Einleitung
Das falsche Gespenst
Im Jahr 2013 habe ich das falsche Gespenst bekämpft.
In jenem Jahr veröffentlichte ich ein Buch, in dem ich die Leser dazu drängte, loszulegen. Ich forderte sie auf, endlich vom Sofa aufzustehen. Ich ermunterte sie, ein Unternehmen zu gründen. Ich ermutigte sie, mit einer Diät anzufangen oder ein Buch zu schreiben oder eine Million anderer Ziele zu verfolgen, von denen sie schon jahrelang geträumt hatten.
Ich dachte, das größte Problem für die Menschen sei die Angst, die sie davon abhält, einfach loszulegen. Wenn ich diese Menschen über die Startlinie schubsen könnte, würde der Rest wie von selbst laufen. Angst war in meinen Augen das Gespenst, das sie zurückhielt, und loszulegen schien mir der einzige Weg, um es zu besiegen.
Ich lag zur Hälfte richtig.
Das Anfangen spielt eine Rolle. Das Anfangen ist wichtig. Die ersten paar Schritte sind von Bedeutung, aber sie sind nicht das Wichtigste.
Wissen Sie, was noch wichtiger ist? Wissen Sie, was den Anfang wie einen Klacks und beinahe bedeutungslos aussehen lässt?
Es auch zu Ende zu bringen.
Jahr für Jahr haben mich Leser bei Veranstaltungen beiseitegenommen und gesagt: »Mit dem Anfangen hatte ich nie ein Problem. Ich habe eine Million Sachen angefangen, sie aber nie zu Ende gebracht. Wie kann ich etwas zu Ende bringen?«
Darauf hatte ich keine Antwort, aber ich brauchte eine, auch in meinem eigenen Leben.
Ein paar Dinge habe ich zu Ende gebracht. Ich bin Halbmarathons gelaufen, habe sechs Bücher geschrieben und ich habe mich heute ordentlich angezogen, aber das sind die Ausnahmen in meinem Leben voller nur zur Hälfte erledigter Dinge.
Ich habe nur 10 Prozent der in meinem Besitz befindlichen Bücher ausgelesen. Ich brauchte drei Jahre für das sechstägige P90X-Home-Exercise-Progamm. Mit 23 Jahren habe ich es immerhin bis zum blauen Gürtel in Karate geschafft, etwa 26 Stufen unter meinem eigentlichen Ziel des schwarzen Gürtels. In meinem Büro habe ich genau 32 angefangene Moleskine-Notizbücher, und in meinem Badezimmer stehen 19 angebrochene Lippenpflegestifte. Ein Finanzberater würde vermutlich verrückt werden angesichts des Kostenfaktors »Lippenpflege« in meinem persönlichen Budget.
Meine Garage ähnelt einem Mausoleum. Dort findet sich das Teleskop (fünfmal benutzt), die Angel (dreimal benutzt) und das Snowboard mit der Saisonkarte für ein Skigebiet, das gleich in der Nähe liegt (nie benutzt). Und wer könnte das Moped vergessen, das ich vor drei Jahren gekauft habe und mit dem ich sage und schreibe dreieinhalb Kilometer gefahren bin? Ich habe es nicht einmal angemeldet und versichert. Ich lebe jenseits der Normalität. Der Normalität, etwas zu Ende zu bringen.
Wenigstens stehe ich mit meinem Problem, etwas bis zum Ende durchzuziehen, nicht alleine da.
Laut Studien werden 92 Prozent der Neujahrsvorsätze nicht umgesetzt. Jeden Januar starten Menschen voller Hoffnung und mit viel Tamtam und glauben, dass dieses Neujahr jenes ist, das auch ein neues Ich hervorbringt.
Aber obwohl 100 Prozent anfangen, gelangen nur 8 Prozent ans Ziel. Statistisch gesehen ist Ihre Chance ebenso groß wie die, an der New Yorker Juilliard School einen Platz im Studienfach Klassischer Tanz zu bekommen. Diese Chance liegt ebenfalls bei 8 Prozent, nur dass ihr es wisst, ihr lieben kleinen Ballerinen.
Ich dachte, mein Problem sei, dass ich mich nicht genug anstrenge. Genau das sagen mir nämlich sämtliche Online-Gurus mit ihren strahlend weißen Zähnen. »Du musst dich ins Zeug legen! Du musst dich abrackern! Schlafen kannst du, wenn du tot bist!«
Vielleicht war ich einfach nur faul.
Schließlich fand ich heraus, dass ich einen gefährlich niedrigen GRIT-Wert hatte. Das erfuhr ich, als ich mich Angela Duckworths hervorragendem GRIT-Test unterzog. Mein Wert war so niedrig, dass er nicht einmal angegeben wurde. Eigentlich hätte man Bonuspunkte dafür bekommen müssen, dass man den Test überhaupt fertig machte – was ich überraschenderweise schaffte.
1Ich begann, morgens früher aufzustehen. Ich trank so viele Energydrinks, dass es ein Pferd umgehauen hätte. Ich engagierte einen Life-Coach und aß mehr Superfood.
Nichts half, obwohl mein Augenlid von dem vielen Koffeinkonsum wie irre zuckte. Es war, als würde mein Auge jemandem zuzwinkern – und zwar wahnsinnig schnell.
Während ich mich ordentlich ins Zeug legte und nach den Sternen griff wie Abe Lincoln, erfand ich eine 30-tägige Online-Challenge. Sie nannte sich »30 Days of Hustle Challenge« (zu Deutsch: 30 Tage Hetze) und bestand aus einem Videokurs, der Tausenden von Menschen dabei helfen sollte, ihre Ziele zu erreichen.
