2.1 | Epochen der Kunststoffgeschichte |
Wie schon erläutert, sind Kunststoffe in unserem heutigen Sprachgebrauch industriell mit chemischen Verfahren hergestellte hochmolekulare Produkte, die vor allem als Werkstoffe, aber auch als sog. Funktionspolymere oder Effektstoffe Anwendung finden, z. B. für Ionenaustauscher, Superabsorber, Membranen zur Stofftrennung oder für elektronische Bauteile.
In diesem Sinne beginnt die neuere Geschichte der Kunststoffe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wenn man einige natürliche Harze und die aus Naturkautschuk erhaltenen Materialien mit einbezieht, finden sich auch schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts Vorläufer „künstlicher“, von Menschenhand gefertigter Stoffe (siehe Kapitel 3 „Vorzeit“), weshalb man mit O. Krätz die der Neuzeit vorangegangenen Perioden auch als Vor- und Frühgeschichte der Kunststoffe zusammenfassen kann [1].
Die Neuzeit der Kunststoffgeschichte beginnt in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts mit der industriellen Herstellung synthetischer hochmolekularer Stoffe. Am Anfang stehen die unter dem bis heute als Warenzeichen geschützten Namen Bakelit bekannt gewordenen Phenolharze (Phenoplaste). Geprägt wird die Neuzeit aber auch durch die wissenschaftliche Aufklärung der Bildungsprozesse und der chemischen und physikalischen Struktur der Kunststoffe durch Staudinger, Carothers, Flory und viele weitere Forscher (siehe Abschnitt 1.2 „Eine neue Wissenschaft“).
Etwa um 1930 kamen die ersten sog. Vinylpolymeren wie Polyvinylchlorid (PVC) und Polystyrol (PS) auf den Markt und wenige Jahre danach die Polyolefine (zuerst Polyethylen (PE) und später Polypropylen (PP)) sowie einige sog. technische Kunststoffe wie z. B. die Polyamide (PA), aber auch die nicht zu den Kunststoffen gezählten Synthesekautschuke und Synthesefasern.
Der damit verbundene Aufschwung der Kunststoffindustrie hat schon um 1940 dazu geführt, dass vom Zeitalter der Kunststoffe gesprochen wurde [2]. Damals mag diese Bezeichnung noch verfrüht gewesen sein; um 1950 war es aber dann sicher berechtigt, mit Hans Beck, einem der Erfinder der Schneckenspritzgießmaschine, zu erwarten [3], dass im „engeren Rahmen des Industriezeitalters, wie man den jüngsten Abschnitt unserer Kulturgeschichte durchaus bezeichnen kann, diesem die Kunststoffe zweifellos ein neues Gesicht geben werden“. Karl Mienes (1905 – 1985) sprach 1962 in latinisierter Form vom „Plasticeum“ [4], Hj. Saechtling [5] fasste 1961 die Technik- und Wirtschaftsgeschichte der Kunststoffe von 1910 bis 1960 unter der Überschrift „Werkstoffe aus Menschenhand“ zusammen.
1950 betrug die Welterzeugung an Kunststoffen rund 1,5 Millionen t, während heute über 300 Millionen t jährlich hergestellt werden. Wenn man mit einer durchschnittlichen Dichte der Kunststoffe von 1,2 g/cm3 rechnet, überstieg schon um 1983 der Kunststoffweltverbrauch volumenmäßig den von Stahl.
Dank intensiver und systematischer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Industrie und Hochschulen folgt etwa um 1960 ein neuer, bis in die Gegenwart reichender Abschnitt, in dem zahlreiche weitere technische Kunststoffe, z. B. Polycarbonate (PC) und Polyoxymethylen (POM), marktreif wurden. Daneben wurden für hohe Ansprüche an Festigkeit und Temperaturbeständigkeit verwendbare Hochleistungskunststoffe entwickelt und Polymere nicht nur als Werkstoffe sondern unter Ausnutzen ihrer besonderen Eigenschaften auch in immer größerem Maße als Funktionsträger eingesetzt.
Damit lässt sich mit den in den Geschichtswissenschaften üblichen, aber natürlich für andere Zeiträume gebrauchten Begriffen die Historie der Kunststoffe in vier Epochen einteilen (Tabelle 2.1).
