Einleitung
Im Rahmen meiner Diplom-Arbeit in Psychologie habe ich zum Thema „Die therapeutische Identität von Heilpraktikern“ im Jahr 1993 Interviews mit einem Dutzend Heilpraktikern geführt. Unter meinen Gesprächspartnern war auch einer, der mehrfach betonte, dass wir ja „Heil-Praktiker“ und nicht „Heil-Theoretiker“ seien. Ich war damals bereits im sechsten Jahr selber Heilpraktiker und diese Äußerung fiel mir auf, weil ich gleich den Eindruck hatte, dass diese Auffassung etwas Wichtiges hervorhebt. Zumal der Interviewte an einer Heilpraktiker-Schule lehrte. Natürlich kann man das hier einfach als einen Aufruf zu einer gesunden Bodenständigkeit auffassen. Woraus sich die Frage ergibt, ob intellektuelle Selbstbeschränkung tatsächlich als Zeichen einer ganzheitlichen Entwicklung angesehen werden kann? Aber davon ab, überlegen wir doch einmal, was es bedeutet, wenn jemand mit alternativen Heilweisen arbeitet, sich aber nicht um einen theoretischen Überbau dafür bemüht? Irgendein Verständnis vom Menschen in Gesundheit und Krankheit muss der Betreffende ja haben, schon alleine um entscheiden zu können, was er behandeln muss und was nicht. Dann natürlich auch, um zu wissen, welches Leiden er aus welchem Grunde wie behandelt.
Nun bedarf ein Heilpraktiker, um tätig werden zu können, dazu der Erlaubnis durch das Gesundheitsamt. Diese erlangt er, indem er eine Prüfung beim Amtsarzt ablegt. Gegenstand dieser Prüfung sind schulmedizinische Kenntnisse, die sicher stellen sollen, dass vom Heilpraktiker keine Gefahr ausgeht.
Wenn jemand Heilpraktiker ist und keine anderes Wissen vom Menschen hat als obiges, dann ist er auf seine Kenntnisse der akademischen Medizin zurück geworfen. Damit aber praktiziert er keineswegs Naturheilkunde, sondern schlicht und einfach Alternativmedizin1 oder aber Naturheilverfahren vor Hintergrund eines mechanistischen Bild vom Menschen! Tatsächlich fand ich in meiner Diplom-Arbeit verschiedene Gruppen von Heilpraktikern, die sich in ihrem Menschenbild grundlegend unterscheiden. Eine Gruppe nannte ich die „besseren Ärzte“. Die “besseren Ärzte“ gehen vom mechanistischen Menschenbild der akademischen Medizin aus und ergänzen dieses allenfalls um die eine oder andere ebenso mechanistische Spezialkenntnis. In ihren Praxen gibt es auch oft blinkende Maschinen, Computer und Monitore, die ihre paramedizinische Kompetenz unterstreichen. Sich selbst sehen sie als Reparierer, die auf ihre mehr oder weniger originelle Art die Krankheit, den Fehler in der biologischen Maschine Mensch, beseitigen. In diese Kategorie gehörte auch der obige Kollege, an dem ich auf die geringe Reflexion seines Menschenbildes aufmerksam wurde. Was ich an den „bes-seren Ärzten“ als einziges kritisiere, ist tatsächlich dieser Mangel an Reflexion. Dadurch wird ihre alternative Medizin zu einer bloßen Fortsetzung der Schulmedizin mit anderen Mitteln. Außer diesen „besseren Ärzten“ fand ich damals die Gruppe der „echten Naturheilkundigen“, die so viel schulmedizinisches Wissen haben, die amtsärztliche Überprüfung zu absolvieren und auch oft an den Ansichten der akademischen Medizin lebhaft interessiert sind. Vor allem aber findet man bei ihnen darüber hinaus ein völlig anderes, nicht-mechanistisches Menschenbild. Sie haben eine Kenntnis vom Menschen, die grundsätzlich anders sind, als das der medizinischen Wissenschaft. Für sie sind Menschen nicht bloß biologische Maschinen. Sondern sie haben eine alternative Vorstellung davon, wie sich das Funktionieren eines Gesunden verstehen lässt. Und sie weisen auch eine eigene Lehre vom Krankheitsgeschehen auf. Und diese wie-tere Beschreibung des Menschen erlaubt es, ganzheitlich zu heilen, Gesundheit zu bewirken, statt einfach die Krankheit ausmerzen zu wollen. Sie sind keine „Wegmacher“, die den Missstand beseitigen, sondern es geht ihnen darum, Gesundheit herzustellen, zur persönlichen Entwicklung und damit zur Heilung anzuleiten. Wichtig ist mir an dieser Stelle, deutlich zu sagen, dass diese ganzheitliche Vorstellung vom Menschen stets für einen gesunden Menschenverstand und auch für einen offenen wissenschaftlichen Sachverstand nachvollziehbar bleibt.
