Meine Karriere als Hobbygärtnerin habe ich auf einem Balkon begonnen – mit Tomaten. Die Anfänge waren frustrierend: Die einzige Tomate am Strauch stürzte sich am Tag vor der geplanten Ernte zum Sonntagsfrühstück vier Stockwerke in die Tiefe.
Damit, dass Tomaten suizidale Tendenzen haben könnten, hatte ich nicht gerechnet und war – nach monatelanger Pflege – schwer enttäuscht.
Aufgeben ist nicht so mein Ding und so habe ich neu begonnen. Jetzt habe ich den ein Meter breiten Streifen zwischen der Uferbefestigung und einem Zaun mit Tomaten verschiedener Sorten bepflanzt. Dort gedeihen sie prächtig. Ich habe schon Dutzende geerntet und meist direkt am Strauch verzehrt. Ein Hochgenuss.
Was mich erstaunt, ist, wie rasant sie wachsen. Einige sind bereits zwei Meter hoch! Damit das Wasser, das ich mühsam mit Eimern herantrage, bei den Früchten landet, entferne ich fast täglich überschüssigen Blattwuchs. Ich bin erstaunt, wie viel und wie schnell die Pflanzen wuchern. Wie machen die das? Sie wachsen einfach zum Licht hin.
Manche Menschen klagen, dass sie keine klare Vision für ihr Leben haben. Dabei ist es gar nicht so schwer, eine eigene Sicht zu entwickeln. Wie bei Tomaten beginnt auch beim Menschen die Entwicklung seines in ihm liegenden Potenzials mit dem Sehen. Vision ist nichts anderes als das lateinische Wort für „sehen“.
Es steckt etwas in ihnen – ihre Genetik –, die vor allem durch das Licht geweckt wird. Sie bemühen sich nicht darum, etwas anderes zu sein. Auf dem Weg zum Supermarkt wächst auf einem Baugrundstück eine Tomate und Wein. Sie sind verschieden, stützen sich aber gegenseitig und wurden beide vom Licht zum Leben erweckt.
ZWEI GEHEIMNISSE DES SEHENS
Im Grunde ist das Entwickeln einer Vision nicht so schwer, wie viele denken. Im Kern geht es nicht darum, etwas zu tun, sondern das, was in uns steckt, durch die Begegnung mit dem Licht zum Leben erwachen zu lassen. Zwei Dinge finde ich hierbei hilfreich.
Störende Lichtquellen ausschalten
Heinz, der Hahn meiner Nachbarn, kräht zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten. Das liegt meiner Ansicht nach daran, dass er nachts vom Flutlicht der Sicherungsanlage beleuchtet wird und dadurch seine innere Zeitschaltuhr einen Defekt erlitten hat.
Ähnlich geht es Menschen, die viel auf das künstliche Licht verlockender Angebote blicken – das irritiert die Aufnahme des echten Lichts. Das können Werbebotschaften oder auch Vorstellungen anderer Menschen aus Familie und Freundeskreis sein, die alle ihre Ideen haben, was man sein und tun sollte.
Um das Eigene zu spüren, kann es hilfreich sein, eine Weile Inspiration von außen durch Medien und andere Menschen bewusst zu reduzieren.
Spüren: Wo hat Licht mich erreicht?
Um innere Sensibilität für das, was einem entspricht, zu stärken, kann das Examen hilfreich sein. Das ist eine von Ignatius von Loyola entwickelte Praxis der Selbstprüfung. Ich mag am liebsten die Form, sich am Abend zu fragen: Wann war ich heute am meisten lebendig und ich selbst? Wann war ich am wenigsten lebendig/ich selbst?