Tabelle 2.1 Epochen der Kunststoffgeschichte
bis ca. 1800 | Vorzeit mit Naturharzen, Gelatine, Horn, Milcheiweiß (Kasein), pflanzlichen Ölen und Wildkautschuk als Rohstoffen |
1800 bis 1900 | Frühzeit mit hochmolekularen und chemisch abgewandelten Naturstoffen auf der Basis von Kautschuk, Guttapercha, Cellulose, Eiweißstoffen sowie mit Naturharzen wie Bernstein und Schellack |
1900 bis 1960 | Neuzeit mit der Einführung des Begriffs „Kunststoff“ durch R. Escales (1911) und den ersten vollsynthetischen Kunststoffen wie Phenoplasten, Aminoplasten, den sog. Standard-Thermoplasten (PS, PVC, PE, PP) und den frühen technischen Kunststoffen (PA) sowie mit Synthesekautschuken und Synthesefasern. Gekennzeichnet ist diese Periode durch die Begründung der Polymerwissenschaft (H. Staudinger) mit der Erforschung der Bildungsreaktionen und der Struktur und Eigenschaften der als Kunststoffe eingesetzten Polymeren. |
ab etwa 1960 | Gegenwart mit neuen. technischen Kunststoffen (PC, POM, PPE usw.), Hochleistungskunststoffen und Funktionspolymeren. |
Die hier verwendete Gliederung beruht vor allem auf den Zeitabschnitten, in denen die genannten Rohmaterialien oder die daraus erhaltenen Kunststoffe auftauchen. Anschaulich macht dies Bild 2.1 mit den wichtigsten in der Früh- und Neuzeit entstandenen Kunststoffen und der weltweiten Kunststofferzeugung bis etwa 1950.
Bild 2.1 Die wichtigsten bis etwa 1950 auf den Markt gekommenen Kunststoffe. Die durchgezogene schwarze Linie zeigt die Kunststoffwelterzeugung bis 1950 (Bildquelle: H. Hopff, Chem. Ind. 4 (1952), S. 725 und [5])
Allerdings darf diese natürlich grobe und etwas willkürliche Einteilung keinesfalls zu der falschen Auffassung verleiten, dass die als Beispiele genannten Produkte nur in dem jeweiligen Zeitabschnitt gebraucht worden sind. Viele ältere Kunststoffe haben auch jetzt noch praktische Bedeutung und werden bis in die Gegenwart eingesetzt; andere wurden längst durch leistungsfähigere oder kostengünstigere ersetzt und sind daher inzwischen nur noch historisch interessant.
2.2 | Anfänge der Kunststoffindustrie |
Die Geschichte der Kunststoffe ist eng mit der Technik zum Erzeugen und Verarbeiten dieser immer noch relativ jungen Werkstoffgruppe verbunden; die Kunststoffgeschichte muss deshalb auch einige industrielle und wirtschaftliche Aspekte berücksichtigen, ohne dass sich daraus eine systematische Wirtschaftgeschichte der Kunststoffe ableiten ließe; siehe dazu z. B. S. 15, 133 und 204. Epochenübergreifend finden sich in Abschnitt 2.2 einige Erläuterungen, aus denen sich die wirtschaftliche Bedeutung der Kunststoffe und ihrer Rohstoffe erkennen lässt.
Am Anfang des Kunststoffzeitalters im 18. Jahrhundert waren die meisten der erst mit dem Beginn der wissenschaftlichen organischen Chemie nach etwa 1800 aufgeklärten Reaktionen zum Verknüpfen von kleinen zu größeren Molekülen noch unbekannt. Dennoch entstand schon im 19. Jahrhundert ein Wirtschaftzweig, der zunächst als Industrie plastischer Massen oder auch der Kunstharze bezeichnet wurde, ehe sich daraus im zwanzigsten Jahrhundert die moderne Kunststoffindustrie entwickelte.
Anfangs dienten nur einige in der Natur durch biochemische Prozesse gebildete, mehr oder minder hochmolekulare Rohstoffe aus Naturharzen, tierischem Kollagen, Proteinen (aus Milch, Eiern und Blut) sowie Wildkautschuk, Guttapercha und Cellulose als Ausgangsmaterial für die Vorgänger der erst im zwanzigsten Jahrhundert als Kunststoffe bezeichneten Produkte.
Aus solchen, auch als Biopolymere bezeichneten natürlichen makromolekularen Stoffen entstanden empirisch und durch zunächst noch nicht verstandene chemische Umsetzungen die ersten organischen Werkstoffe, sog. „veredelte Naturprodukte“, oft mit Zusätzen wie z. B. Holzmehl, anorganischen Pigmenten oder mit mineralischen Füllstoffen wie Schiefermehl oder Kreide.
Inzwischen sind Kunststoffe industriell erzeugte Werkstoffe, die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – aus organischen...