2.1.1 Führungskraft mit oder ohne Vorgesetztenfunktion: Ein großer Unterschied?
Vielfach wird zwischen den Tätigkeiten einer Führungskraft mit und einer Führungskraft ohne Vorgesetztenfunktion ein großer Unterschied gesehen. Bei genauer Betrachtung ist dieser Unterschied jedoch nur in einem bestimmten Bereich erkennbar. Die Führungskraft ohne Vorgesetztenfunktion unterscheidet sich nämlich „theoretisch“ nur in dem Bereich der arbeitsrechtlichen Belange von der Führung mit Vorgesetztenfunktion, d. h. bezüglich aller Maßnahmen, die mit dem Arbeitsvertrag oder arbeitsrechtlichem Vorgehen zu tun haben.
In der Praxis wird der Unterschied oft anders erlebt und gelebt. Zielvereinbarungen und Mitarbeiterbeurteilungen werden - je nach Unternehmen - auch von einer Führungskraft ohne Vorgesetztenfunktion durchgeführt, solange sie keine finanziellen Veränderungen oder Aufstiegs- bzw. Karriereschritte enthalten. Diese sind dann wieder „arbeitsrechtlicher“ Natur und können nur von einer Führungskraft mit Vorgesetztenfunktion durchgeführt werden. In der Tabelle unten haben wir die üblichen Aufgaben der beiden Führungskraftgruppen nebeneinandergestellt. Der größte „Unterschied“ liegt also nicht unbedingt in der Sache selbst, sondern vielmehr in der Wahrnehmung der Führungsrolle ohne Vorgesetztenfunktion.
Aufgaben und Tätigkeiten einer Führungskraft
ohne Vorgesetztenfunktion | mit Vorgesetztenfunktion |
---|
| arbeitsrechtliche Aufgaben |
| Einstellung, Kündigung, Abmahnung, Gehaltsverhandlung, vertragliche Vereinbarungen etc. |
Führungsaufgaben z. B.: Kommunikation, Aufgabendelegation, Motivation, Feedback, Unterstützung, Gleichbehandlung, Konfliktmanagement, Schnittstellenfunktion, Prozesskoordination |
fachliche Aufgaben z. B.: Zieldefinition, Wissensmanagement, Personalentwicklung |
2.1.2 Erfahrungen und Erwartungen: Wie ist Ihr Selbstbild?
Zu Beginn des Kapitels haben wir schon dargestellt, wie manche skeptisch, viele erstaunt auf die Positionsbeschreibung Führungskraft ohne Vorgesetztenfunktion reagieren. Doch tatsächlich ist auch die Selbstwahrnehmung derer, die diese Position einnehmen, häufig nicht mit viel Sicherheit bzw. Selbstverständnis hinterlegt! Fragt man Führungskräfte ohne Vorgesetztenfunktion nach ihrer Selbsteinschätzung, sind Antworten, die eine nicht sonderlich hohe Wertschätzung ausdrücken, nicht selten. Drei typische Aussagen, die wir so oder in ähnlicher Form immer wieder gehört haben, sind:
„Die Mitarbeiter sehen mich anders als eine normale Führungskraft.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das darf.“
„Eine Führungskraft mit Vorgesetztenfunktion hat mehr Kompetenzen.“
Wir verstehen diese Aussagen so: Führungskräfte ohne Vorgesetztenfunktion sehen sich „nur“ als fachliche Führungskraft, die keine Führung im Hinblick auf die Verhaltensweisen, das Vorgehen und die Leistung der Mitarbeiter umsetzen darf. Die eigenen Kompetenzen werden als deutlich reduziert wahrgenommen und sie ordnen sich in der Hierarchie unter. Vergleichen sie sich mit den Führungskräften mit Vorgesetztenfunktion, so scheint ihre Selbstwertschätzung geringer ausgeprägt zu sein.
Wie man in den Wald hineinruft
Aus der psychologischen Forschung ist bekannt, dass ein geringes Selbstbild in der Rolle zumeist mit einer geringen Wertschätzung durch die anderen beantwortet wird. Und zugleich eröffnet sich hier ein erster Ansatzpunkt, um die Wertschätzung zu verbessern: Führungskräfte ohne Vorgesetztenfunktion müssen lernen, sich selbst in dieser Funktion mit vielen Kompetenzen ausgestattet zu sehen und sich selbst ernst zu nehmen. Es ist wichtig, dass Sie darauf achten, dass Sie sich selbst richtig positionieren. Das geht aber nur, wenn Sie auch entsprechend von Ihren Vorgesetzten richtig positioniert und in Ihrer Positionierung unterstützt werden.
