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E-Book

Stadt ohne Seele

Wien 1938

AutorManfred Flügge
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783841215123
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Zeitroman und Schicksalspanorama: Der 'Anschluss' Österreichs durch die Nazis im März 1938 und ihr Einmarsch in Wien waren ein traumatischer Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Anschaulich und detailreich erzählt Manfred Flügge vom tragischen Irrtum Kurt Schuschniggs und dem Versagen der Weltöffentlichkeit. In einem Wechsel von historischer Darstellung und beispielhaften Lebenserzählungen von Akteuren und Opfern, unter ihnen Sigmund Freud, Egon Friedell, Robert Musil, Franz Werfel und vielen anderen, entsteht ein Zeitroman, der zum vielfältigen Schicksalspanorama wird.

Manfred Flügge, geboren 1946, studierte Romanistik und Geschichte in Münster und Lille. Von 1976 bis 1988 war er Dozent an der Freien Universität Berlin. Heute lebt er als freier Autor und Übersetzer in Berlin.

2014 erhielt er den „Literaturpreis Hommage à la France der Stiftung Brigitte Schubert-Oustry“ und in Cognac den Prix Jean Monnet du Dialogue Européen.

Veröffentlichungen (Auswahl): „Gesprungene Liebe. Die wahre Geschichte von ,Jules und Jim’“, „Die vier Leben der Marta Feuchtwanger“, „Stéphane Hessel – ein glücklicher Rebell“, „Das Jahrhundert der Manns“ und zuletzt „Stadt ohne Seele. Wien 1938“.

Im Aufbau Verlag sind seine Bücher „Die vier Leben der Marta Feuchtwanger“, „Das Jahrhundert der Manns“, 'Stadt ohne Seele. Wien 1938' und „Das flüchtige Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil an der Côte d’Azur“ lieferbar.

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Leseprobe

2
Wien bleibt


Es ist eine große Vermessenheit,
Städte beschreiben zu wollen.

Joseph Roth

»Mittlerweile schattet der Abend über die Stadt, nimmt Häusern und Türmen ihre scharfen Konturen, zündet farblos grelle Lichtreklamen an und löst jeden eigenwilligen Stil in der monotonen, unpersönlich gleichgeschalteten Häuserfassade einer Allerwelts-Büro- und Geschäftsfront. Alles Individuelle ist aus den Gesichtern der Menschen gelöscht, alles Wienerische – zumindest im Herzen der Stadt – aus den Straßen und Plätzen. – Es ist wieder einmal eine Stunde gekommen, die alles untertauchen läßt in nivellierendem, nichts als zukunftsdurstigem Vergessen […] Jede Großstadt wird in solchen Momenten gefährlich. […] Darum sind Prag, München, Wien in Wendestunden besonders bedenklich; vor allem auch Wien. Weil dort die Gegensätze im Moment der Umwertung und Entfesselung des Denkens nicht nur die Menschen anspringen, die nebeneinander und aneinander vorübergehen, sondern jeden einzelnen in der Seele zerreißen […] Dann wacht der Todfeind aller Kollektiven und Psychosen, der Schelm, wieder auf, holt das oft bewährte Schelmenzwinkern des sich selbst ironisierenden Witzes hervor und schlägt vergnügt die tollsten Kapriolen. So ist sie eben: – die alte Heimatstadt des unsterblichen Armen Augustin! Sie kann ja nicht wirklich weinen; aber wenn sie lacht – dann bisweilen in Tränen.«

Sehr poetisch kommt diese düstere Vision einer Metropole in einer historischen »Wendestunde« daher, breit ausgemalt, etwas konturlos wie eine Passage in einer Sinfonie von Bruckner, aber in der Wirkung eindringlich wie diese. Es war einer der Hauptakteure im Anschlussdrama, Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, der diesen Blick aus dem Fenster seines Amtszimmers festgehalten hat, am Abend seines Rücktritts und seiner politischen Niederlage.1

