Vorwort
Dieses Buch vereint unterschiedliche Einsichten und Ideen, zu denen ich im Laufe von mehr als fünfzig Jahren Forschung, Lehre und Beratung gelangt bin, und spiegelt gleichzeitig wider, wie die Probleme, vor denen Organisationen in unserer sich rasant verändernden Welt heute stehen, die Entwicklung dieser Ideen erzwungen haben.
Als ich in den 1960er Jahren meine Laufbahn als Personal-Trainer und Teilzeitberater begann, entwickelte ich das Modell der Prozessberatung, das ich in meinen Büchern Process Consultation (1969) und Process Consultation Revisited (1999) beschrieben habe. Dieses Modell betont, wie wichtig es ist, den Kunden in den Prozess der Problemermittlung und der Suche nach möglichen Lösungen miteinzubeziehen. Nachdem ich mehrere Jahrzehnte lang mit diesem Modell gearbeitet und das Buch aktualisiert hatte, erkannte ich allmählich, dass das Modell, das wir für die Organisations- und Unternehmensberatung nutzten, im Grunde viel breitere Anwendungsmöglichkeiten für alle möglichen helfenden Beziehungen hatte. Diese Erkenntnis schlug sich in dem 2009 veröffentlichen Buch Helping (dt. 2010, Prozess und Philosophie des Helfens) nieder. Die Analyse des Hilfs- und Beratungsprozesses aus einer soziologischen Perspektive zeigte auch, wie stark gesellschaftliche Normen beeinflussen, was wir für die angemessene Rolle des Beraters und des Kunden im helfenden Prozess halten.
Nach meinen eigenen Erfahrungen als Berater erschien es mir von größter Wichtigkeit, dass der Kunde tatsächlich in der Lage ist, über sein Problem zu sprechen, und fähig ist, sich dabei vertrauensvoll zu öffnen. Dann entdeckte ich, dass der Hauptgrund, der Klienten davon abhält, offen und vertrauensvoll zu sein, die kulturelle Kraft in den USA ist, die das Erzählen (Telling) zum Heldenmodell macht. (Die Bedeutung von »to tell« reicht dabei von »sagen, erzählen« bis »behaupten, belehren«. Was immer mitschwingt, ist eine asymmetrische Beziehung in dem Sinne, dass die eine Person über Wissen verfügt und deshalb »das Sagen hat«, während die andere mehr oder weniger der Belehrung bedarf. Anm. d. Ü.) Diese starke kulturelle Kraft hat dazu geführt, dass Hilfs- und Beratungsmodelle so strukturiert sind, dass man zunächst eine Diagnose stellt und dann in Form einer Empfehlung oder eines Rezepts erzählt, was zu tun ist. »Wenn du deine Sache wirklich gut machen willst«, erklärten meine Freunde in der Unternehmensberatung, »ist das eine Voraussetzung.« Und wie ich zu meiner Bestürzung feststellen musste, war dies auch die passive Überzeugung vieler Klienten. Mir wurde klar, dass die Besessenheit vom Erzählen ein allgemeines Merkmal der US-amerikanischen Führungskultur ist, was mich dazu veranlasste, das Buch Humble Inquiry (2013) zu schreiben, um darauf hinzuweisen, wie viel Schaden es anrichten kann, wenn man Untergebenen bei der Kommunikation nach oben das Gefühl vermittelt, es sei psychologisch nicht sicher, wenn sie Vorgesetzten von wahrgenommenen Qualitäts- oder Sicherheitsproblemen bei den Arbeitsabläufen berichten.
Bei meinen eigenen Beratungsbemühungen habe ich festgestellt, dass das »Erzählen« nicht funktioniert und dass zudem die Klienten, die mich um Hilfe gebeten hatten, den formalen Ansatz bereits von früheren Beratern kannten und diesen »Diagnose und Rezept«-Ansatz nicht sonderlich hilfreich fanden. Der formale Prozess ging häufig am wahren Problem vorbei oder gelangte zu Empfehlungen, die aus vielfältigen Gründen, die der Berater offensichtlich nicht berücksichtigt hatte, nicht umgesetzt werden konnten. Gleichzeitig wurden die Probleme, vor denen Manager und Führungskräfte standen, immer komplexer und damit schwerer zu diagnostizieren, vom »Beheben« ganz zu schweigen. Durch mehrere Erfahrungen, die anhand der Fallbeispiele in diesem Buch erörtert werden, lernte ich außerdem, dass sich mitunter die frühesten Fragen, Bemerkungen oder Irritationen, die ich bei den ersten Kontakten mit einem Klienten zum Ausdruck brachte, als sehr hilfreich erwiesen, um den Klienten zur Wahrnehmung und zum Durchdenken der Situation zu befähigen. Häufig führte das dazu, dass dem Klienten sofort klar wurde, welche Schritte man als Nächstes ergreifen könnte, und dass er auf Ideen kam, deren Nutzen Helfendem ebenso wie Klienten spontan einleuchtete.