Wer das eine Weile lang praktiziert und eventuell sogar die Ergebnisse notiert, entdeckt: Das entspricht mir, jenes nicht. Das laugt mich aus, jenes beglückt mich. Ich habe beispielsweise gemerkt, wie sehr Vögelbeobachten mich stärkt. Daraus kann man dann Schlüsse ziehen, wofür man sich mehr öffnen und was man im Leben fördern möchte.
| NUR SO ’NE FRAGE Was weckt deine innere Lebendigkeit? Was ruft dich zum Leben? |
| NUR SO ’NE IDEE Praktiziere eine Weile lang das Examen – ich empfehle einen Zeitraum von vier Wochen oder mehr. Frage dich täglich, am besten abends: |
| BUCHTIPP Tobias Zimmermann: Ignatius von Loyola. Einer, der Gott in allen Dingen fand, Down to Earth, 2016 Dieses Impulsheft erzählt die spannende Geschichte eines Ritters, der entdeckt, was ihn zutiefst lebendig macht. Es erläutert auch seine Prinzipien und Vorgehensweisen. |
Eng mit Vision ist auch das Thema Berufung verknüpft. Es gibt kaum eine Frage, die ich im Coaching oder bei Seminaren häufiger gestellt bekomme als: „Wie finde ich meine Berufung?“ Und kaum etwas, was ich darauf lieber sage als: „Du lebst sie schon!“
Das meine ich ernst. Unter Berufung verstehen viele Menschen eine Art inneres Erkennen: „Genau das ist meine Lebensaufgabe!“ Diese Vorstellung ist gestützt von den Geschichten von Menschen, die ein spirituelles Berufungserlebnis zu einer bestimmten Aufgabe hatten. Oder von anderen, die plötzlich wussten: „Dafür bin ich auf der Welt.“
Verbunden mit der Sehnsucht nach der Berufung ist die Erwartung, dass dann das Leben klarer und erfüllender ist. Viele denken, dass man, wenn man die eigene Berufung gefunden hat, gar nicht anders kann, als dauernd zufrieden und glücklich zu sein.
Man kann. Es stimmt: Klar einen Auftrag zu finden oder zu wählen, dem man folgen will, trägt zur Zufriedenheit im Leben bei. Doch selbst Menschen, wie der Urwalddoktor Albert Schweitzer, die um eine klare Berufung wussten, waren nicht dauerhaft glücklich.
Jeder – egal, ob mit klar definierter Berufung oder nicht – hat mit Schwierigkeiten und Herausforderungen durch Krisen, Mitmenschen und die eigenen Schwächen zu kämpfen. Deshalb halte ich es für eine Illusion, zu glauben, das Wissen um eine Berufung würde das Leben fast automatisch glücklicher machen.
Ich denke, dass es entlastend ist, erst einmal zu erkennen: Der Kern jeder Berufung liegt nicht im Außen, sondern in uns. Wir können nichts anderes tun als das, wozu wir fähig sind, weil wir sind, wer und wie wir sind. Wer existiert, ist berufen – zu sein, wer er ist.
BERUFUNG NICHT FINDEN, SONDERN WÄHLEN
Die Vorstellung, man muss irgendwo – womöglich noch durch ein besonderes Erlebnis – die eigene Berufung finden, löst bei vielen Druck aus. Deshalb spreche ich lieber davon, Berufung zu wählen. So ähnlich wie man ein Kleidungsstück wählt, das zu einem passt.
Mich fasziniert, wie in der Bibel Berufung mit vier zentralen Aspekten beschrieben wird.
Berufung zum Sein
„Geschaffen nach dem Bild Gottes“ – wer existiert, ist berufen zum Sein.
Berufung zur Beziehung
Der Mensch ist berufen, in Verbindung zu leben – mit Gott und Mitmenschen.
Berufen, Gaben und Talente einzusetzen
In dieser Welt sollen wir unsere Fähigkeiten zum Wohl aller einsetzen.
Berufen zu konkreten Aufträgen
Die ganz speziellen Aufträge und Rollen, die manchen Menschen gegeben werden.
Jeder Mensch ist etwas Einzigartiges. Wenn er das zum Ausdruck bringt, erlebt er Lebendigkeit. Mein sprudeliges Ich spiegelt etwas anderes von Gott wider als die stillere, kunstfertige Moni, Illustratorin dieses Buches. Wer existiert und gemäß seinem Wesen und seiner Fähigkeiten handelt, lebt in seiner Berufung – auch ohne spezielle Aufträge.
Berufung ist immer eine Wahl – und manchmal auch eine Erwählung
Berufung ist in den meisten Fällen kein Punkt, sondern eher ein Feld, das man im Rahmen seiner Möglichkeiten wählen und gestalten kann. Ein Berufungserlebnis ist nicht zwingend erforderlich. Wohl aber eine klare Wahl: „Ja, das bin und lebe ich!“