Einleitung
Von einem, der auszog, das Fürchten
zu lernen
Vielleicht kennen Sie das Märchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Es handelt nicht von »irgendeinem« Menschen, es symbolisiert vielmehr den Menschen schlechthin. Denn jeder von uns – wir alle – ist »einer, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Das Märchen erzählt die Geschichte von einem Jüngling, der genau wusste, dass ihm etwas fehlte, weil er sich nicht fürchten konnte. Deshalb begab er sich auf eine lange Suchwanderung, um diese ihm bisher unbekannte Erfahrung endlich einmal nachzuvollziehen und so seiner Ganzheit ein Stück näher zu kommen. Jeder Einzelne von uns befindet sich auf dieser »Reise des Helden«, die wir »ein Leben« nennen.
Es wäre für einen allmächtigen Gott sicher leicht gewesen, den Menschen ohne Angst auszustatten – und damit auch ohne Gefühle. Doch er hatte offenbar etwas Besseres mit uns vor. Er wollte uns lehren, mit der Angst zu leben, mit ihr umzugehen wie mit einem guten Freund, sie mit Bewusstheit zu durchdringen und letztendlich durch sie hindurchzugehen.
Bereits unsere Geburt ist ein Weg hinein in die Angst. Nach neun Monaten der Geborgenheit beginnt es zu rumoren, und wir werden in den Geburtskanal gepresst. Schon hier begegnet der neue Körper einer seiner rudimentärsten Ängste – der Angst vor der Veränderung, dem Wandel.2 Ohne Angst ist Leben also nicht möglich.
Der Zusammenhang zwischen Angst und Lebensfreude wird auch erhellt, wenn wir das Wort »Angst« durch »Lebensangst« ersetzen; damit ist die »Angst vor dem Leben« gemeint. Es scheint uns ja so, als sei es das Leben, das uns ängstigt, nämlich all das, was in unserem Dasein auf uns zukommt: Die Quelle der Angst liegt offenbar im Außen. Doch das Leben konfrontiert uns lediglich mit Situationen, auf die wir (körperlich und psychisch) verschiedenartig reagieren können.
Natürlich gibt es seit alters äußere Gefahren, auf die wir sinnvollerweise mit Angst reagieren bzw. vor denen wir uns fürchten, um uns zu schützen. So war es schon für unsere Vorfahren überlebenssichernd, dass sie sich vor dem Säbelzahntiger hüteten, der plötzlich vor ihnen auftauchen konnte. Es gibt aber auch Angstauslöser ohne wirkliche Bedrohung: Nehmen wir einmal an, ein Mensch ängstige sich vor Kaninchen. So etwas kann kaum jemand nachvollziehen, es kommt aber vor. Auch der Betreffende weiß verstandesmäßig, dass von einem
Kaninchen keine Bedrohung ausgeht. Er kommt sich schon lächerlich vor. Erst in dem Augenblick, da er beginnt, sich mit der Angst vor Kaninchen zu beschäftigen, d. h., ihr entgegenzugehen, kann er in Erfahrung bringen, was an dem Kaninchen subjektiv gesehen so gefährlich ist – er kann diese Angst einlösen und sich so von ihr befreien. Und dann gibt es Ängste, die überhaupt keinen äußerlich erklärbaren Anlass zu haben scheinen. Auch diese werden wir uns genauer anschauen und lernen, sie zu erlösen bzw. einzulösen.
Angst ist, vor allem natürlich in den letzteren beiden der drei Beispiele, also ein zutiefst individuelles Phänomen. Sie fordert zur Individuation auf, damit wir nicht Massenhysterien zum Opfer fallen.
»Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.«
Goethe
Immer (be)trifft die Angst uns – unser Bewusstsein. Und in ausnahmslos allen Fällen ist es in der Lage, mit dieser Angst umzugehen. Das Leben ist nämlich der größte Therapeut, den es gibt: Es kann jeden heilen – es bietet uns fortwährend die Chance, »äußeren« und »inneren« Ängsten auf die Spur zu kommen und sie durch Bewusstheit zu erlösen. Deshalb sind wir in einen menschlichen Körper inkarniert, um unsere Angst greifbar zu machen, an ihr zu wachsen und zu reifen. Erst bei der erneuten Wandlung, der zweiten und damit »geistigen Geburt«, erkennen und erfahren wir den Ausstieg aus der Angst.
Angst und Mensch – eine lange
Geschichte
Die Natur bedient sich der Angst, um das Leben und die Unversehrtheit von Körper, Seele und Geist zu bewahren sowie die Art zu erhalten. Die Angst ist tief in unseren Instinkten verankert und verbindet uns mit unserem animalischen Erbe. (Jedes Tier kennt die Angst und handelt aus ihr heraus.) Sie ist somit eine schützende Abwehrreaktion, die uns die Natur mitgegeben hat. Ohne sie würden wir uns jeder Gefahr aussetzen, statt sie zu meiden.
