GEISTESBLITZE
Ausmisten
Erinnerungsstützen erleichtern das Loslassen
Auf vielen Dachböden stapeln sich Kisten mit allerlei Kram: altes Spielzeug, Bücher, Relikte aus der Kindheit. Nichts davon wird man jemals wieder brauchen, und doch fällt es vielen schwer, sich von den Sachen zu trennen. Drei US-Ökonominnen haben nun ein Hilfsmittel gefunden, das den Abschied erleichtert. Sie forderten ihre Versuchspersonen auf, die fraglichen Gegenstände zu fotografieren. Studierende in Wohnheimen, die man zu dieser Gedächtnisstütze ermutigt hatte, spendeten in einem Feldexperiment 613 Besitztümer an Nonprofitorganisationen, die Kontrollgruppe hingegen nur 533.
»Man möchte die damit verbundenen Erinnerungen nicht aufgeben«, sagt Koautorin Rebecca Reczek, Marketingprofessorin an der Ohio State University. Dabei gehe es aber nicht allein um die Erinnerung als solche, sondern auch darum, was sie für die Identität eines Menschen bedeute, stellten die Wirtschaftswissenschaftlerinnen in einem weiteren Feldexperiment fest. Sie händigten Besuchern, die alte Sachen in einen Secondhand-Laden abgaben, mit Hilfe einer Sofortbildkamera eine Erinnerung auf Papier aus. Die betreffenden Spender hatten daraufhin weniger das Gefühl, einen Teil ihrer selbst weggegeben zu haben, als andere Spender, die kein Foto erhalten hatten.
»Die mit dem Besitz verbundenen Erinnerungen vermitteln Identität, und es widerstrebt uns, diesen Teil davon aufzugeben«, erläutert Reczek. Das gelte jedoch nur für Eigentum, das einen gewissen sentimentalen Wert für uns hat – aber keinen zu hohen materiellen, wie zum Beispiel ein Brautkleid.
Dass Menschen bisweilen dazu neigen, zu den banalsten Dingen eine emotionale Beziehung aufzubauen, konnten bereits frühere Studien zeigen. Etwa wenn wir Dreiecke auf einem Bildschirm beobachten: Hat uns jemand zuvor gesagt, ein Dreieck sei »unseres«, so verfolgen wir das Geschehen gleich mit anderen Augen.
J. Mark. 81, S. 104–120, 2017
Spracherwerb
Ein Bild ist besser als zwei
Eltern und Großeltern greifen gerne zu Büchern mit vielen Illustrationen, wenn sie Kindern etwas vorlesen möchten. Doch weniger ist manchmal mehr, sagen nun Zoe M. Flack und Jessica S. Horst von der University of Sussex in Brighton (England). Zumindest wenn es darum geht, den Spracherwerb bei Vorschulkindern zu fördern: Diese lernen mehr neue Wörter, wenn sie beim Zuhören nur ein einziges Bild sehen.
Die britischen Psychologinnen lasen ihren dreieinhalb Jahre alten Versuchsteilnehmern Geschichten aus einem Kinderbuch vor, in dem sich entweder nur auf der rechten Seite eine Illustration befand oder aber auf beiden Seiten. Die Kinder lernten im Schnitt doppelt so viele neue Wörter, wenn sie pro Doppelseite ein einziges Bild vor sich hatten.
Flack und Horst gehen davon aus, dass ihre kleinen Probanden einen Teil der Aufmerksamkeit dafür benötigten, die passende Illustration zu identifizieren. So sei ihnen weniger Kapazität dafür geblieben, die Wörter zu verarbeiten. Tatsächlich verschwand der Unterschied, wenn die Erwachsenen beim Vorlesen auf das richtige Bild deuteten, wie Flack und Horst schildern. Auch andere Experimente hätten zuvor schon nahegelegt, dass Kinder leichter lernen, wenn beim Zuhören nicht zu viele Reize zugleich auf sie einströmen.
Infant Child Dev. 10.1002/icd.2047, 2017
Vergessen
Unterdrückte Erinnerung
Was würden Sie tun, wenn eine Unterhaltung mit einem Freund plötzlich eine unangenehme Erinnerung hervorruft? Sie würden wahrscheinlich versuchen, sich von dem finsteren Gedanken abzulenken und das Gespräch einfach guter Dinge fortzusetzen. Laut einer aktuellen Studie des Kognitionspsychologen Justin Hulbert vom Bard College im US-Bundesstaat New York könnte das allerdings dazu führen, dass Sie Details aus der Unterhaltung auch schneller wieder vergessen.
Hulbert und sein Team baten ihre Versuchsteilnehmer zunächst, sich Wortpaare zu merken. Anschließend zeigten sie ihnen jeweils ein Wort, und die Probanden sollten sich daraufhin das andere Wort entweder ins Gedächtnis rufen oder aber die Erinnerung daran gezielt unterdrücken. Zwischen den einzelnen Gedächtnisaufgaben bekamen sie – vorgeblich zur Erholung – Bilder von ungewöhnlichen Szenarien zu sehen, etwa von einem Pfau, der in einer Parklücke steht.
Zu einem späteren Zeitpunkt überraschten die Forscher ihre Teilnehmer dann mit einem weiteren Gedächtnistest: Nun bekamen sie jeweils nur einen Teil der skurrilen Bilder gezeigt und sollten das fehlende Objekt (also zum Beispiel den Pfau) ergänzen. Dies gelang den Probanden um 42 Prozent schlechter, wenn ihnen das Bild zwischen zwei Wortpaaren gezeigt worden war, bei denen sie ihre Erinnerung unterdrücken sollten.
