Vorwort
Spätestens seit der Entscheidung des Argentiniers Jorge Mario Bergoglio, nach seiner Wahl zum Papst im Jahr 2013 als erster Nachfolger Petri und als Jesuit den Namen »Franciscus« zu wählen, erfuhren Leben und Wirken des Heiligen aus dem 13. Jahrhundert wieder größere Beachtung in der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Zu Recht wurde die Namenswahl als programmatisch verstanden, da der neue Nachfolger Petri offenbar wesentliche Elemente der Lebensform des »Kleinen Armen« (Poverello) als entscheidende Anliegen seines Pontifikates betrachtete. Schon die ersten Äußerungen von Papst Franciscus machten deutlich, dass er angesichts der drängenden Probleme in der heutigen Welt wichtige Zielsetzungen des Heiligen – wie die Botschaft des Friedens, der Toleranz und der Sorge für die Umwelt – auch als normativ für sein eigenes Wirken ansah.
Die ungebrochene Attraktivität der Anliegen des Poverello hat auch den Verfasser des vorliegenden Buches veranlasst, sich vier Jahrzehnte lang als Hochschullehrer und ca. zwanzig Jahre lang als Direktor des »Institutes für franziskanische Geschichte (Münster)« immer wieder in zahllosen Lehrveranstaltungen und Vorträgen mit der Person des Heiligen und seinem Wirken zu beschäftigen. Bis zum heutigen Tage besteht für ihn eine große Faszination, welche Franziskus ausübt – nicht nur als ständig fröhlicher »Gaukler Gottes«, der von der Herrlichkeit der Schöpfung überwältigt war und zu deren Bewahrung aufrief. Ebenso wichtig ist seine anhaltende innere Zerrissenheit, die aus der lebenslangen Sorge vor den Gefährdungen einer sündhaften Existenz resultierte – verbunden mit einer tiefen Angst, den Willen Gottes (vor allem bezüglich seiner Lebensweise) falsch zu verstehen. Anrührend sind seine Güte und Bescheidenheit, mit welcher er seinen Mitmenschen begegnete und sie zum Frieden mahnte; beeindruckend erscheint seine Beharrlichkeit, mit welcher er sanft, aber konsequent für eine friedliche, jedoch radikale Neugestaltung der zeitgenössischen Kirche und Gesellschaft auf allen Ebenen eintrat – ungeachtet aller Widerstände. Hierbei zeigte er gegenüber den gesellschaftlich Ausgestoßenen und »Zu-kurz-Gekommenen« besondere Solidarität und Empathie. Schließlich entwickelte er auch gegenüber Andersgläubigen spezifische Formen der friedlichen Kommunikation, die als wegweisend erscheinen.
Insofern war der Verfasser gerne bereit, das Angebot anzunehmen, eine neue, »zeitgemäße« Darstellung des Lebens und Wirkens von Franziskus zu verfassen, zumal kurz zuvor erstmalig sowohl die Schriften des »Kleinen Armen« in der Originalsprache mit deutscher Übersetzung (2013) als auch alle relevanten Quellenzeugnisse zu Franziskus und seiner Bewegung aus dem Hohen Mittelalter ebenfalls in deutscher Übertragung (2009, 22014) publiziert worden waren. Allerdings wurde in letzter Zeit eine große Zahl an erbaulich-hagiographischen Darstellungen vor allem im deutschsprachigen Raum zum Leben des Poverello veröffentlicht, die primär einer vorbehaltlosen Verherrlichung von Franziskus sowie der Verbreitung eines oftmals unkritischen, »romantisierenden« Heiligenbildes dienten. Hinzu kamen Werke über die Beziehungen des Poverello zu Klara von Assisi, welche diese (in mitunter fast »kitschig« anmutenden Texten) realitätsfern sogar als mystisches »Liebespaar« feierten – Darstellungen, die völlig unhistorisch sind und in erster Linie heutige (Wunsch-)Vorstellungen von einer partnerschaftlichen Beziehung der beiden Heiligen bzw. auch der Geschlechter transponieren.
Hiergegen setzt sich der Verfasser vorliegender Darstellung nachdrücklich ab, die sich bemüht, vor allem an Traditionen der kritischen historischen Forschung seit dem 19. Jahrhundert anzuknüpfen. Doch auch diese Entscheidung ist nicht unproblematisch, da sich viele ältere biographische Werke zum Poverello jeglicher (konfessioneller) Provenienz ebenfalls als tendenziös bzw. als zeitgebunden erweisen. Auch sie dienten mittels des Transfers über ein Heiligenleben der Vermittlung zumeist aktuellen, oftmals »ideologischen« Ideengutes des jeweiligen Autors. Daher veränderte sich das hierbei entstehende Bild von Franziskus gemäß den sich wandelnden geistigen und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, unter welchen die Verfasser jeweils arbeiten mussten, seit ca. 1900 kontinuierlich – etwa unter Aufnahme chevaleresker Traditionen als »Troubadour« und »Christus-Ritter«, in Reaktion auf die Soziale Frage als »progressiver Gesellschaftsreformer«, im Kontext des sog. Kulturkampfes als erfolgloser »Kirchenkritiker« oder als Vorläufer von Martin Luther bzw. als wehrloses »Opfer« päpstlicher Machtpolitik (nach den Theorien von P. Sabatier).