* * *

Wenn eine Stadt zu oft beschrieben, besungen, geschmäht und verklärt wird, weiß man bald nicht mehr, wie sie in Wirklichkeit ist. Vielleicht ist diese Wirklichkeit auch unfassbar, weil zu facettenreich und widersprüchlich. Oder sie verschmilzt in einer Synthese von Klischee und Realität. »Wien ist die Stadt der funktionierenden Legenden«, meinte Friedrich Torberg in einem »Traktat über das Wiener Kaffeehaus«; hier gehe die dichterische oder journalistische Erfindung oft der Wirklichkeit voraus und schaffe erst die Phänomene, die Besucher und Einheimische zu finden glauben.2

Über Wien nach 1900 kann man verschiedene Diskurse pflegen:

• das volkstümliche, gemütliche Wien mit Prater, Walzer, Mehlspeisen, Heurigem und süßen Mädels;

• das Wien der Moderne, der künstlerischen Avantgarde und als Begleitmusik dazu der literarische Feuilletonismus, die Kabaretts, das Kaffeehausleben;

• das Wien der Wissenschaft (besonders in Medizin und Physik nahm die Stadt eine Spitzenstellung ein) sowie der Philosophie (etwa im Wiener Kreis);

• das Wien des Antisemitismus und des Völkerhasses, angefacht auch von der katholischen Kirche, die eine klerikale Diktatur anstrebte;

• das Wien der Juden, der bürgerlich integrierten Juden wie der Bettler und Hausierer aus Osteuropa. In dieser sehr katholischen Stadt lebten mehr Juden als in anderen europäischen Metropolen, insgesamt 90 Prozent aller österreichischen Juden.

Über all diesen Wien-Impressionen schwebte die Musik, die Operette, die Klassik, die Neutöner, denn die Welthauptstadt der Musik war Wien um und nach 1900 gewiss, darin das Paris des 19. Jahrhunderts ablösend.

Seine Metamorphosen hatte dieses kulturelle und politische Zentrum gut überstanden: Nach 1806, als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sich auflöste und die Habsburger Kaiser nicht mehr die Herren über ganz Mitteleuropa waren, sondern nur noch über weite Teile von Südosteuropa; nach der Revolution von 1848, als der kurze Völkerfrühling gerade in Wien sein blutiges Ende fand; nach der industriellen Revolution und auch nach der kriegerischen Auflösung des Gegensatzes Preußen – Österreich in der Schlacht von Königgrätz im Jahr 1866.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Wien eine lange Phase der politischen Stabilität, gleichbedeutend mit der Herrschaft von Kaiser Franz Joseph, die 1848 begonnen hatte. Zugleich vollzog sich ein rasanter gesellschaftlicher Wandel in Städtebau, Industrie, Kunst, Lebenswelt und Bevölkerungsstruktur. Der innere Bezirk wurde zu einer prachtvollen Residenzstadt umgestaltet. Der alte Stadtwall wurde ersetzt durch eine breit ausladende Avenue, die sich wie ein Ring um die historische Altstadt legte. Entlang dieser Ringstraße wurden repräsentative öffentliche Bauten errichtet, Staatsoper, Rathaus, Burgtheater, aber auch Hotels und Privatpaläste der reichen Familien. Immer neue Randgebiete der Stadt wurden baulich erschlossen und alsbald eingemeindet.

Das geistige Leben blühte auf. Künstlerische Kreativität in der Malerei, in der Musik, in der Oper und im Theater, ein Boheme- und Kaffeehausleben fast wie in Paris, Modernismus in Kunst und Architektur standen neben glorreicher Tradition, feiner Lebenskultur mit Mode und Luxusindustrie. Die Stadt erzeugte einen Dunst von Leichtigkeit, Lebensfreude, Charme und Erotik, bot an der Oberfläche das Bild einer Welt, ganz »in Traum gehüllt«, doch die politische Atmosphäre war von Hass vergiftet, vom Nationenhass und vor allem vom Antisemitismus.3

Wien war das Herz einer selbstbewussten Doppelmonarchie, zu der Teile von Osteuropa und dem Balkan sowie von Norditalien gehörten. An inneren Widersprüchen und zentrifugalen Kräften fehlte es nicht, doch wurden sie von Kaiser, Regierung und Bürokratie in prekärem Gleichgewicht gehalten. Der Nationalismus, der in Deutschland auf die Befreiung von der napoleonischen Besatzung folgte und zu einer treibenden Kraft im Drängen auf eine politische Einheit wurde, besaß im Habsburgerreich eine gefährliche Sprengkraft und musste eingedämmt werden. Deutschland musste seine Einheit finden, das Habsburgerreich musste sie bewahren. Das Verhältnis zu Deutschland wurde in dem kurzen Krieg von 1866 geklärt: Zwei getrennte Reiche bestanden fortan nebeneinander. 1913 konnten die Herrschaftsjubiläen von Franz Joseph (65 Jahre) und Wilhelm II. (25 Jahre) begangen werden.

