Die Runen – sie stammen aus einer fernen Zeit. Sie dienten den Germanen als Buchstaben für Inschriften und sind magische Symbole. Wer sich mit ihnen beschäftigt, der verbindet sich mit einer geistigen Welt, die historisch zwar vergangen ist, aber in diesen Zauberzeichen weiterlebt. In diesem Buch möchte ich Sie in den praktischen Umgang mit den Runen einführen und zwar so, wie ich es in den letzten Jahren für mich entdeckt habe.
Fenriswolf, Midgardschlange
© W. G. Collingwood
Tatsächlich begegneten mir die Zauberzeichen der Germanen schon sehr viel früher, und zwar in meinem Studium der Nordischen Philologie. Mein Interesse an der Welt der Mythen und Märchen findet seinen Ursprung aber bereits in meiner Kindheit, denn schon früh faszinierten mich die Geschichten rund um die germanischen Götter Odin, Freya und Loki. Im Studium lernte ich die Sprache der Edda und ließ mich von dem dunklen Klang ihrer Lieder gefangen nehmen, in denen von der Entstehung der Welt aus Feuer und Eis, von Zwergen und Riesen, von Schicksalsgöttinnen am Fuße des Weltenbaumes, von entsetzlichen Ungeheurn wie dem Fenriswolf, der Midgardschlange und schließlich vom Untergang der Götter und der Geburt einer neuen Welt die Rede war. Doch die Runen blieben damals etwas, das ich zwar mit Interesse, aber nicht mit Eifer betrachtete. Vielleicht lag es daran, dass sie an der Universität nur mit dem streng wissenschaftlichen Auge betrachtet wurden und dann auch nur mit spitzen Fingern. Das lag sicher einerseits an dem missbräuchlichen Umgang mit dem alten Erbe der Germanen zur Zeit des Nationalsozialismus, in denen die Runen zu Schreckenssymbolen umfunktioniert wurden. Damit wollte man nicht identifiziert werden. Andererseits bleibt von den Runen als Gegenstand der Forschung nicht viel übrig: es sind rätselhafte Zeichen einer verloren gegangenen Kultur – und Punkt. Was dazu aus wissenschaftlicher Sicht zu sagen ist, lässt sich in der Regel kurz und bündig zusammenfassen. Das eigentliche Wesen der Runen muss einer solchen Betrachtungsweise selbstverständlich verschlossen bleiben. Das ist auch völlig in Ordnung, denn das, was die Runen ausmacht, das hat mit ihrer historischen Bedeutung nur wenig zu tun. Die Art und Weise, wie sie uns Heutige immer noch berühren können, erlebt niemand, der sie als reines Objekt der intellektuellen Auseinandersetzung betrachtet. Dem Verstand alleine offenbart sich der Zauber der Runen nicht. Die Runen haben eine Botschaft, aber die lässt sich eher mit dem Herzen lesen als mit dem Kopf. Davon aber war ich zur Zeit meines Studiums weit entfernt.
Alter Runenstein in einer mystischen Landschaft
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Mystische Plätze
Noch schwiegen die Runen also. Mythen und Märchen aber begleiteten mich auch weiterhin. Ich begann mich mit den Plätzen zu beschäftigen, an denen viele der Sagen spielen. Schnell merkte ich, dass es nicht nur die Geschichte war, die mich zu diesen Orten zog, sondern dass die Orte eine eigene Ausstrahlung besitzen. Die Sage oder das Märchen, so erkannte ich für mich, ist oft nur der Ausdruck dieser besonderen Kraft, die dort zu spüren ist. Sie kleidet das, was Menschen an einem derartigen Ort erleben können, in das Gewand einer Geschichte. Wenn dann von Wundern, Feen, Kobolden und anderen magischen Begebenheiten die Rede ist, so ist dies oft der Versuch zu beschreiben, was dort zu fühlen ist, wenn man sich der Kraft eines solchen Platzes öffnet. Viele dieser Plätze werden schon seit Generationen von Menschen auf diese Weise beschrieben und verehrt und nicht selten gehen sie auf alte heidnische Kultstätten zurück. Viele Plätze liegen in der Natur mitten in Wäldern, auf Bergen, in Höhlen, aber auch so manche Kirche, die uns mit ihrer besonderen Atmosphäre gefangen nimmt, ist auf einem solchen alten Kultplatz errichtet worden und bezieht ihre Magie genau aus diesem Umstand. Mittlerweile habe ich Deutschland und viele andere Länder auf der Spur solcher Kraftplätze bereist.
Ein Kraftort ist nicht zu verwechseln mit einer »Tankstelle«, auch wenn es zunächst so klingt. Tatsächlich kann uns ein solcher Ort Kraft geben, aber nur dann, wenn wir bereit sind, auch etwas von uns zu geben. Oft genügt es, wenn wir uns dem Platz und seiner besonderen Mystik mit unserem Geist öffnen, etwas von unseren Gedanken und Gefühlen offenbaren. Die Aufmerksamkeit, die wir einem solchen Platz schenken, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Geschenk an diesen Ort. Unzählige Menschen haben dies bereits vor mir getan, haben vielleicht gebetet, meditiert oder auch einfach nur die Mystik andächtig auf sich wirken lassen. Dies macht sie nicht selten zu Plätzen, die wir als heilig empfinden.
