4. Juni 2014 Krankenversicherungsstrategie
Gestern begannen sie, die Medikamente zu reduzieren. Er lebt und die Hirnblutungen haben aufgehört. War sein Hämatom anfangs so groß wie ein mittlerer Apfel, so schrumpfte es durch die Drainage langsam auf die Größe einer Aprikose. Seine linke Körperhälfte ist mobilisiert, seine rechte Körperhälfte komplett gelähmt, er wird künstlich beatmet und ernährt. Mit seinem offenen linken Auge versuchte er mich mal zu fixieren, sein Blutdruck schwankte zwischen 100 und 200 und er wollte sich im Bett aufrichten. Gestern Nacht riss er sich den Beatmungsschlauch und die Kabel ab, weshalb die linke Hand festgebunden wurde, um ihn vor sich selber zu schützen.
Es tut mir so unglaublich weh, ihn so zu sehen.
Auf meine Frage, ob es in einem Fall wie seinem Erfahrungswerte über den erwartbaren Verlauf gäbe, kam die Antwort: „Das Gehirn ist immer noch ein Mysterium, es kann Tage aber auch Wochen dauern, bis er zumindest aus der Intensivphase raus ist.“ Wir können nur hoffen und warten, aber Jochen ist seelisch wie mental sehr stark, und: er kämpft um sein Leben.
Meine Familie weiß noch nichts, und ich rufe sie auch nicht an, bevor wir mehr Informationen haben. Ich kann sowieso mit niemandem reden, mir schnürt es sofort den Hals zu, wenn ich nur daran denke. Nele wartet, bis meine Mutter sich bei ihr meldet. Sie wird ihr dann die ‚leichte’ Version erzählen, also nicht, wie ernst es tatsächlich um Jochen steht.
Nur bei meinem Schatz habe ich noch Kontrolle über meine Stimme, und nur bei ihm plaudere ich noch fröhlich vom Land, den Tieren und wie fantastisch sich alle unsere Katzen und Hunde verhalten, wie toll das Obst und Gemüse wächst und tausendmal wie sehr ich ihn liebe und dass alles wieder gut wird.
Bisher war ich zu beiden Besuchszeiten anwesend und die Stunden dazwischen verbrachte ich lesend, spazierend oder auch mal draußen auf den Wartebänken vor mich hin dösend. Anschließend fuhr ich zu Nele, danach nach Hause und so kam ich frühestens um halb zehn heim. Dann fütterte ich die Hunde und Katzen, kochte das Hundefutter für den nächsten Tag und machte mir höchstens noch ein Rührei. Das war’s dann, mehr ging nicht.
Selber habe ich noch nicht die ganze Tragweite begriffen und was sich da noch alles verändern wird. Ich komme mir vor, als wenn ich alles automatisch mache und mir selbst dabei zu schaue, während ich noch völlig "neben der Spur laufe".
Nele hält mir den Rücken frei und schlägt sich in bissiger Kampfstimmung mit der Krankenversicherung rum. Jochen und ich sind rein ‚Krankenhaus-Versichert’. Diese Klinik ist kein Vertragskrankenhaus - außer bei akuten Notfällen. Der Notarzt entschied aber wegen akuter Lebensgefahr, dass Jochen in diese Neurochirurgie musste. Und die Universitätsklinik ist auf der ganzen Insel das einzige Krankenhaus mit Neurochirurgie und ihr Ruf ist weit über die Grenzen Spaniens hinaus bekannt und geachtet.
Der Tonfall unserer Versicherung war zu meinem Entsetzen sehr kaltschnäuzig und geradezu unverschämt. Ich verstehe das nicht und ich will und kann das auch gar nicht verstehen, es hat mich einfach nur sehr schwer getroffen und total verwirrt.
Ich stehe auch nicht direkt mit denen in Kontakt, Nele übernahm die Kommunikation mit den Versicherungsmaklern komplett. Wenn er einigermaßen stabil sei, wollen sie ihn in ein Vertragskrankenhaus bringen lassen, „Ob er denn nicht auf irgendeine Weise kommunizieren könnte?“, wollten sie wissen.
Hallo, geht es euch noch gut???
Drainage in der Schädeldecke, Schlauch in der Nase, künstliche Beatmung mit heraus gebundener Zunge durch den Mund und er liegt ohne Bewusstsein im künstlichen Koma, von jeglicher Kommunikation Galaxien entfernt. Ich wollte ihnen nur zu gerne die medizinische Definition davon zukommen lassen, vielleicht hätten sie es dann kapiert - obwohl in mir der starke Verdacht aufkeimt, dass ihnen das auch vollkommen gleichgültig am Hintern vorbei geht.
Glauben die eigentlich wir machen das Ganze nur „zum Spaß“?
Wir wehren uns mit Attesten vom Centro de Salud, vom Notarzt (wofür ich wegen der ‚eingeschränkten Geschäftsfähigkeit’ meines Mannes extra meine Einwilligung geben musste), selbst ein ausführlicher Befund der Intensivstation mit allen Untersuchungsergebnissen reichte ihnen nicht aus. Wir drohen mit Anwalt und Veröffentlichung dieser unsäglichen Behandlung von Mitgliedern, auch mit einer Anzeige bei einer hiesigen offiziellen Beschwerdestelle für Versicherungen.
Kurz: Wir kämpfen um jeden einzelnen Tag, den er lebt.
Dafür machen sie uns die Hölle heiß, sagen, sie benötigen noch einen „ausführlichen Bericht des Notarztes“, der Jochens Einlieferung in die Klinik veranlasst hatte.
