3. „I had a dream last night“[79]: Theoretische Grundlagen zur Traumdeutung und dem unzuverlässigen Erzählen
Die filmische Darstellung des Unbewussten scheint insofern schwierig, als das Unbewusste im Bewusstsein nicht verfügbar ist. Die einzige Bezugsgröße, die dem wachen Zustand zur Verfügung steht, um das Unbewusste zu untersuchen, ist der Traum: Macht Christian Metz einen Unterschied zwischen Traum und Film, indem er den Traum dem Primärprozess (unbewusst) und den Film dem Sekundärprozess (bewusst) zuordnet[80], stellt Mechthild Zeul auf Grundlage der Freudschen Auffassung, der Traum würde im Wachzustand bearbeitet und erst in Worte gefasst, diese Annahme in Frage und ordnet den Traum nicht mehr eindeutig dem Primärprozess zu.[81] Diese Einordnung erlaubt ein Sprechen und Strukturieren des Unbewussten, obwohl es dadurch bewusst gemacht wird. Um 1850 in Deutschland ist das erste Mal von dem Unbewussten die Rede[82] und der Engländer Hartley interessiert sich mehr für die Ursachen als die Inhalte von Träumen.[83] Es entsteht die Annahme, dass im Traum verborgene Persönlichkeitsmerkmale dargestellt werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entsteht die erste wissenschaftliche Methode der Traumdeutung: Durch Sigmund Freud.[84] Seine Untersuchungen können nicht eindeutig einer Disziplin zugeordnet werden, da sie Aspekte der Neurologie, Biologie und Psychologie beinhalten. Deshalb wurden diese als Wissenschaft häufig in Frage gestellt. Ein passendes Zitat von David Lynch verifiziert jedoch die Relevanz der Freudschen Überlegungen für die Untersuchungen dieser Arbeit: „Es mag exakte Wissenschaften geben, aber die Seelenheilkunde zählt nicht dazu.“[85] In diesem Kontext müssen auch seine Filme gelesen werden.
Kiecle fasst Freuds Traumdeutung zusammen, indem er als zentrales Merkmal festhält, dass die menschlichen Triebe, die im Traum ausgelebt werden, der Kindheit entstammen.[86] Freud sagt weiterhin, dass die Erinnerung an solch einen Trieb am Tag zuvor wachgerufen worden sein muss. Dabei ist ein latenter und ein manifester Trauminhalt auszumachen. Der manifeste Trauminhalt ist das, was im Traum erlebt wird; die Bilder, die gesehen werden und die Gedanken, die dabei entstehen. Die Umwandlung vom manifesten in den latenten Trauminhalt wird Traumarbeit genannt. Der latente Inhalt ist nicht ohne Weiteres auszumachen, da der Traum die latenten Inhalte zensiert. Durch Verdichtungsarbeit und Verschiebung werden Bilder hinzugefügt, umgewandelt und entstellt, so dass erst durch die Deutungsarbeit herausgefunden wird, was der manifeste Trauminhalt eigentlich meint. Dabei werden Intensivierungen, Ortsveränderungen und Rückbildungen vorgenommen. Bilder können symbolischen Charakter innehaben und im Rahmen der freien Assoziation auf den latenten Inhalt schließen lassen, da Bedeutungen von Person zu Person unterschiedlich sind. Es kommt auf die jeweiligen Erfahrungswerte an.[87] Nach Freud ist das zentrale Merkmal eines Traums die Wunscherfüllung.[88] Auch ein Alptraum beinhaltet ihm zufolge eine Wunscherfüllung in entstellter Form. Bezüglich der angenommenen Traumbilder bei Lynch wird in den folgenden Kapiteln detaillierter auf die Freudsche Traumdeutung eingegangen. Auch, wenn die Traumdeutung nach Freud über 100 Jahre alt ist und laut kontroversen WissenschaftlerInnen zum Teil überholt sei, bildet sie das Fundament für die weitere Forschung, die seither stattgefunden hat. Für die Werke Lynchs ist sie, wie sich zeigen wird, die richtige Methode, da Lynch die Themen Sexualität und Gewalt, die auch bei Freud zentral sind, behandelt. Je nach Disziplin sind die Annahmen Freuds zwar teilweise überholt, für diese Untersuchung jedoch trotzdem zutreffend, da sich ein Autor bei der Erschaffung eines artifiziellen Werkes selbstbestimmt an einer Theorie orientieren kann. Diese Arbeit nimmt zudem nicht Bezug auf die gesamte Psychoanalyse des Freud oder seiner Nachfolger, sondern primär auf die Traumdeutung. Jung, der Schüler Freuds war, führte die Annahmen seines Lehrmeisters fort, widersprach ihm aber darin, dass für ihn das Unbewusste mehr als sexuelle Triebe reflektiere.[89] Nach Jung führten unter anderem Erich Fromm, Medard Boss und Fritz Perls die Traumdeutung fort. Alle Theorien stimmten darin überein, dass der Traum in Bildern verborgene Teile der Persönlichkeit ausdrücke. Somit bezogen sie sich wieder auf Freud. Wie genau Traumbilder nach Freud aussehen, wird im Folgenden ausgearbeitet. Ebenso, wie Formen unzuverlässigen Erzählens diese Darstellung bedingen. Dazu wird zuerst grundlegend erklärt, wie im Film unzuverlässig erzählt werden kann und der Forschungsstand hierzu erläutert.
