EIN BUB VOM LAND
WIRD DICHTER
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1948–1978
Mütter und Väter
Meine Mutter Adelheid Marksteiner wurde am 17. Juli 1911 im Unterinntaler Bergdorf Brandenberg als Bauerntochter geboren. Sie kam später als Landarbeiterin nach Achenkirch und brachte 1940 das erste Kind zur Welt. 1942 heiratete sie den verwitweten Kleinbauern Karl Lamprecht, der zwei Kinder mit in die Ehe brachte. 1943 und 1944 gebar sie je eine Tochter. Karl Lamprecht starb im August 1945 in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft.
Adelheid war sehr schön und vielbegehrt. Am 6. Februar 1948 kam ich infolgedessen zur Welt. Zur Auswahl standen drei Väter. Einer wollte es unbedingt sein, und so ließ ihm Adelheid den Willen. Zusammenleben tat sie aber bald einmal (und bis zu seinem Tod) mit einem Johann Prem, von dem sie im Laufe der Zeit noch sechs Kinder empfing, vier kamen lebend zur Welt; als das letzte kam, war sie 45 Jahre alt.
Felix Mitterers Mutter Adelheid Marksteiner im Jahr 1937
Eine Zwillingsschwester hätte ich gehabt, die starb aber bei der Geburt. Anwesend neben der Hebamme war eine Landarbeiterin namens Juliane Mitterer, geborene Schneeberger, die beste Freundin von Adelheid, zu dieser Zeit in Achenkirch bei einem Bauern beschäftigt. Es war abgemacht, dass sie mich bekommt. Irgendwann stand fest, dass es Zwillinge werden, auch für das zweite Kind war dann schon ein Platz gefunden. Heißen sollten wir Adam und Eva, hatte meine Mutter beschlossen. Eva lebte aber jetzt nicht mehr, was zu langwierigen Überlegungen betreffs meines Namens führte, denn Adam ging ja nun wohl nicht mehr. Die Freundin Julie band meiner verstorbenen Schwester eine rote Masche in die schwarzen Locken, packte sie in einen Schuhkarton und stellte sich damit beim Lebensmittelgeschäft an. Alle bewunderten das schöne tote Kind im Schuhkarton. Es wurde dann angeblich vom Totengräber in den Sarg eines verstorbenen Erwachsenen geschmuggelt, weil ihm als ungetauftem Menschenkind kein christliches Begräbnis in geweihter Erde zustand. (Später tagträumte ich oft, meine Schwester und ich würden uns zufällig im Zug treffen, würden uns ineinander verlieben und heiraten, würden draufkommen, dass wir Geschwister sind, und dennoch zusammenbleiben.)
Geboren wurde Julie am 20. Juni 1917 in Schwendau im Zillertal, ihre Eltern waren Kleinhäusler, der Vater starb früh. Mit neun Jahren kam sie bereits als Landarbeiterin zu einem Bergbauern. Einmal
– sie war mondsüchtig – ging sie in einer Winternacht barfuß im Nachthemd durch den Schnee nach Hause, ins Tal. Bei Vollmond nagelte man in Zukunft die Fensterbalken zu. Einmal prügelte sie einen Mitschüler blutig, weil er sie wegen ihrer roten Haare ständig aufzog. Oftmals musste die sture kleine Julie die Hände ausstrecken, und die unterrichtende Klosterschwester schlug mit dem Stock zu. Da rieb Julie ihre Hände eines Tages mit Salz ein, worauf sie unförmig anschwollen. Der Schuldirektor sah es, die Klosterschwester kam weg.
Anfang der 1930er Jahre, im Sommer auf der Alm, wollten sie zwei hungrige Arbeitslose überfallen, hatten es auf die Käselaibe abgesehen. Durch die geschlossene Hüttentür schoss sie mehrmals mit einer Pistole, einen der Räuber traf es ins Bein, sie verzogen sich jammernd. In diesen schlimmen 30er Jahren, als die Not sehr groß war und keine Arbeit, da geschah es auch, dass die junge Julie Sozialistin wurde und es bis zu ihrem Lebensende blieb. Das kam daher, dass die Mutter mit ihren Kindern ins Gemeindeamt ging und dem Bürgermeister ihre Not klagte; sie und ihre Kinder seien am Verhungern. Da sagte der Bürgermeister: »Geh in’ Wald und tu dir a Pech zamm, des brutzelt a schön in der Pfannen.« Meine Adoptivmutter konnte das nie vergessen, hat es mir oft erzählt.
Als Julie mit 18 schwanger wurde, band sie ihren Leib derart ab, dass die Mutter bis kurz vor der Geburt nichts merkte. Dann aber wurde sie von der Mutter gezwungen, den Kindsvater zu heiraten. Das Kind war von Geburt an in einem schlechten Zustand und starb im zweiten Lebensjahr. Der Mann schlug seine Frau ständig, stieß sie während der Schwangerschaft die Stiege hinunter, das zweite Kind starb, dann eine Bauchhöhlenschwangerschaft, Operation, sie kann nie mehr Kinder bekommen. In der NS-Zeit wurde sie von ihrem Mann geschieden, weil er »asozial und lungenkrank« war.