2.1.3 Inhaltliche Definition der neuen Rolle
Was macht inhaltlich eigentlich Ihre Rolle aus? Sehr wahrscheinlich - bzw. hoffentlich - kennen Sie die Aufgaben Ihrer neuen Rolle bereits aus der Stellenbeschreibung. Die Rolle setzt sich aber noch aus weiteren Aspekten zusammen. Neben der Aufgaben-/Stellenbeschreibung gibt es da noch die Erwartungen an Sie. Diese unterteilen sich noch in die sogenannten „manifesten“ oder „latenten“ Erwartungen. Können Sie sich vorstellen, was damit gemeint ist?
Beispiel: Manifeste und latente Erwartungen
Die Führungskraft ohne Vorgesetztenfunktion Herr Frank arbeitet schon lange und vertrauensvoll mit seinem Vorgesetzten Herrn Kolbe zusammen. Nun ist er gefragt worden, ob er sich vorstellen kann, die neue Position „Führungskraft ohne Vorgesetztenfunktion“ zu übernehmen. Herr Frank freut sich und bekommt mit auf den Weg: „Herr Frank, ich habe volles Vertrauen in Sie, Sie werden die Aufgabe gut erfüllen. Machen Sie alles weiterhin so gut - dann klappt es schon. Ihre Aufgaben sind Ihnen ja bekannt, das Team kennen Sie - ich verlasse mich da ganz auf Sie.“
Herr Frank ist geschmeichelt und stürzt sich in die Aufgaben. Bei einigen Aufgaben lässt Herr Kolbe ihm freie Hand und gibt keine Hinweise und Herr Frank weiß manchmal nicht, wie weit er eigentlich bei den Entscheidungen gehen darf. Bei anderen Aufgaben dirigiert Herr Kolbe die Mitarbeiter nach wie vor direkt und trifft Entscheidungen - ohne sie mit Herrn Frank abzusprechen.
Herr Frank ist unsicher und zögert jedes Mal, was er nun eigentlich tun darf.
Hier hat der Vorgesetzte durch sein Lob die eigentliche Klärung der Rolle vermieden. Er hat aber große Erwartungen an Herrn Frank („volles Vertrauen, dass es klappt“). Das ist eine latente Erwartung - sie ist nicht definiert und deutlich ausgesprochen. Herr Frank wird immer versuchen, die Erwartungen von Herrn Kolbe zu erfüllen - und zwar so, wie er sich die Erwartungen von Herrn Kolbe ausmalt. Da sie nicht ausgesprochen wurden, wird es möglicherweise öfter zu dem Satz kommen: „Das hätte ich von Ihnen aber besser erwartet“ oder „So habe ich mir das nicht vorgestellt“. Wenn die beiden sich zusammensetzen und die Rolle mit allen Inhalten, d. h. Aufgaben und Kompetenzen, definieren, dann werden die Erwartungen „manifestiert“.
Dabei geht es nicht nur um die Definition der Aufgaben, sondern insbesondere um die Konkretisierung der Reichweite Ihres Handelns in der Führung. Dürfen Sie deutlich Kritik üben? Können Sie Konsequenzen (es gibt auch nicht-arbeitsrechtliche) ansprechen? Und welche Maßnahmen dürfen Sie im Hinblick auf den Mitarbeiter anordnen?
Sofern Sie diese Fragen nicht eindeutig mit „Ja“ beantworten können, werden Sie als Führungskraft ohne Vorgesetztenfunktion häufig mit „angezogener“ Handbremse fahren. Unsicherheit führt zu Zweifeln, und Zweifel führen zu einem geringen Selbstbild - eine Situation, die Sie unbedingt vermeiden sollten.
Elementar wichtig für Sie ist daher die Absprache mit Ihrem jeweiligen Vorgesetzten darüber, wie er sich Ihre Führung vorstellt, was Sie entscheiden dürfen, in welchem Rahmen Ihre Handlungskompetenz liegt usw. Frühzeitige Absprachen sind die Voraussetzung für eine gute Umsetzung der Rolle. Im Laufe der Zusammenarbeit wird es immer wieder Themen geben, die einer erneuten Absprache bedürfen. Diese Absprachen bzw. Abstimmungen halten Sie am besten schriftlich fest.