KAPITEL 1
RANKING, LINKING UND DAS UNTERBEWERTETE SELBST
Wir verwenden jeden Tag viel Zeit darauf, uns mit anderen Menschen zu vergleichen und nach Respekt, Einfluss und Macht zu streben. Das heißt, wir bewerten uns gegenüber anderen. Genauso oft verbinden wir uns mit anderen, indem wir ihnen Zuneigung, Mitgefühl und Liebe entgegenbringen, um uns zusammengehörig und geborgen zu fühlen. Manchmal verbinden wir beides, indem wir unseren Rang nutzen, um das Leben eines mit uns verbundenen Menschen zu verbessern – zum Beispiel, wenn wir jemanden beraten oder ihm etwas beibringen oder wenn wir unsere Kinder erziehen. Ranking und Linking sind aus unserem Leben nicht wegzudenken.
Manchmal sind wir uns dessen bewusst, manchmal aber auch nicht. Auf jeden Fall spielen Ranking und Linking in fast all unseren persönlichen Beziehungen und bei Problemen eine große Rolle, auch wenn wir uns selbst unterbewerten.
Bewerten wir uns zu gering, stufen wir uns zu niedrig ein. Oft stellt sich dann ein Alles-oder-nichts-Denken ein; wir fühlen uns wertlos oder schämen uns, wenn wir uns mit dem Teil unseres Selbst identifizieren, den wir üblicherweise meiden – mit dem unterbewerteten Selbst. Dieses Selbst ist realitätsfremd und schätzt sich viel zu gering ein. Egal, ob wir in diesem Selbst nur einen Moment oder unser ganzes Leben lang gefangen sind – wir leiden sehr darunter und verpassen etliche Chancen.
Ranking ist zwar die Ursache des unterbewerteten Selbst, aber ein ausgewogenes Verhältnis von Ranking und Linking stellt die beste Lösung dar, damit umzugehen. Sobald Sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie Sie sich mit anderen messen und verbinden, und die tieferen, meist unbewussten und instinktbedingten Gründe erkennen, warum Sie sich selbst unterbewerten, werden Sie oftmals mit überraschender Leichtigkeit verhindern können, dass dieses Selbst Besitz von Ihnen ergreift. Gelingt Ihnen das nicht, ist es umso wichtiger, dass Sie sich das bewusst machen und lernen, mit dem unterbewerteten Selbst besser umzugehen.
Ranking und Linking als Teil ihres Verhaltens werden schon seit Längerem bei höher entwickelten Lebewesen beobachtet. Doch erst vor Kurzem haben Forscher herausgefunden, dass es sich dabei um die primären angeborenen Mechanismen handelt, die unser gesamtes Sozialverhalten lenken. Der Ausdruck „Linking und Ranking“ erfasst im weitesten Sinne das, was wir manchmal als „Liebe und Macht“ bezeichnen. Liebe zählt zu den Verhaltensweisen, die Linking genannt werden, und beim Ranking wird über Macht entschieden. „Ranking und Linking“ als Begriff wurde erstmals 1983 in der politischen Psychologie von Riane Eisler und David Loye verwendet. Erneut aufgegriffen wurde die Bedeutung des Ranking-Linking-Zusammenhangs in den frühen 1990ern in der Sozialpsychologie, doch seitdem wurde von dem Ausdruck nur selten Gebrauch gemacht.1
Für sich genommen waren mit Macht und Liebe verbundene Themen schon immer ein Schwerpunkt in der Erforschung von menschlichem und tierischem Verhalten. Ich habe ebenfalls dazu jeweils geforscht. Ihr enger Zusammenhang wurde mir erst klar, als ich mich dem Problem widmete, an dem fast alle meine Patienten leiden: an einem geringen Selbstwertgefühl, das gesunde enge Beziehungen verhindert. Ich erkannte, dass sich meine Patienten nach Liebe oder Verbundenheit sehnten, sie darin aber nur Macht oder ihre Position innerhalb von Beziehungen zu anderen sahen.
Ranking gehört im Wesentlichen zu unserem Leben und wir genießen es sogar – zum Beispiel finden wir beim Sport Gefallen an freundschaftlichem Wettbewerb, und wir sind auch gern bereit, uns bei Bewerbungen auf einen Arbeitsplatz, bei Beförderungen und sogar bei der Auswahl eines zukünftigen Partners mit anderen zu messen. Richten wir jedoch unsere soziale Sichtweise danach aus, kann es in mehrfacher Weise dazu führen, dass wir uns schlecht fühlen. Wir alle müssen hin und wieder Niederlagen einstecken, und wie Sie sehen werden, beeinflusst ein Rückschlag natürlich das allgemeine Selbstwertgefühl und löst eine vorübergehende Depression aus. Wenn wir unser Leben als Abfolge von Wettbewerben und Vergleichen sehen, erleben wir mehr Tiefs als Hochs. Und wenn wir für gewöhnlich oben stehen, fühlen sich die unvermeidlichen Niederlagen umso schlimmer an.
Natürlich spricht nichts dagegen, weiterhin nach Erfolg zu streben und unsere Sache gut machen zu wollen. Aber unser Drang, in der Hierarchie immer weiter nach oben zu steigen, macht uns manchmal blind für die anderen Aspekte von Ranking. Nach einem Misserfolg oder einem Rückschlag sind wir nicht nur deprimiert, sondern werden auch von anderen negativen Gefühlen wie Scham und Unsicherheit heimgesucht, und das ist äußerst unangenehm. Unterstützung von Freunden und Familienmitgliedern kann dabei helfen, aber je unangemessener Ihr Ranking ist, umso weniger starke Bindungen werden Sie haben.
