Therapien mit Schwefel
Eine spannende Geschichte
Heilmittel mit langer Tradition
Die chemische Formel von MSM lautet (CH3)2SO2. Es handelt sich um ein Molekül, in dessen Zentrum ein Schwefelatom steht, an dem zwei Methyl(CH3)-Gruppen sowie zwei Sauerstoffeinheiten angedockt sind. Und das S-Element steht nicht nur im räumlichen, sondern auch im effektiven Zentrum von MSM. Man kann also auch sagen: Bei dieser Verbindung geht es prinzipiell darum, Schwefel in unseren Körper einzuschleusen; sie ist ein besonders effektives Transportvehikel für dieses Element. Was gleichsam bedeutet, dass die Geschichte von MSM als Heilmittel eigentlich schon in dem Augenblick ihren Anfang nahm, als man Schwefel für therapeutische Zwecke einzusetzen begann. Und das ist schon sehr lange her.
Die Wurzeln der Schwefeltherapie
Schon in der Antike wurde Schwefel zu Heilzwecken eingesetzt. Im 1. Jahrhundert nach Christus empfiehlt Plinius d. Ältere das Trinken von schwefelhaltigem Wasser gegen Ohnmachtsanfälle. Schwindsüchtigen, also Tuberkulosepatienten, wird der Aufenthalt in den Schwefeldämpfen von Vulkanen wie Ätna oder Vesuv verordnet, während deren Salze als »Sulphur vivum« äußerlich gegen Hauterkrankungen zum Einsatz kommen, wie etwa gegen Schuppenflechte und »Aussätze aller Art«. Dioskurides, ein Zeitgenosse von Plinius, berichtet in seiner Materia Medica über zahlreiche Indikationen von Schwefel, der dabei nicht nur mit Heilpflanzen, sondern auch mit tierischen Produkten kombiniert wird. So wird der Verzehr einer Schwefel-Eier-Kombination gegen Husten und innere Geschwüre beschrieben, und eine Gesichtsmaske aus Blei und Schwefel ‒ verschmolzen zu einer graubraunen Masse ‒ soll Akne-Pickel, Furunkel und andere Hautausschläge zum Verschwinden bringen.
Autorenbild des griechischen Arztes Pedanios Dioskurides aus der mittelalterlichen Handschrift Medicina antiqua (Österreichische Nationalbibliothek: Codex Vindobonensis 93, fol. 133 recto).
Etwa zur Mitte des 2. Jahrhunderts kommt dann die große Zeit der schwefelhaltigen Mineralbäder. Ihre Hauptindikationen: Rheuma und Koliken. Außerdem sollen sie helfen, überschüssige Säfte aus Leber und Milz herauszuziehen. Ihre Beliebtheit kannte keine Grenzen. Musiker wie Mozart, Beethoven und Caruso, aber auch Politiker wie Napoleon Bonaparte sollten zu ihren Anhängern werden. Darüberhinaus werden sie als Heilverfahren gegen Hauterkrankungen sowie Muskel- und Gelenkschmerzen bis heute geschätzt.
Im 6. Jahrhundert rät der byzantinische Arzt Alexander von Tralleis zu schwefelhaltigen Salben bei Haarausfall, Krätze, Wassersucht, Husten und »chronisch verhärteter Angina« (chronische Mandelentzündung). Wobei er dem Schwefel nicht nur eine Wirkung als Gewebe aufweichendes »Emolliens«, sondern auch als Beruhigungsmittel bescheinigt. Weswegen er ihn auch gleich als Therapie gegen Schlaflosigkeit und ‒ man höre und staune ‒ Schwatzhaftigkeit empfiehlt.
Zur gleichen Zeit wie Alexander schreibt auch Aetius von Amida, ein Leibarzt des römischen Kaisers Justinian, über den Schwefel. Er empfiehlt ihn als Abkochung mit Wacholder und Alaun gegen Hautgeschwüre – und als Stärkungsmittel, weil das Mineral den Stoffwechsel zurückschraubt. Die Schwefelthermen würden seiner Auffassung nach »feuchten und kalten Körpern« Hilfe leisten und dadurch bei Knochen- und Gelenkerkrankungen hilfreich sein.
Die berühmte mittelalterliche Heilerin Hildegard von Bingen beschreibt in ihrer Causae et Curae ein Lepramittel, das aus Schwefel, Vogelfett, Klette und Schwalbenmist zusammengemischt ist. Paracelsus hingegen empfiehlt den »Sulphur« bei Lungenkrankheiten und Nervosität. Und: »Er sedirt on schaden alle dolores.« Für den Schweizer Arzt steht also fest, dass Schwefel ohne Nebenwirkungen alle Arten des Schmerzes lindern könne.
Interessant sind aber die volksmedizinischen Anwendungen. Darunter das Tiroler Steinöl, das aus bitumenreichem Ölschiefer gewonnen wird und einen Schwefelgehalt von über 10 Prozent aufweist. Der Sage nach soll es aus den Bergen rund um das österreichische Seefeld stammen, die durch das Blut des Riesen Thyrsus getränkt wurden, nachdem dieser im Schlaf überfallen worden war. Daher wird das Steinöl auch oft »Thyrsenblut« genannt. Es findet als Hausmittel seit über 500 Jahren Verwendung zur Linderung von Arthrose, Blutergüssen, Hautausschlägen, Wundschorf und Furunkeln; und zwar bei Mensch und Tier. Aus dem Blut des Riesen wurde später die »Zugsalbe« entwickelt. Ihr Hauptwirkstoff ist die Schwefelverbindung Ammoniumbituminosulfonat, die zugelassen ist für die Behandlung von Akne, Hautausschlägen und Furunkeln.