Angst haben wir, wenn wir eine Gefahr erwarten oder von ihr ergriffen sind. Angst kontrolliert ständig alle Wahrnehmungen der Sinne daraufhin, ob Anzeichen für eine Situation bestehen, die schon einmal als leidvoll erlebt wurde. Wird ein entsprechendes Muster bemerkt, produziert das Unbewusste ein mehr oder minder starkes Gefühl des Unbehagens, um das Bewusstsein zu Reaktionen zu veranlassen, die Gefahr zu mindern oder auszuschalten. Angst bereitet auf Schmerz, Kampf, Flucht oder das Stillhalten (Totstellreflex) vor.
Wie schon das Beispiel mit dem Tiger zeigte, ist Angst ursprünglich eine Reaktion mit einem hohen Überlebenswert. In der Frühzeit lebte der Mensch in Waldgebieten und später in der Savanne. Wenn es plötzlich im Gebüsch raschelte oder das Vogelgezwitscher abrupt verstummte, bekam er Angst. Die »Notstromaggregate« seines Körpers wurden angeschaltet und seine Sinne geschärft. So konnte er im Falle einer realen Gefahr blitzschnell kämpfen oder fliehen.
Die natürliche Angst vor Tigern und Giftschlangen im Urwald war und ist natürlich berechtigt. Sie stellt im aktuellen Moment die Energien für ein lebensrettendes Handeln zur Verfügung und erlischt, sobald die Gefahr vorbei, der Tiger besiegt oder die Flucht gelungen ist. Heute werden wir nur noch selten mit derart rudimentären Ängsten konfrontiert. Unsere Bedrohungen sind ganz anderer Art als bei unseren Vorfahren, doch die Angst ist uns geblieben.
Mit dem Aufstieg der ersten Kulturen entstanden beim Menschen neue, so genannte zivilisatorische Ängste. Diese haben sich im Laufe der Jahrtausende gewandelt, neue Konturen bekommen. Viele davon halten wir für irrational – und doch sind sie existent; z. B. soll schon Hippokrates vor mehr als 2400 Jahren den seltsamen Fall eines Mannes namens Nikanor beschrieben haben. Beim Klang der Flöten zu einem Bankett müsse dieser sich buchstäblich zu Tode gefürchtet haben, so vernichtend sei seine Phonophobie, d. h. die Furcht vor bestimmten Geräuschen, gewesen.
Wir haben in der Regel natürlich keine Angst mehr vor Gespenstern, Geistern oder der Rache der Götter – wir sind ja nicht abergläubisch…! Doch Naturvölker empfinden solche Ängste auch heute noch als durchaus real und berechtigt. Dafür wundern sich die Naturvölker vielleicht über unsere Angst vor Ratten, Spinnen, der Arbeitslosigkeit oder dem Alter.
Daraus kann man also schließen, dass es seit Menschengedenken immer irgendeine Form von Angst gab – lediglich ihr Gesicht, ihr Ausdruck, scheint sich im Laufe der Jahrtausende zu wandeln.
So hat auch das 21. Jahrhundert neue Ängste hervorgebracht. Obwohl dies eigentlich die sicherste aller Zeiten sein sollte – schließlich leben wir in der Moderne –, hatten noch nie so viele Menschen Angst wie heute. Und je mehr wir die Welt (und unsere Ängste) zu kontrollieren suchen, umso erdrückender scheint sich die Angst zu gebärden.
Wir fürchten uns vor Atomkriegen, Selbstmordattentätern, der weltwirtschaftlichen Situation und der Zukunft im Allgemeinen. Doch es gibt auch Ängste, deren wir uns früher nie bewusst waren, wie z. B. die bereits erwähnte Angst vor dem Glück, vor der Liebe und vor zwischenmenschlicher Nähe.
Das Internet mit seinen Möglichkeiten virtueller Kontaktaufnahme sowie unsere moderne Medienwelt reduzieren unsere Ängste nicht, im Gegenteil – sie fördern unsere innere Vereinsamung und damit auch die Angst vor dem Leben, wie es »wirklich« ist.
Viele Menschen haben Angst, wollen diese aber nicht spüren. Sie projizieren sie lieber: Wer z. B. Beziehungsangst hat, der projiziert sie auf seine Freundin bzw. seinen Freund (»Wäre er/sie doch nur anders, bräuchte ich weniger Angst zu haben!«). Wieder andere suchen die Extreme: Statt den aufrichtigen Dialog mit der Angst zu suchen, ziehen sie ihre Befriedigung aus dem Thrill. Natürlich schießt der Adrenalinspiegel in die Höhe, wenn jemand sich an einem Gummiseil hängend 20 m in die Tiefe stürzt oder sich ein ähnlich waghalsiges Abenteuer zumutet, doch der viel größere Schatz liegt eigentlich in der Selbstbesinnung, zu der uns die »tägliche Kleinangst« auffordern will.
Was neu ist an unserer Zeit, und dies macht Hoffnung, ist, dass immer mehr Menschen dazu bereit sind, nicht nur über, sondern auch mit ihren Ängsten zu reden. Wer...