Diese »Funktionalisierung« von Franziskus setzte sich verstärkt in Biographien seit den 1930er Jahren fort, indem der Heilige etwa unter den Faschisten als »nationaler, italienischer Heros« und später nördlich der Alpen als »Symbol der Brüderlichkeit der verschiedenen sozialen Klassen« gefeiert wurde. Während man ihn zudem als »Beförderer des sozialen Friedens« sowie des »friedvollen Zusammenlebens unterschiedlicher sozialer Gruppen« würdigte, versuchte man später, Franziskus im Zusammenhang mit der sog. »68er Bewegung« als Repräsentanten »rebellischer Söhne« in ihrem (angeblichen) »Protest gegen Autoritäten jeglicher Provenienz« zu vereinnahmen. Gleiches galt für Bestrebungen, den Poverello und seine vorgeblich »anarchische Schule« als Kronzeugen für die Möglichkeit einer »anderen Politik« mit Abkehr von »kapitalmacht- und herrschaftswüchsigen Entwicklungen« zu benennen. Diese Bemühungen wurden von Vertretern der sog. »Befreiungstheologie« forciert, die Franziskus als »Verteidiger der Armen« bzw. als »Gründer einer Kirche der Armen« bezeichneten und seine Zuwendung zu dieser sozialen Gruppe als vorbildlich für eine Reform von Kirche und Gesellschaft in der westlichen Welt betrachteten. Die ideologische Vereinnahmung wurde seit den 1980er Jahren intensiviert, indem man den Poverello einerseits als Repräsentanten eines neuen, harmonischen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur im Rahmen der ökologischen Bewegung benannte. Andererseits nutzte man seine häufigen Mahnungen zu sozialem und politischem Frieden zur Unterstützung der weltweit erstarkenden Friedensbewegung, die im sog. Kalten Krieg eine Auflösung der verfeindeten politischen Blöcke forderte, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten modifiziert im Aufruf zu einem friedlichen Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Ein Ende der politischen und ideologischen Funktionalisierung des Poverello und seiner Bewegung in einschlägigem Schrifttum ist nicht abzusehen.
Panorama der heutigen Stadt Assisi
In Anbetracht dieser Entwicklungen und angesichts der ungeheuren Zahl an vorliegenden Studien zu Franziskus erscheint die Entscheidung, für ihn eine neue Biographie zu verfassen, vielleicht als etwas vermessen; doch glaubt der Verfasser, hierfür (in der historisch-kritischen Tradition) aufgrund eines methodischen Neuansatzes eine gewisse Rechtfertigung zu besitzen. So soll der Poverello nicht länger bloß als ein »besonderer Heiliger« verherrlicht, sondern primär als historische Figur in ihrem gesamten gesellschaftlichen und kirchlichen Umfeld sowie in ihren sozio-politischen Zwängen dargestellt werden. Hierbei wird vor allem auf die Schriften von Franziskus selbst zurückgegriffen, um ihn in dieser Weise »persönlich zu Wort« kommen und seine Vorstellungen von der vita minorum bzw. von der franziskanischen Bewegung (ohne spätere legendarische Verfälschungen) verdeutlichen zu lassen. So werden große Passagen seines Lebens und zahlreiche seiner Aktivitäten – immer im sozio-politischen Kontext – in möglichst großer Quellennähe dargestellt, d. h. mit ausführlicher, wörtlicher Zitation der einschlägigen Gründer-Schriften. Sofern notwendig, werden ergänzend besonders Zeugnisse der ältesten Gefährten sowie der frühen franziskanischen Viten bzw. Chroniken zur Historie des Poverello herangezogen. Gleiches gilt für die Beschreibung seiner Zielsetzungen sowie der »franziskanischen Lebensnormen«, die ebenfalls vorwiegend anhand von Texten des Stifters skizziert werden. Hierdurch soll eine Beeinflussung der Darstellung des Poverello durch spätere Ordensschriften, die oftmals tendenziös und von ordensinternen Auseinandersetzungen geprägt sind, so weit wie möglich vermieden werden.
Methodisch wird bei der folgenden Darstellung eine Kombination von »biographischem Längsschnitt« und »problemorientierten Querschnitten« vorgenommen. In einem einleitenden Teil (Kap. 1–4) werden – nach einem kurzen biographischen Abriss über den Armen von Assisi – zum einen die Lage der Kirche um 1200 aufgezeigt und mögliche »Vorläufer« des Franziskus behandelt; zum anderen sind die sozio-politischen Rahmenbedingungen in Italien und in Assisi zu verdeutlichen, unter denen der Poverello wirken musste. – Den Hauptteil des Werkes (Kap. 5.1–4) bilden systematische Ausführungen zu wesentlichen Aspekten des Lebens und Wirkens von Franziskus sowie seiner Zielsetzungen. Die vier Großkapitel und zahlreichen Unterkapitel ordnen sich grundsätzlich in den historischen Gesamtablauf des Lebens von Franziskus ein, sind aber primär problemorientiert und behandeln u. a. die »Existentielle Sinnsuche« des Poverello, »Franziskanische...