1947 heiratete Julie in Achenkirch den Landarbeiter Michael Mitterer, der zu dieser Zeit am bischöflichen Gut als Rossknecht beschäftigt war. Er stammte aus Kitzbühel, geboren 1895, Sohn einer Tiroler Landarbeiterin und eines italienischen Hausierers, als Ziehkind – behandelt wie ein leiblicher Sohn – beim »Exenwoader«-Bauern in Kitzbühel aufgewachsen. Er war ein fescher Mann, ein richtiger Paradetiroler, sah viel jünger aus, als er war, galt in seiner Jugend als der beste Glockenläuter in der Pfarrkirche von Kitzbühel, war von 1904 bis zu seinem Tod 1976 Mitglied der Blasmusikkapelle, wurde von den Fremdengästen sehr gerne in seiner schönen Tracht fotografiert, verachtete die »Tschinggeler« (die Italiener), kämpfte im Ersten Weltkrieg gegen sie, vielleicht auch gegen seinen Vater.
Michael wünschte sich sehnlich Kinder, aber Julie konnte keine mehr bekommen. Da die »Kriegerwitwe« Adelheid einfach nicht noch mehr Mäuler durchzufüttern in der Lage war, wurde ich also an das Mitterer-Ehepaar verschenkt, so hatten beide Teile etwas davon. (Trotzdem hat Michael der Julie nie verziehen, dass sie keine eigenen Kinder bekommen konnte, hat ihr nie zum Muttertag gratuliert, was sie schmerzte.) Mit meinen Zieheltern kam ich – wahrscheinlich Ende 1948 – in die Gegend von Kitzbühel und Kirchberg, wo wir im Laufe der Jahre von einem Bauernhof zum anderen zogen. Der häufige Wechsel kam daher, dass meine rabiate Mutter sich oft mit dem Bauern oder mit der Bäuerin zerstritt und dann den Dienst wechselte; mein Dati trottete notgedrungen hinterher. Es gab dann aber auch wieder Versöhnung und Rückholung, denn meiner Mutter tat ihr Aufbrausen leid und die Bauern wollten auf die tüchtige Frau, die so gut mit den Tieren umgehen konnte, nicht verzichten. Meistens arbeiteten meine Zieheltern am Pöllhof im Weiler Gundhabing, gelegen zwischen Kitzbühel und Kirchberg, wechselten dann bei allfälligem Streit über die Straße zum benachbarten Neuhauser-Bauer, zerstritten sich mit dem auch wieder und kehrten reumütig zum Pöllhof zurück.
Felix an der Hand seiner Adoptivmutter Juliane Mitterer bei einer Prozession, 1951
Übrigens sah (und sieht) dieser Hof nicht wie ein typischer Unterinntaler Bauernhof aus und war ursprünglich auch nicht als solcher gedacht. Seit 1858 bestand eine Bahnlinie, die den Osten Österreichs mit Tirol verband, führte aber von Salzburg über das bayerische Rosenheim nach Wörgl. Auf Grund von Spannungen mit Bayern wurde 1873 die Tiroler Bahn von Salzburg über Sankt Johann im Pongau und Kitzbühel nach Wörgl gebaut. Da die Kitzbüheler Bürger (wohl in erster Linie die Frächter) in Kitzbühel keinen Bahnhof erlauben wollten, plante man einen solchen in Gundhabing. Ein Spekulant errichtete dort daher ein riesiges, dreistöckiges Steingebäude, das als Hotel dienen sollte. Schlussendlich wurde der Bahnhof aber doch in Kitzbühel gebaut, und das Gebäude in Gundhabing hatte als Hotel keinen Sinn mehr. Ein Großbauer erwarb es ziemlich günstig, baute hinten einfach einen ebenso riesigen Stall und darüber die Tenne an, und fertig war der Superbauernhof. Seit ein paar Jahren wird es jetzt als nobles Appartementhaus für Touristen betrieben, wurde also doch 140 Jahre später seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt, nun auch mit einem Golfplatz. Zu meiner Kindheit aber war es der wohl größte Bauernhof und landwirtschaftliche Betrieb Tirols.
Die Mutter diente dort als Stalldirn, betreute mit anderen Knechten und Mägden an die siebzig Kühe und viele Kälber, der Vater diente als Rossknecht, was das Pflügen, Eggen und Ansäen des Getreides sowie auch seine Ernte mit einschloss, ebenso die Mithilfe bei der Heuarbeit im Sommer. Im Winter schlägerte mein Dati, wie ich ihn nannte, mit anderen Knechten riesige Bäume im Wald oben, entastete und entrindete sie, brachte sie dann auf einem Schlitten in rasender Fahrt zu Tal, dass der Schnee nur so staubte. Als Bremsen dienten Steigeisen an den Schuhen und zwei links und rechts eingehängte Sapine, die mit den Händen betätigt wurden. Ich bewunderte meinen Dati sehr für diese lebensgefährliche Arbeit, die er so bravourös meisterte.
Der Mann, der unbedingt mein Vater sein wollte, zahlte brav die Alimente. Als er merkte, dass Adelheid wirklich nichts mehr von ihm wissen wollte, trug er sich mit dem Gedanken, ins Wasser zu gehen, suchte sich aber dann doch stattdessen eine andere Freundin. Diese forderte ihn bald auf, eine Blutuntersuchung der möglichen Väter zu beantragen, weil es sie ärgerte, dass er Alimente zahlen musste, wo man doch wisse, wie es die Adelheid treibe. Das Gericht untersuchte das Blut der möglichen drei Väter und auch meines; keiner der drei Männer kam in Frage. Daraufhin stellte der Wunschvater seine Zahlungen ein,...