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1. INTROVERTIERTES (CHRIST-)SEIN
Der besondere Fokus dieses Buches liegt auf introvertierten Christen. Das sind introvertierte Menschen wie andere auch. Der Unterschied liegt in der christlichen Glaubensausrichtung und dem christlichen Kontext, in dem sich viele introvertierte Christen bewegen. Genau dies führt zu besonderen Herausforderungen, da der christliche Kontext und damit verbundene Verhaltensregeln und Werte (von wem auch immer aufgestellt) der introvertierten Art in mancherlei Hinsicht zu widersprechen scheinen.
Da introvertiertes Christsein jedoch ganz ursächlich introvertiertes Sein ist, möchte ich in diesem Grundsatzkapitel zunächst einen Blick auf die Frage werfen, was »introvertiert« denn eigentlich bedeutet. Dies zu klären, ist grundlegend und soll dabei helfen, Missverständnissen und Vorurteilen gegenüber Introvertierten vorzubeugen. Klärung schaffen soll auch die Frage, wie sich »introvertiert« zu »hochsensibel« verhält. Es hängt in vielen Fällen eng zusammen und ist doch klar zu trennen. Und falls sich Ihnen beim Lesen mehr und mehr die Frage aufdrängt, ob vielleicht auch Sie oder jemand, der Ihnen nahesteht, zu den introvertierten Christen gehören, habe ich am Ende dieses Kapitels einen Test für Sie vorbereitet, der Ihnen dabei helfen soll, einer entsprechenden Antwort näherzukommen.
Vor einigen Jahren bin ich auf ein Kunstwerk gestoßen, das bis heute in mir nachklingt. Es bringt treffend auf den Punkt, inwiefern sich Introversion und Extroversion19 unterscheiden. Auf dem Bild sieht man zwei identisch angezogene schlanke Frauen in einem langen grauen Rock, die einander in einem gefühlten Abstand von rund zwei Metern gegenüberstehen. Sie würden sich direkt ins Gesicht schauen, wäre da nicht die Tatsache, dass der Körper beim Hals aufhört, weil bei beiden der Kopf fehlt. Anstelle des Kopfes ist im Hintergrund der beiden Frauen an der Wand jeweils ein Bild aufgehängt, das ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringt und zeigt, was in ihrem Kopf vorgeht.
Das linke Bild, das zur introvertierten Gestalt gehört, zeigt den Eingang eines Stollens, der in das Innere eines Berges gehauen ist. Vorne ist der Eingang noch relativ breit und durch künstliches Licht gut beleuchtet. Das Bild besteht aus kühlen dunkelroten, grauen und schwarzen Bildfarben und versetzt den Betrachter in ein mit Schwere behaftetes Tunnelerlebnis. Dort, wo bei der Frau der Hals ansetzen würde, ragt eine Schiene aus dem Halsansatz. Diese führt schnurgerade ins Berginnere. Je weiter sich die Schiene vom Rumpf entfernt, desto schmaler wird sie und desto dunkler, grauer, eintöniger und kleiner wird der in den Felsen gehauene Tunnelgang. Dieser wird schließlich zusammen mit der Schiene von der Finsternis in einem kleinen schwarzen Punkt in weiter Ferne verschluckt.
Das rechte Bild, das zur extrovertierten Frau gehört, ist völlig anders. Es steht auf dem Kopf und zeigt eine helle, sonnige Sommerlandschaft. Zwei breite Flüsse, die durch einen schmalen, mit Sträuchern bewaldeten Landstreifen getrennt sind, fließen von links nach rechts durch das Bild. Die beiden Gewässer bewegen sich entlang eines weit entfernten Landstriches, der von Wald, Feldern, braunorangen Hügeln und kleineren Straßenzügen durchzogen ist. Der Himmel ist sommerlich blau und von einigen Wolkenfeldern unterbrochen. Warme Bildfarben wechseln sich ab und vermitteln dem Betrachter hochsommerliche Gefühle. Blickfang des Bildes ist eine hellbraune, breite, zweispurige Verkehrsbrücke, die über die beiden Flüsse ans andere Ufer in Richtung Landesinnere führt. Doch ehe die Brücke das andere Ufer erreichen könnte, trifft sie auf den Rumpf der kopflosen Frau und verschwindet da, wo ihr Hals ansetzen würde.
Dieses Kunstwerk hilft uns dabei, drei grundsätzliche Dinge über die Wesensart introvertierter Menschen festzuhalten:
• Introvertierte sind nicht zwingend als solche zu erkennen! Introvertierte und Extrovertierte können – wie im Kunstwerk dargestellt – völlig identisch aussehen und wirken. Dies, obwohl sie innerlich ganz anders ticken.
• Der Unterschied liegt im Kopf. »Introvertiert« bezeichnet die Art und Weise, wie ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt und sein Leben innerlich bewältigt. Wörtlich bedeutet introvertiert »nach innen gewandt« und extrovertiert »nach außen gewandt«. Die Gemälde bringen es auf den Punkt: Während die Bewegung und Energie der Verarbeitung bei den Extrovertierten nach außen führt, fließt sie bei den Introvertierten bevorzugt nach innen. Extrovertierte Menschen nimmt man als gesellig, abenteuerlustig, risikofreudig wahr, Introvertierte hingegen als eher ruhig, zurückhaltend, in sich gekehrt.