Vom Krankenhaus bekam ich gestern schon einen Bericht, aber der langt ihnen auch noch nicht und es kommt mir immer mehr so vor, als wenn sie einen nur ganz gezielt schikanieren wollen. Beim Centro de Salud mit der Ambulanz und Erstversorgung versuchte ich einen Bericht zu bekommen, aber da Jochen dort kein Patient war, fanden sie ihn auch nicht in ihrem Computer. Sie wussten genau von seinem Fall, immerhin hievten ihn ja neun Leute zusammen auf die andere Bahre, aber sie hatten keine Unterlagen über ihn.
Nele kommuniziert nicht nur mit der Krankenkasse, die sich auf jede nur erdenkliche Art und Weise um die Kostenübernahme drücken will, sondern sie unterstützt mich überhaupt. Hauptsächlich gibt sie mir seelischen Halt und hat es dankenswerter weise auch übernommen, nach und nach behutsam unsere Freunde zu informieren. Ich bin absolut nicht in der Lage mit irgend jemandem zu sprechen. Mein Handy geht nicht und am Telefon fange ich sowieso gleich an zu heulen. Mein eigenes Hirn läuft anscheinend nur noch sehr eingleisig, wie in einem ganz schmalen Kanal. Ich verstehe nur noch, was die Ärzte auf Spanisch sagen, selbst auf einfachstem Englisch verstehe ich sie nicht mehr, obwohl ich diese Sprache viel besser konnte. Mein sonst sehr gutes Gedächtnis beginnt mich zunehmend zu verlassen, ich habe Schwierigkeiten mit Daten und Namen und mein Englisch rutschte von der Kategorie „ziemlich gut und flüssig“ innerhalb weniger Tage auf das Niveau „allenfalls erster Unterrichtsklasse“. Nicht, dass ich es nicht mehr sprechen könnte, ich verstehe nur die einfachsten Worte nicht mehr und mir fehlt ihr Sinn, es ist als hätte ich diese Sprache niemals richtig gelernt, geschweige denn gesprochen und auch später keine Möglichkeit gehabt, die Sprache zu sprechen. Aber das stimmt nicht - wir waren in vielen Ländern unterwegs, haben englische Freunde und schreiben, besser gesagt, schrieben uns regelmäßig, aber mein Englisch ist jetzt wie so vieles anderes auch, einfach weg, komplett verschüttet, spurlos verschwunden. Mein mathematisches Denken hat sich ebenso von mir verabschiedet und mein gesamtes Wissen aus 30 Jahren Naturheilkunde ist einfach nicht mehr vorhanden, gar nichts mehr davon.
Ein alter Trick hilft mir ein wenig, wenn in meinem Hirn durch extreme Stress Überladung meine innere Warnblinkanlage auf Daueralarm steht. Ich mache mir eine To-do-Liste, in die ich selbst an sich lächerliche Kleinigkeiten reinschreibe, die, wenn ich sie heute nicht mehr schaffe, morgen ganz sicher wieder vergessen habe. Ebenso Sachen, die erst in einem Jahr erledigt werden können/sollten/müssten und so weiter. Und selbst wenn ich so winzige Sachen erledige, wie die Windschutzscheibe des Wagens von innen zu putzen, die Chayote oder den kleinen Paraguayo Baum zu pflanzen, dann wird die entsprechende Notiz einfach durchgestrichen. Das gibt mir das Gefühl, nicht mehr so elend hilflos da zu stehen, sondern ich suche mir meine Tätigkeiten nach Zeitanspruch, Schwierigkeit und meinen jetzigen Möglichkeiten aus. Das hilft mir zumindest eine lebensnahe Art von Kontrolle und Ordnung in meinem Leben zu behalten und es tut mir gut. Vor allem aber, immer wenn mir etwas einfällt, schreib ich es in sehr kleinen Schritten auf, und mein Kopf bleibt dann davon vollkommen unbelastet, weil ich ja nur aufs Papier schauen muss, um zu wissen, was alles noch zu erledigen ist.
Ich gehe mal davon aus, dass Jochen mich noch mehr brauchen wird denn je. Mir hilft die Arbeit mit unseren Tieren, auf dem Land und im Haus zusätzlich, wenigstens ein klein wenig Ordnung in mein inneres und äußeres Leben zu bringen.
Gestern, bei meinem zweiten Besuch fühlte ich, dass meine Anwesenheit ihn zu sehr stimulierte und deswegen komme ich alleine nur noch zur abendlichen Besuchszeit, gemeinsam mit Nele fahren wir ihn mittags besuchen. Heute war er viel ruhiger und wir sprachen ihn auch nicht weiter an, sondern streichelten nur seine Hände.
Unsere vier Hunde und vier Katzen verhalten sich auffällig anders, seit Jochen im Krankenhaus liegt. Wenn ich nach Hause komme, werden nicht nur alle sofort gefüttert, sondern bekommen auch reichlich Liebe und Streicheleinheiten. Jochen fehlt ihnen auch sehr und sie fühlen instinktiv, das etwas sehr Schlimmes passiert sein muss. Rüde Tango (unser tollpatschiges 45 kg Riesenbaby) muss, seitdem Jochen im Krankenhaus ist, bevor er fressen kann, mindestens eine Viertelstunde lang in den Arm genommen, gestreichelt und lieb gehabt werden, sonst rührt er sein Futter nicht an und schaut mich nur mit großen tief traurigen Augen an. Er leidet sehr unter Jochens Abwesenheit und will dauernd auf meinen Schoß klettern, was in Anbetracht seiner Größe und seines Gewichtes keine so eine tolle Idee ist. Kaum habe ich mal die Terrassentür aufgelassen, liegt Rüde Vito auf Jochens Platz auf der Couch und da auch er über 50 Kilogramm hat, fällt das Überreden, ihn da wieder runter zu kriegen, gar nicht leicht, zumal er sich richtig dagegen stemmt und unbedingt dort bleiben will. Unsere...