Hildegard von Bingen. Miniatur aus dem Rupertsberger Codex des Liber Scivias
Betrachtet man die Geschichte der Schwefeltherapie näher, so fällt auf, dass es dabei vor allem um die Behandlung von Entzündungen und Schmerzen geht. Unabhängig davon, ob die Anwendung innerlich oder äußerlich erfolgt. Immer wieder tauchen Atemwegs- und Gelenkerkrankungen als Indikation auf, und immer wieder ist vom Schwefel als Beruhigungsmittel die Rede. MSM verfolgt ebenfalls diese therapeutische Stoßrichtung – und ist dabei noch besonders effektiv.
Haussalbe mit Tiroler Steinöl
DMSO: durchdringend
Als Alexander Michailowitsch Saizew im Jahre 1860 an die Universität Kasan kam, war es eigentlich beschlossene Sache, dass er das Teegeschäft seines Vaters übernehmen sollte. Dazu musste er jedoch Wirtschaft studieren, und dabei kam er in Kontakt mit der Chemie. Sie wurde zur großen Leidenschaft des jungen Studenten, und sein Forschungsschwerpunkt wurde ‒ der Schwefel. Diese Substanz faszinierte ihn, weil sie ihm ein essenzieller Teil des Lebens zu sein schien. 1862 erhielt Saizew sein Diplom, doch weder in Russland noch im Teegeschäft hielt ihn noch etwas. Er ging nach Leipzig, um dort unter bekannten Forschern wie Hermann Kolbe und Charles Adolphe Wurtz zu arbeiten. 1866 promovierte er zum Doktor der Naturwissenschaften mit einer Dissertationsschrift über Sulfoxide – und in diesem Zusammenhang entdeckte Saizew eine Substanz namens Dimethylsulfoxid (DMSO). Die chemische Formel (CH3)2SO weist bereits seine enge Verwandtschaft zu MSM aus.
Der junge Forscher ahnte jedoch noch nichts von der Bedeutung seiner Entdeckung. DMSO musste noch bis zu den 1950er-Jahren warten, bis der US-Chemiker Robert Herschler im Labor herausfand, dass es sich bei dieser Verbindung um etwas handelt, für das es quasi keine biologischen Barrieren gibt. Sie kann praktisch alle Hürden überwinden und in alle Gewebearten vordringen, und zwar nicht nur, weil sie eine extrem winzige Partikelstruktur aufweist, sondern auch, weil sie selbst abweisende Zellwände davon »überzeugen« kann, sich für den Durchlass chemischer Substanzen zu öffnen. Auf diese Weise kann sie als chemisches Taxi nicht nur sich selbst, sondern auch Substanzen in eine Zelle transportieren, die sonst keine Chance hätten, dort eingelassen zu werden. Oder anders ausgedrückt: DMSO besitzt die Safe-Kombination, um in die Zell-Tresore aller möglichen Gewebearten einbrechen zu können – nur dass die eben nicht leergeräumt, sondern mit wichtigen Stoffen versorgt werden.
Alexander Michailowitsch Saizew
© Wikimedia: Salzew
Für Herschler war damit klar, dass diese Substanz zum medizinischen Wirkstoff-Booster taugen würde. Denn die Pharmazie steht immer wieder vor dem Problem, dass sie zwar über schlagkräftige Heilstoffe verfügt, diese jedoch vom Körper nicht optimal verwertet werden, sodass ihre Wirkung nicht voll zur Entfaltung kommt. Man stelle sich am besten hundert Moleküle eines Arzneimittels vor, von denen nur fünf in das Gewebe gelangen, wo sie eigentlich benötigt werden. Mit einer Taxi- und Tresorknacker-Substanz wie DMSO lässt sich diese Quote auf zehn oder sogar zwanzig steigern. Was im Endeffekt auf eine größere Effizienz hinausläuft, sodass man das Arzneimittel sparsamer einsetzen kann und dadurch weniger Nebenwirkungen riskiert.
In Zusammenarbeit mit Stanley Jacob, einem Mediziner der Oregon Health & Science University in Portland, entdeckte Herschler aber auch, dass DMSO nicht nur die Heilwirkungen anderer Substanzen verstärkt, sondern selbst ein therapeutisches Potenzial besitzt. So konnten die beiden Wissenschaftler nachweisen, dass es Entzündungen und Schmerzen lindert. Trägt man DMSO beispielsweise auf eine Brandwunde oder einen geschwollenen Knöchel auf, kann man binnen einer Stunde einen deutlichen Rückgang der Rötung und Schwellung beobachten. Außerdem wirkt es entwässernd, was man gerade im Zusammenhang mit der Therapie von Bluthochdruck nicht hoch genug einschätzen kann.
Dennoch konnte sich DMSO als Heilmittel nicht so durchsetzen, wie es sich Jacob und Herschler erhofft hatten, obwohl zu dem Mittel mehrere Tausend Studien vorgelegt wurden, die nicht nur seine Wirksamkeit, sondern auch seine verschwindend geringen Risiken (gelegentlich kommt es zu allergischen Reaktionen) bestätigten. Es gibt jedoch eine Nebenwirkung, die zwar medizinisch bedeutungslos, für den Alltagsgebrauch hingegen ein großes Problem darstellt. Das Mittel hat einen unangenehmen Geruch. Es verbreitet sowohl auf der Zunge als auch auf der Haut ein Aroma, das an Austern mit ganz viel Knoblauch erinnert. Und zwar unabhängig davon, ob DMSO geschluckt, gespritzt, inhaliert oder auf der Haut verrieben wird. Für die Daueranwendung ‒ beispielsweise bei rheumatischen Erkrankungen – kann das ziemlich unangenehm sein. Nicht nur,...