Viele von uns messen der Rangordnung eine viel zu große Bedeutung bei. Das liegt zum Teil an unserem sozialen Umfeld, aber hauptsächlich an schwerwiegenden Niederlagen in unserer Vergangenheit, die sich zu Traumata entwickelt haben. Durch sie sind wir besonders wachsam geworden und versuchen, weitere Rückschläge und Demütigungen zu vermeiden. Dabei nehmen wir oft Ranking wahr, selbst wenn es gar nicht vorhanden ist. Ohne genau zu verstehen, was genau sich hinter Ranking und Linking verbirgt, können wir die Auswirkungen dieser Traumata nicht in den Griff bekommen. Aus welchem Grund auch immer kommt es im Leben der meisten Menschen mehr auf Linking als auf Ranking an, und ohne genaue Kenntnis dieser beiden Instinkte können wir kein ausgewogenes Verhältnis zwischen ihnen herstellen.
Wer vermittelt Ihnen ein gutes Gefühl? Und wer ein schlechtes?
In diesem Buch werden Sie einige Übungen und Selbsttests finden, die Ihnen helfen sollen, den Einfluss von Ranking und Linking sowie des unterbewerteten Selbst auf Ihr Leben zu verstehen. Legen Sie sich für diesen Zweck ein Notizbuch zu, in dem Sie alle Ihre Antworten notieren und später nachschlagen können. Die erste Übung besteht darin, zwei Listen zu erstellen: eine von den Personen, in deren Gegenwart Sie sich üblicherweise wohlfühlen, und eine zweite von Menschen, bei denen eher das Gegenteil der Fall ist. (Sie können eine Person auch auf beide Listen schreiben.) Lassen Sie ausreichend Platz zwischen den Namen, denn Sie werden sich später dazu Notizen machen.
Zu allen Menschen, in deren Gegenwart Sie sich gut fühlen, haben Sie eine Verbindung – das kann sich auf ein freundliches Hallo oder einen gelegentlichen Telefonanruf beschränken, es kann sich aber auch um eine wichtige Liebesbeziehung handeln. Fast all jene, in deren Gegenwart Sie sich unwohl fühlen, scheinen Sie zu bewerten – das reicht von dem vagen Gefühl, beurteilt zu werden, bis zu einem eindeutigen kompromisslosen Wettbewerb, bei dem sich offensichtlich entscheiden soll, wer der bessere Mensch ist. In bindenden Beziehungen entwickeln wir positive Gefühle uns selbst und anderen gegenüber. In Beziehungen, in denen es hauptsächlich um Rangordnung geht, sorgen wir uns oft um unseren eigenen Wert und sind deutlich unglücklicher. Ihre Listen geben Ihnen Aufschluss darüber, wie stark Ranking bei Ihnen mit Unglückseligkeit verbunden werden kann.
Der Tanz von Linking und Ranking
Ranking bezieht sich auf unseren Platz in einer sozialen Gruppe oder auf Hierarchie. Macht ist insoweit mit Ranking verbunden, dass sie von höheren Rängen ausgeht. Macht kann in abgemilderter Form als Einfluss auf andere gesehen werden, der in vielen Facetten auftreten kann, unter anderem auch durch Respekt, der mir von anderen gezollt wird.
Linking ist unser angeborenes Gegengewicht zum Ranking. Wir fühlen uns von anderen angezogen, genießen ihre Gesellschaft, wollen sie besser kennenlernen und ihnen helfen, soweit wir können. Liebe ist schlicht die erweiterte Form von Linking.
Wir versuchen ständig, das richtige Gleichgewicht zwischen Linking und Ranking zu finden: anderen mit Freundlichkeit und Interesse zu begegnen und beides selbst zu erfahren auf der einen und das Bemühen, Respekt zu erlangen, auf der anderen Seite – durch unseren Einfluss, unsere Kompetenz, unseren Geschäftsverstand, unseren guten Ruf, unser Vermögen oder durch gute Freunde und Verbündete. Andere streben eine bessere Position an durch ihr Äußeres, ihre Besitztümer oder die Mitgliedschaft in einer angesehenen Gruppe. Oft haben wir jedoch das Gefühl, dass die Balance nicht stimmt – bei uns selbst oder bei anderen –, und gewöhnlich scheint es an übermäßigem Ranking zu liegen. In manchen Situationen denken wir ständig an unseren Status oder es wird von uns erwartet, dass wir ihn genau einschätzen können. Bei anderen Gelegenheiten denken wir nicht bewusst darüber nach. In manchen Momenten würden wir gern glauben, dass uns niemand beurteilt. Aber in jeder Gruppe von zwei oder mehr Personen geht es immer um Ranking, wenn auch nur hintergründig. Die Balance zu finden und sich nicht von den Umständen lenken zu lassen erfordert jedoch bewusstes Bemühen.
Selbst ohne bewussten Vorsatz versuchen wir meistens, möglichen Unannehmlichkeiten von Ranking entgegenzuwirken, indem wir von unserem Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit Gebrauch machen. So bemühen wir uns zum Beispiel bei Wettkämpfen, fair zu bleiben und die Regeln zu beachten. Im Geschäftsleben halten wir uns an Verträge und pflegen einen freundlichen Umgang miteinander.
Auch bei Freundschaften müssen wir uns mit Ranking auseinandersetzen. Wir wissen, wer mehr Geld hat oder einen angeseheneren Job. Aber statt zu vergleichen, teilen wir hier lieber. Wir teilen uns die Rechnung, anstatt genau auszurechnen, wer was bestellt...