• Introvertierte sind tiefgründige Denker. Wie es das Bild des Stollens zeigt, verarbeiten Introvertierte Erlebtes bevorzugt im Verborgenen, ganz für sich allein. Extrovertierte hingegen verarbeiten Dinge, indem sie sie nach außen tragen und sich mit anderen Menschen austauschen. Während Extrovertierte ihr Herz auf der Zunge tragen, halten sich Introvertierte mit ihren Gefühlen und Äußerungen oft zurück. Sie geben nur zögerlich Dinge von sich preis. Dies verleiht ihnen oft etwas Geheimnisvolles. Sie sind schwer einzuordnen und man weiß nicht so genau, was sie tief in ihrem Innersten wirklich denken.
Die drei Punkte, die sich aus dem beschriebenen Kunstwerk ableiten, möchte ich nun noch um einige zusätzliche Informationen ergänzen. Sie erscheinen mir wesentlich und grundlegend für das, was ich im weiteren Verlauf ausführen werde:
1. Introversion ist kein neues Thema. Die Begriffe Extroversion und Introversion wurden erstmals im Jahr 1921 von dem Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung geprägt. Mit Introversion beschrieb er das Verhalten jener Menschen, die ihre psychische Energie nach innen, weg von der Außenwelt, wandten. Bis heute gelten diese beiden Temperamente als wichtigste Aspekte der Persönlichkeitspsychologie. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass neben Intro- und Extroversion auch noch weitere Persönlichkeitsmerkmale das Verhalten eines Menschen beeinflussen. Jahrhundertelang war die vom griechischen Arzt Galen (129–199 n. Chr.) begründete Temperamentslehre weit verbreitet. Jener verband seine Lehre der vier Temperamente mit der Viersäftelehre, die Hippokrates (griech. Arzt, ca. 460–370 v. Chr.) zugeschrieben wird. Nach Galen gibt es vier Temperamentstypen: den Sanguiniker, den Phlegmatiker, den Choleriker und den Melancholiker. Im 20. Jahrhundert ergänzte der deutsche Psychologe Hans Jürgen Eysenck (1916–1997) jene Temperamentstypen durch zwei weitere Dimensionen: psychische Stabilität20 beziehungsweise Instabilität auf der einen und Introversion beziehungsweise Extroversion21 auf der anderen Seite. Eysencks Theorie der Persönlichkeitstypen ist aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht allgemein anerkannt. Offensichtlich reichen die zwei Achsen Extroversion und Stabilität nicht aus, um die gesamte Vielfalt persönlicher Eigenschaften zu beschreiben. In der Folgezeit definierten weitere Forscher bis zu hundert Faktoren. In der modernen Persönlichkeitspsychologie hat sich indessen das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (die sogenannten Big Five) etabliert. Laut dieser Theorie kann eine Persönlichkeit mithilfe der folgenden fünf Eigenschaftsskalen beschrieben werden: Extroversion, Stabilität, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit.
2. Introversion betrifft mehr Menschen, als viele vermuten. Weil Extrovertierte in unserer Gesellschaft durch ihr nach außen gerichtetes Verhalten von Natur aus mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, geht man davon aus, dass sie eine überragende Mehrheit darstellen. Dies wird von etlichen Wissenschaftlern stark infrage gestellt. Will man das konkrete Verhältnis von Introvertierten und Extrovertierten benennen, wird es diffus. Die Angaben unterscheiden sich von Autor zu Autor. Einige sprechen von einem Viertel Introvertierter im Vergleich zu den Extrovertierten, andere von einem Drittel, weitere von der Hälfte. Die Psychologin Laurie Helgoe brachte in ihrem Buch Introvert Power22 Licht ins Dunkel. In einem einführenden Unterkapitel mit dem Titel The Big Lie (»Die große Lüge«) empörte sie sich über die Behauptung, dass Introvertierte in der Minderheit seien, da jene höchstens ein Viertel oder ein Drittel der Bevölkerung ausmachten.23 Diese Zahlen seien zwar schnell und überall zu finden – nicht nur bei der Webrecherche, sondern auch in vielen Ratgebern. Doch als Laurie Helgoe diesen Angaben auf den Grund ging, stellte sie fest, dass die Zahlen auf Schätzungen um das Jahr 1957 zurückzuführen sind. Damals entwickelte Isabel Myers einen Test, mit dessen Hilfe die von Jung entwickelten psychologischen Typen systematisch erfasst werden sollen. Ebenjener Test, bekannt als Myer-Briggs-Typenindikator (MBTI), hat in der Zeit danach, also seit rund sechzig Jahren, auswertbare Daten generiert. Dasselbe gilt für Ergebnisse des Big-Five-Persönlichkeitstests, der seit den 1980er-Jahren in Gebrauch ist. Ergebnisse aus den Jahren 1998 und 2001 belegen, dass es leicht mehr Introvertierte (beiden Geschlechts) gab als Extrovertierte.24 Mir ist nicht bekannt, wie die aktuellen Zahlen lauten. Ebenso wenig, ob diese Zahlen stärker im amerikanischen Kontext zu verorten sind als im...