Voneinander gelöst hatten sich die beiden Staatsgebilde aber nicht. Es war gerade ihre unverbrüchliche Allianz, die zur fatalen Verstrickung im Krisenjahr 1914 und zum parallelen Untergang beider Kaiserreiche am Ende des Ersten Weltkriegs führte. Auch damit war das gemeinsame Schicksal der getrennten Reiche nicht beendet, wie sich im Drama um den Anschluss zeigen sollte. Das Reich war untergegangen, hier wie dort, doch die Reichsidee hatte dort wie hier überlebt. So wie beide Staatsgebilde vor 1914 die Verwandlung in eine wahrhaft konstitutionelle Monarchie versäumt hatten, vermochten sie nach 1918 keine lebensfähigen Republiken aufzubauen. Die Gestalt Hitler symbolisiert das gemeinsame historische Scheitern beider Länder zwischen 1918 und 1945.

* * *

Noch stärker als das Land Österreich musste die Stadt Wien nach 1918 eine neue Rolle finden. Sie hatte viele ihrer Funktionen verloren und zugleich eine verstärkte Zuwanderung erlebt. Von den etwa sieben Millionen Einwohnern des Landes lebten zwei Millionen in der Hauptstadt. Das neue Wien war der »Wasserkopf einer hungernden Republik«.4

Nach 1919 konnte Wien weder zurück in seine Vergangenheit, noch hatte es Spielraum, eine neue Zukunft zu erfinden. Es träumte davon, Plattform der Vermittlung zu sein, was ja vielleicht seine Mission gewesen wäre, doch im autoritären Europa nach 1930 schien das bunte Wiener Leben nur noch ein Relikt zu sein, das den neuen gefährlichen Entwicklungen im Wege stand. Damit es fiel, musste man Wien seine Seele rauben. Dafür sollten die führenden Politiker selbst sorgen: Das System, das sie schufen, konnte nicht die Kräfte mobilisieren, die das Land verteidigt und geschützt hätten. Schon 1934 war die »neue Besonderheit Wiens« ausgelöscht und damit die Macht dieser Gemeinde gebrochen worden, urteilte Elias Canetti.5

* * *

Paris und Wien, das ist ein lohnender Vergleich. Beide Städte wurden nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zur großartigen Kulisse mit einheitlichem Stil ausgebaut, was zunächst kritisiert und später weltweit bewundert wurde. Wie Paris war Wien nicht nur funktionale Hauptstadt eines Landes und politisches Zentrum eines Regimes, sondern eine geistige, moralische und ästhetische Welt für sich, ein geistiger Kosmos mit großer Ausstrahlung.

Im politischen Raum kam eine Sonderbeziehung Wien – Paris nicht zustande, weil Frankreich gegenüber Österreich keine konstruktive Politik entwickelte und starr auf Erfüllung der Friedensverträge von 1919 bestand. Wenn es eine Person gab, welche die vergebenen Chancen verkörperte, dann war es die Journalistin und Salonière Berta Zuckerkandl. Die Tochter des Zeitungskönigs Moritz Szeps, des Gründers des liberalen Neuen Wiener Tageblatts, war eine einflussreiche Persönlichkeit. Ihr Vater war ein Vertrauter des Kronprinzen Rudolf gewesen. Berta erbte seine vielfältigen Beziehungen und machte ihren Salon zu einem Ort der Begegnung von Politikern, Diplomaten und Künstlern. »Auf meinem Diwan wird Österreich lebendig«, pflegte sie zu sagen.6 Wien war für sie vor allem ein Zentrum des modernen Denkens mit den Philosophen des Wiener Kreises und der fortschrittlichen Wissenschaft, wie...

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