Die Begegnung mit einem Kraftort ist ein Geben und Nehmen. Wenn wir in Verbindung mit dem Ort gehen, teilen wir uns dem Ort mit, kommunizieren mit ihm. Wenn wir dies tun, dann schenkt uns der Ort etwas zurück. Das kann ein Gefühl sein, manchmal ist es aber auch mehr als das, denn er ist in der Lage, uns Antwort zu geben. Dazu müssen wir nicht einmal eine konkrete Frage stellen. Vielmehr ist unsere aufmerksame Gegenwart genug, um die Kraft des Ortes als Bereicherung für unser Leben zu empfinden. Wir verlassen dann diesen Ort und etwas in uns hat sich gewandelt. Nicht selten sind wir klarer in Bezug auf wichtige Themen, die uns gerade bewegen. Manches »fließt« dann wieder, wo wir zuvor noch ins Stocken geraten waren und nicht wussten, wie es weitergehen soll.
Runensteine aus Holz
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Auf meinen Reisen durch solche mystischen Landschaften habe ich durch Zufall die Runen für mich wiederentdeckt. Mehr aus ästhetischen Gründen hatte ich mir einen Satz der 24 Runen des älteren Futhark besorgt, auf geschliffenen und lackierten Holzplättchen in Handarbeit geritzt und in einem Ledersäckchen eingepackt, in der Absicht, mich irgendwann einmal mit den Zeichen zu beschäftigen. Einer inneren Eingebung folgend packte ich die Runen eines Tages in meinen Wanderrucksack und nahm sie mit auf eine Tour durch den sagenumwobenen Harz. Ich kletterte auf einen einsam gelegenen Felsen, um die Aussicht über die Wipfel des Waldes zu genießen. Es war ein sehr ruhiger Augenblick inmitten der Natur. Ich spürte eine tiefe Verbundenheit mit diesem Ort, seine Kraft durchströmte mich sanft und ich hatte das Gefühl, dass die Begrenzungen von Zeit und Raum mit einem Schlage an Bedeutung verloren hatten. Ich war ganz bei mir selbst angekommen. In diesem Moment fielen mir die Runen in meinem Rucksack ein. Ich holte sie heraus, öffnete den Lederbeutel und griff hinein, während aus meinem Herzen eine Frage aufstieg, die mich gerade in Bezug auf meine aktuelle Lebenssituation beschäftigte. Ich ließ eine Zeitlang die Holzplättchen zwischen meinen Fingern hin und her gehen, bis ich den Eindruck hatte, eines wollte förmlich an meinen Fingerspitzen kleben bleiben. Dieses zog ich heraus …
Runensteine im Lederbeutel
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Die Botschaft der Runen
Ich kannte die Bedeutung der Runen, wusste ihren Namen und wie sie für gewöhnlich in den handelsüblichen Büchern gedeutet werden. Aber in diesem Augenblick hatte ich diese Deutungen nicht gegenwärtig. Es war, als zöge ich die Rune zum ersten Mal – und doch war sie mir auf eine eigenartige Weise ganz vertraut. Mehr noch: Sie schien eine Antwort auf die Frage bereit zu halten, ohne dass ich meinen Verstand um eine Deutung bemühen musste. Es war die Gestalt des Zeichens, die zu mir »sprach«. Die Form der Rune war eine Antwort auf meine Frage – und nicht irgendein Satz, den ich in irgendeinem Buch gelesen hatte. Ich setzte meine Wanderung fort und es war wunderbar: Ich entdeckte die Gestalt der Rune überall wieder – in den Ästen der Bäume, in Steinformationen am Wegesrand, sogar in architektonischen Strukturen an Häusern. Immer, wenn ich sie entdeckte, erkannte ich darin ein weiteres Puzzlestück zur Klärung der Frage, die mich gerade bewegte. Am Ende des Weges hatte sich in mir eine deutliche Antwort herausgebildet, die mein Leben in eine entscheidende und für mich sehr stimmige Richtung lenkte. Dafür bin ich den Runen bis heute dankbar.
Seither begleiten mich die Runen fast immer auf meinen Reisen und Wanderungen. Es ist eine gute Gewohnheit geworden, sie immer wieder zurate zu ziehen, sei es, um sich einem bestimmten Thema zu widmen oder einfach, um bereichernde Impulse zur aktuellen Lebenslage zu bekommen. Meiner Erfahrung nach besitzen die Runen nichts Schweres, Düsteres, allzu Magisches – einen derartigen Eindruck kann man durchaus bekommen, wenn man manche Bücher über sie liest. Dort werden Rituale und Praktiken beschrieben, in denen die Runen dazu dienen, die Welt nach dem eigenen Willen zu beeinflussen, oder als Orakel dienen, um die Zukunft vorherzusagen. Dazu kann ich nichts sagen. Für mich besitzen die Runen eine andere Ausstrahlung, die sich mir vor allen Dingen offenbart, wenn ich sie in der Natur mit mir führe. Die Runen selbst weisen ihrer Bedeutung nach zumeist Anspielungen auf, die aus den Bildern der Natur gespeist werden: sie tragen Namen wie Eis, Birke, Eibe, Pferd, Tag, Jahr, Hagel. Die Formen der Runen erinnern an Dinge aus der Natur, an Bäume, Wege, Höhlen, Dornen, Ähren. Es ist für mich daher fast selbstverständlich, sie genau dann einzusetzen, wenn mich die Natur umgibt – und nicht eingeschlossen in meinen eigenen vier Wänden.
An mystischen Orten entfaltet sich die Kraft der Runen besonders eindrucksvoll.
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Ich entdeckte schließlich ihre besondere Fähigkeit, an Kraftplätzen im Besonderen, aber...