Mit der Untersuchung unzuverlässiger Erzählverfahren in der Trilogie wird auf filmwissenschaftlichem Terrain ein relativ unerforschtes Gebiet beschritten. Der Begriff des unzuverlässigen Erzählens wurde von dem Literaturwissenschaftler Wayne Booth 1961 geprägt: Er ging davon aus, dass eine unzuverlässige Erzählung vorliegt, wenn die Werte des „implied authors“, also des Abbildes des tatsächlichen Autors, nicht mit denen des Erzählers kongruent sind.[91] Leiendecker bemängelt an dieser veralteten Ausführung, dass Normen und Werte des „implied authors“ nicht definiert werden können.[92] Es existieren diverse Theorien zum unzuverlässigen Erzählen in der Literaturwissenschaft, die zum Teil auf die Filmwissenschaft übertragbar sind. Jedoch fehlt bislang ein ganzheitliches, filmorientiertes Konzept, wie Dominik Orth feststellt.[93] Auch Bernd Leiendecker spricht von Forschungslücken und bemängelt, dass die Forschungstheorien zum unzuverlässigen Erzählen größtenteils aus der Literaturforschung stammen.[94] Wie unzuverlässig erzählte Filme überhaupt vom/von dem/der BetrachterIn rezipiert werden, ist nach aktuellem Forschungsstand ungewiss; Leiendecker macht jedoch darauf aufmerksam, dass durch diverse Signale, Informationen und filmische Mittel ZuschauerInnen dazu gebracht werden, eine bestimmte Lesart vorzunehmen; davon werde zumindest ausgegangen.[95] Verschiedene Ansätze existieren, die sich jedoch größtenteils noch nicht auf Erzählkonventionen des David Lynch beziehen. Mit dieser Arbeit soll eine Herausarbeitung der relevanten Mittel des unzuverlässigen Erzählens aus den vorhandenen Theorien geleistet werden, die bei Lynch anwendbar sind. So kann durch das Zusammenführen unterschiedlicher Teilaspekte aus verschiedenen Theorien ein neuer Ansatz entstehen, der die These dieser Arbeit, dass das unzuverlässige Erzählen bei Lynch Traumbilder bedingt, bestätigt. In allen Theorien, die hierfür Anwendung finden, besteht ein Konsens über die Wichtigkeit der eindeutigen Fokalisierung. Dieser Begriff wird in Zusammenhang mit dem unzuverlässigen Erzählen im Film zuerst bei Branigan gebraucht.[96] In der Literaturwissenschaft unterschied Genette zwischen Erzählinstanz und Fokalisierung. Schweinitz erklärt, dass man im Film nach der Erzählinstanz mit „Wer ist die Quelle des Erzählens?“ und nach der Fokalisierung mit: „Das Erleben welcher Figur wird durch eine narrative Instanz repräsentiert?“ fragt.[97] Branigan unterscheidet zwischen dem historischen Autor, dem extra-fiktionalen Erzähler, dem nicht-diegetischen Erzähler, dem diegetischen Erzähler, dem nicht-fokalisierten Erzähler sowie der externen und der internen Fokalisierung.[98] Es müssen jedoch nicht alle Arten der Erzählinstanz und Fokalisierung auftreten. Interne[99] und externe Fokalisierung[100] sind die grundlegenden Begriffe Branigans, auf die sich diese Arbeit fokussiert, da ein Wechsel der Fokalisierung, der nicht markiert wird, zu unzuverlässigem Erzählen führt. Eine interne handlungslogische Fokalisierung bedingt häufig unzuverlässiges Erzählen, so Leiendecker, da eine bildlogische externe Fokalisierung angenommen wird.[101] Bordwell geht vom aristotelischen Canonical Story Format als Grundlage für das Verstehen einer Filmhandlung aus: „introduction of setting and characters – explanation of a state of affairs – complicating action – ensuing events – outcome – ending.“[102] Dazu führt er weiter aus: “If the film does not correspond to the canonic story, the spectator must adjust his or her expectations and posit, however tentatively, new explanations for what is presented.”[103] Grundlegend ist diese Annahme Bordwells als wegweisend für die weitere Erzählforschung im Film zu betrachten, jedoch berücksichtigt sie noch nicht die externen „narrative agents“, die bei Branigan zentral sind. Ansgar Nünning spricht davon, dass Erzählungen dann unzuverlässig werden, wenn Informationen aus dem Filmtext nach Rezeptionsleistung nicht mehr mit lebensweltlichen Erfahrungen übereinstimmen.[104] Durch die Kategorisierung von Lost Highway und Mulholland Drive als „Art Narration“ verwehrt Bordwell Lynch eine Analyse seiner Erzählstrukturen mit den gängigen Werkzeugen,...