkeit durch eine neue zu ersetzen. Das ist nicht nur unmöglich, sondern auch eine ganz schlechte Idee. Man braucht eine Persönlichkeit, um zum Beispiel als Partner für den Abschlussball infrage zu kommen. Der Sinn des Enneagramms ist es, Selbsterkenntnis zu entwickeln, und dazu gehört auch, dass wir die Teile unserer Persönlichkeit erkennen, die uns einschränken, und dass wir uns von ihnen lossagen. Auf diese Weise können wir wieder mit unserem wahren und besten Ich vereint sein, jenem „reinen Diamanten, der im unsichtbaren Licht des Himmels erstrahlt“4, wie Thomas Merton es ausdrückte. Mithilfe des Enneagramms können wir einerseits uns selbst verstehen und über die selbstzerstörerischen Seiten unserer Persönlichkeiten hinauswachsen und andererseits Beziehungen verbessern und mehr Mitgefühl für andere entwickeln.
Die neun Persönlichkeitstypen
Laut Enneagramm gibt es neun verschiedene Persönlichkeitstypen auf der Welt. Zu einem dieser Typen fühlen wir uns von Natur aus hingezogen und eignen ihn uns in unserer Kindheit an, um das Leben zu meistern und uns sicher zu fühlen. Jeder dieser Typen hat eine ganz bestimmte Sicht der Welt und eine innere Motivation. Beides beeinflusst sehr stark, wie dieser Typ denkt, fühlt und sich verhält.
Wenn es Ihnen so geht wie mir, werden Sie dem Gedanken sofort widersprechen, dass es auf einem Planeten mit über sieben Milliarden Menschen nur neun verschiedene Persönlichkeitstypen geben soll. Besuchen Sie doch einmal die Farbenabteilung Ihres Baumarktes und helfen Sie Ihrem unentschlossenen Ehepartner, das „perfekte Rot“ fürs Badezimmer zu finden. Das wird Ihren Protest schon zum Schweigen bringen! Erst kürzlich habe ich erfahren, dass es buchstäblich eine unendliche Zahl von Rottönen gibt, von denen Sie einen auswählen können, um gleichzeitig Ihr Bad aufzumöbeln und Ihre Ehe zu ruinieren. Wir alle eignen uns einen dieser Typen in der Kindheit an (und nur einen), aber es gibt eine unendliche Zahl an Ausdrucksformen für jeden Typen, von denen manche sich ähnlich verhalten wie Sie, und viele ähneln Ihnen äußerlich überhaupt nicht. Trotzdem sind es alles Variationen der gleichen Grundfarbe. Also keine Angst, Ihre Mutter hat nicht gelogen. Sie...