2Was dann passierte, lässt sich bestenfalls als Zufall bezeichnen. In Büchern wie diesem sollte man so etwas nicht zugeben. Wenn du Selbsthilfe-Bibeln verfasst, ist die Versuchung groß, deine eigene Geschichte als Beweis dafür anzuführen, dass du qualifiziert bist, jemand anderem bei der Gestaltung seiner Zukunft zu helfen.
Die Führungskraft, die in den Erfolg gestolpert ist, blickt im Nachhinein zurück und erfindet zehn Schritte, die ihn oder sie dorthin gebracht haben, und dann schreibt er oder sie ein Buch mit dem Titel So erreichst du dein Ziel. Ich habe ganz ehrlich nicht geplant, was ich Ihnen hier sagen will. Im Gegenteil, ich war genauso überrascht, wie Sie es sein werden, und bin einfach nur begeistert, dass es wirklich funktioniert hat.
Im Frühjahr 2016 trat ein Forscher namens Mike Peasley von der University of Memphis mit einem Vorschlag an mich heran.
Er wollte Menschen beim Durchführen meiner »30 Days of Hustle Challenge« beobachten, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht. Er schrieb gerade an seiner Doktorarbeit und wollte die Ergebnisse seiner Studie veröffentlichen. In den darauffolgenden Monaten befragte er mehr als 850 Teilnehmer, um eine solide Basis realer Daten zu schaffen.
Das war eine neue Erfahrung für mich, denn bis dahin galt für mich die wunderbare Prämisse von 2003: »Denk dir aus, was immer du willst, um es ohne Fakten als Grundlage im Internet zu verbreiten.«
Was Mike herausfand, veränderte meine Einstellung radikal, was das Thema »etwas zu Ende bringen« betrifft, aber auch meine Arbeit an diesem Buch und sogar mein Leben.
Mike fand heraus, dass bei Menschen, die an der Challenge teilgenommen hatten, die Wahrscheinlichkeit, ein Ziel zu erreichen, im Vergleich zu vorher um 27 Prozent angestiegen war. Das war ermutigend, aber nicht wirklich überraschend. Wenn man 30 Tage lang kontinuierlich an etwas arbeitet, liegt es nahe, dass man besser darin wird.
Überraschend war für mich jedoch etwas, das uns allen auffallen sollte: Die Übungen, die den Teilnehmern deutliche Fortschritte brachten, waren jene, die den Druck reduzierten, jene, die den lähmenden Perfektionismus aufhoben, der die Menschen dazu bringt, ihre Ziele aufzugeben. Ob sie nun versuchten, um eine Kleidergröße abzunehmen, mehr in einem Blog zu veröffentlichen oder eine Gehaltserhöhung zu bekommen, das Ergebnis war immer dasselbe. Je weniger die Menschen das Perfekte anstrebten, desto produktiver wurden sie.
Es zeigte sich, dass die Antwort nicht darin liegt, sich mehr anzustrengen.
Sich abzurackern ist nicht die Lösung.
Aus Menschen, die ständig etwas Neues anfangen, können Menschen werden, die die Dinge konsequent fertigstellen.
Wir können etwas zu Ende bringen.
Geben Sie es zu, Sie dachten, dieses Buch sei so etwas wie eine Red-Bull-Anzeige. Ich würde Ihnen ein paar Tipps geben, Sie motivieren, Ihnen die schnellsten Abkürzungen und die besten Tricks zeigen und Ihnen helfen, immer mehr zu schaffen!
Und wie soll das funktionieren? Macht es irgendetwas besser, wenn man sich noch mehr anstrengt? Macht es Ihr Leben lebenswerter, wenn Sie noch mehr tun? Haben Ihnen die ganzen Tipps für mehr Produktivität, das ganze Zeitmanagement-Gerede auch nur irgendwie geholfen?
Das haben sie nicht und das werden sie auch nicht.
Wenn Sie etwas zu Ende bringen wollen, müssen Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun, Ihren Perfektionsdrang von Anfang an loszuwerden. Sie müssen Spaß haben, Ihr Ziel halbieren, sich aussuchen, welches Ziel Sie angehen wollen, und ein paar weitere Dinge tun, mit denen Sie erst einmal nicht rechnen.
Ich war selbst total überrascht darüber, was ich bei meinen Recherchen herausfand: Die Methoden, wie man etwas wirklich zu Ende bringt, sind derart entgegen jeder Intuition, dass sie sich oft wie eine Abkürzung anfühlen. Sie werden das Gefühl haben, zu schummeln, oder dass das, was Sie tun, »nicht zählt«.
Bekommen Sie ein schlechtes Gewissen bei dem Wort »Abkürzung«? Erinnern Sie sich an den Coach, den Vorgesetzten oder Elternteil, der Ihnen sagte: »Im Leben gibt es keine Abkürzungen«?
Fein, dann versprechen Sie mir erst einmal, dass Sie aufhören, Google zu benutzen. Das nächste Mal, wenn Sie etwas wissen müssen, schreiben Sie der Kongressbibliothek einen Brief. Auf Papier. Mit einer Briefmarke, die Sie mit der Zunge anlecken müssen. Selbstklebende Briefmarken sind nämlich eine Abkürzung.
Im Wesentlichen ist es das, was die Gebrüder Wright tun mussten, als sie einen Ort suchten, wo sie ihre Flugzeuge testen konnten. Sie schrieben an den nationalen Wetterdienst in Washington, D.C., und fragten, wo im Land der Wind am stärksten ist. Ein Bürokrat recherchierte ein bisschen, stellte Berichte zusammen und schrieb den Brüdern dann zurück. Nachdem sie die Daten...