In einem anderen Experiment beobachtete das Team um Hulbert mit Hilfe funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), was im Gehirn der Testpersonen vor sich ging, wenn sie versuchten, Erinnerungen abzurufen oder zu unterdrücken. In letzterem Fall nahm dabei die Aktivität des Hippocampus ab, der sowohl für das Speichern neuer als auch für den Abruf alter Erinnerungen zuständig ist.
»Der Hippocampus hat keinen An- oder Aus-schalter, den man beliebig schnell umlegen kann«, erklärt Studienautor Hulbert. »Er braucht seine Zeit, um hoch- und runterzufahren. Während das passiert, gehen dann möglicherweise auch andere Informationen verloren, an die man sich später eigentlich erinnern möchte.«
Der Psychologe Jesse Rissman von der University of California in Los Angeles, der nicht an der Untersuchung beteiligt war, findet die Ergebnisse ebenfalls faszinierend. Er gibt allerdings zu bedenken, dass ihre praktische Bedeutung für den Alltag schwer zu ermitteln sei. Vielleicht könnten die Resultate erklären, warum manche Menschen nach traumatischen Ereignissen Schwierigkeiten beim Lernen haben – wenn sie zu häufig versuchen, negative Erinnerungen zu unterdrücken, behindern sie damit möglicherweise die Fähigkeit des Gehirns, neue zu bilden.
Nat. Comm. 7, 11003, 2016
Träumen
Nager spielen schlimme Erlebnisse im Schlaf durch
Wenn Ratten tagsüber in ihrem Käfig schlechte Erfahrungen machen – weil sie etwa an einer Stelle immer einen unangenehmen Luftstoß abbekommen –, scheint ihr Gehirn diese Erlebnisse im Schlaf erneut zu durchleben. Forscher um György Buzsáki von der New York University zeichneten durch implantierte Elektroden die elektrischen Signale von Nervenzellen in zwei wichtigen Hirnarealen auf: in der Amygdala, wo Emotionen wie Angst verarbeitet werden, und im Hippocampus, der zentralen Schaltstelle für die Gedächtnisbildung, in der sich auch das »neuronale Navigationssystem« befindet. Hirnzellen repräsentieren dabei einzelne Stellen im Raum – ganz ähnlich wie bei einer Landkarte. Lernt eine Ratte, dass sie an einem bestimmten Ort einen Luftstoß erhält, schlägt sich dies offenbar in einer Verknüpfung der entsprechenden Zellen des Hippocampus mit Zellen der Amygdala nieder.
Das zeigte sich, als sich die Versuchstiere der Wissenschaftler zur Ruhe begaben. Bekannt ist, dass Ratten im Schlaf die so genannten Ortszellen des Hippocampus in der gleichen Reihenfolge aktivieren, wie wenn sie tagsüber durch ihren Käfig rennen. Es wirkt darum so, als liefen die Tiere die Strecken im Traum erneut ab. Vor allem aber stellten Buzsáki und seine Kollegen fest, dass die Neurone in der Amygdala immer dann wieder aktiv wurden, wenn die Nervenzellen feuerten, welche die »gefährliche« Stelle im Käfig repräsentierten.
Auf diese Weise aktivierte das Gehirn der Ratten immer wieder die Verknüpfung zwischen den beiden Regionen und sorgte damit wohl dafür, dass sie sich dauerhaft abgespeichert werden kann.
Wie es sich für die Ratten anfühlt, wenn im Schlaf der Hippocampus dergestalt aktiv wird, lässt sich freilich nicht sagen. Vielleicht geht das Feuern der Ortszellen, das sich auch beim Menschen beobachten lässt, gar nicht mit entsprechenden Erlebnissen einher. Gut möglich wäre es allerdings auch, dass eine solche Aktivierung von Amygdalaneuronen als ähnlich unangenehm empfunden wird wie das entsprechende Erlebnis im Wachzustand. Die Notwendigkeit, Erinnerungen für die Langfristspeicherung wieder und wieder zu aktivieren, könnte uns vielleicht den einen oder anderen Albtraum bescheren.
Nat. Neurosci. 10.1038/nn.4637, 2017
Zeugenaussagen
Besser sofort betrunken als später nüchtern
Augenzeugen von Verbrechen oder Unfällen sind nicht selten betrunken. Der Alkohol beeinflusst das Einprägen ebenso wie die Erinnerungen an das Erlebte – nur wie genau, ist noch nicht im Detail geklärt. Polizisten stehen deshalb vor einem Problem: Sollen sie sofort mit der Vernehmung beginnen oder warten, bis die Zeugen ausgenüchtert sind?
Diese Frage untersuchten Forscher um die deutsche Rechtspsychologin Nadja Schreiber Compo von der Florida International University in Miami. Sie teilten rund 250 Probanden zufällig verschiedenen Gruppen zu, die unter Einfluss von Alkohol oder einem Placebopräparat ein Scheinverbrechen beobachteten und darüber entweder kurz darauf oder eine Woche später Auskunft geben mussten.
Direkt nach dem Geschehen machten die betrunkenen Probanden dabei genauere Angaben als eine Woche später in nüchternem Zustand. Es half auch nichts, die Probanden dann erneut in einen alkoholisierten Zustand zu versetzen. Allerdings waren die Probanden lediglich mäßig betrunken; für Menschen im Vollrausch gelten die Befunde...