All das veranlasste mich dazu, über die bisherigen Modelle hinauszugehen und über meine Erfahrungen zu berichten – echte Hilfe kann schnell erfolgen, aber sie erfordert eine offene, vertrauensvolle Beziehung zum Klienten, die der Helfende von Anfang an aufbauen muss. Da die Probleme so kompliziert und komplex sind und weil es für die Beziehung äußerst wichtig ist, wie der Klient selbst beurteilt, was vor sich geht, erfordert dies auch ein gehöriges Maß an Demut aufseiten des Beraters. Ich beschreibe also in diesem Buch die neue Art von Problemen, die neue Beziehung, die zwischen Berater und Klient aufgebaut werden muss, und die neuen Einstellungen und Verhaltensweisen, die Berater lernen müssen, um echte Hilfe zu leisten.
Ich betrachte das als Evolution in meinem Denken. Viele der vorgestellten Ideen waren vielleicht schon indirekt in früheren Werken präsent, doch erst jetzt dringen sie ins Bewusstsein – als Erkenntnisse und als neue Grundsätze für das, was geschehen muss, wenn wir wirklich bei komplexen, dynamischen, »chaotischen« Problemen helfen wollen und wenn wir das schnell tun wollen, weil Klienten in vielen Fällen mit einer sofortigen Anpassung reagieren müssen.
Wie passt das alles in einen größeren historischen Kontext?
Humble Consulting oder die Kunst der vorurteilslosen Beratung stützt sich auf viele frühere Modelle, die sich mit Komplexität, wechselseitiger Abhängigkeit, Diversität und Instabilität befasst haben. Fast jede Theorie des Helfens umfasst den Begriff der Beziehung, doch kaum ein Modell geht auf die verschiedenen Ebenen von Beziehungen ein oder erörtert, was dazugehört, sie auszuhandeln. Eine Ausnahme bildet Claus Otto Scharmers Buch Theorie U (2007), in dem ausdrücklich zwischen verschiedenen Gesprächsebenen unterschieden wird, wenn es um die Frage geht, wie wir die tiefste Ebene in uns selbst und unseren Beziehungen erreichen, um zu den wahren Quellen der Erneuerung vorzustoßen.
Die beste Einführung in die Theorien und Modelle, die für ein Verständnis dieser Problemstellungen und für die Entwicklung praktikabler Anpassungsbewegungen besonders relevant sind, bot Karl Weick in seiner Untersuchung von besonders zuverlässigen Organisationen (Highly Reliable Organizations, HRO) und seinen darin vorgestellten Konzepten wie »lose Kopplung«, »Sensemaking«, »Konzentration auf Fehler« und »Resilienz« (Weick und Sutcliffe, 2007). Auf der Seite der Soziologie betrachte ich seit jeher Erving Goffmans Analyse von Interaktion und »situativer Angemessenheit« als essenzielles Modell für ein Verständnis von Beziehungen und der Art, wie sie aufgebaut, bewahrt und gegebenenfalls gekittet werden (Goffman 1959, 1963, 1967). Eng verwandt sind die systemischen Modelle des »Organisationslernens« (z. B. Senge, 1990) und der Familientherapie (z. B. Madanes, 1981). Die Arbeiten zur »Achtsamkeit« (Langer, 1997) sind entscheidend für die neuen Kompetenzen, die wir meiner Ansicht nach brauchen werden. Die an sogenannten »schlanken« Methoden orientierten Veränderungsprogramme, basierend auf den Arbeiten von Deming und Juran, die sich zum Toyota-Produktionssystem entwickelten, sind relevant, wenn sie gut umgesetzt werden und diejenigen Mitarbeiter, die die eigentliche Arbeit ausführen, miteinbeziehen (Plsek, 2014). Offene soziotechnische Systemansätze zur Problemermittlung und -lösung, wie sie von der Tavistock-Klinik entwickelt wurden, haben wesentlich hilfreichere Ideen geliefert als standardisierte Mess-, Analyse- und Problemlösungsmethoden.
Der vielleicht relevanteste Beitrag von allen ist das im letzten Jahrzehnt von Bushe und Marshak (2015) beschriebene Konzept der »dialogischen Organisationsentwicklung« im Gegensatz zur »diagnostischen Organisationsentwicklung«, weil es hervorhebt, was auch andere Führungstheoretiker wie Heifetz (1994) betonen – nämlich, dass die komplexen Probleme von heute keine technischen Probleme sind, die sich mit spezifischen Werkzeugen beheben lassen. Darauf können wir am besten reagieren, indem wir gemeinsam mit dem Kunden nach praktikablen Ansätzen suchen, die zwar keine Lösung, aber schnelle Erleichterung versprechen – was ich als Annäherungen oder »Anpassungsbewegungen« bezeichne. Dazu werden neue Formen des Gesprächs von eher dialogischer und fragender Natur gehören. Besondere Betonung liegt in diesem Zusammenhang auf dem Begriff »Bewegungen« (Moves), weil er impliziert, dass wir handeln, ohne notwendigerweise gleich einen Plan oder eine Lösung im Kopf zu haben.
Letztendlich greife ich auf...