Darin unterscheiden sich die „Naturheilkundigen“ von den „spirituellen Heilern“, der dritten Gruppe. Sie weichen zwar auch vom mechanistischen Menschenbild ab, gehen aber nicht nur einen nachvollziehbaren Schritt über dieses hinaus. Sondern sie setzen eine insgesamt rational nicht mehr zu begründende, oft aber intuitiv eingängige Sicht der Welt und des Menschen voraus. Sie gründen damit ihre Heilkunde in religiösen oder esoterischen Spekulationen. Vertreter dieser Gruppe sind zum Beispiel sämtliche Arten von Lebensenergie-Anwendern, seien es Magnetiseure, Reiki-Eingeweihte, Orgon-Anwender, Chakra-Arbeiter, christliche oder buddhistische Therapien, Schamanismus, usw. Bitte nicht missverstehen: Ich meine keineswegs, dass die „spirituellen Heiler“ irgendwie falsch liegen. Sondern ich weise nur darauf hin, dass sie das Weltverständnis des gewöhnlichen Menschen westlicher Herkunft nicht um einen, sondern gleich um mehrere Schritte überschreiten. Was ja nicht schlecht sein muss, jedoch deutlich in den esoterischen Bereich gehört und nicht nur hohe, sondern sogar höchste Anforderungen an den Menschenverstand der Kranken und das Verantwortungsbewusstsein und die persönliche Integrität der Behandler stellt.
Bezeichnender Weise fand ich unter Heilpraktikern die ersten beiden Gruppen häufig, die letzte aber seltener vertreten. Letztere scheint eher eine Domäne von Laienbehandlern zu sein.
Wenn man, wie ich, die Naturheilkunde als eigenständige Heilkunde begreift, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, sich gegen andere Heilslehren abzugrenzen. Schließlich ist eine Naturheilpraxis keine Missionsstation!
Damit stoßen wir automatisch auf ein Problem, das mit dem Anspruch der Naturheilkunde auf Ganzheitlichkeit verbunden ist. Der Mensch ist nicht nur ein biologisches Wesen, sondern auch ein psychisches, soziokulturelles und auch spirituelles. Jeder Mensch hat eine Spiritualität, eine Geistigkeit, jedenfalls wenn man darunter die Art und die Haltung versteht, wie er sich in die Welt einfügt. So geht zum Beispiel ein Buddhist davon aus, dass alle Existenz leidvoll ist und auch der Christ lebt im irdischen Jammertal. Der Atheist geht davon aus, dass es keine große ordnende Kraft im Universum gibt und der Materialist ordnet sich in ein stoffliches Kontinuum ein. Das alles sind spirituelle Ausrichtungen, einfach weil jeder Mensch sich zum Großen und Ganzen positionieren muss.
Wenn man also mit dem ganzen Menschen heilkundlich arbeitet, kann man den spirituellen Bereich nicht einfach ausgrenzen. Spätestens wenn eine Erkrankung den Lebensmut eines Menschen untergräbt, ein Leiden das Leben bedroht oder es um Tod und Trauer in der Familie geht, berührt man auch diesen Bereich.
Das bedeutet aber für den ganzheitlich arbeitenden Praktiker, dass er, ebenso wie er psychotherapeutische Methoden für den seelischen Bereich kennen muss, auch spirituelle Verfahren zu beherrschen hat. Diese stammen aber aus genau jenen religiösen Heilslehren, gegen die sich die Naturheilkunde...