DU WIRST DICH NOCH WUNDERN …
»Du wirst dich noch wundern!« klingt nach leichter Drohung. Unterschwellig zumindest. »Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist!« Das erinnert uns doch an etwas. Ja richtig! Dieser Satz ist 2016 einem der Kandidaten für das höchste Amt im Staat im Wahlkampf in einem der vielen, zumeist lähmenden TV-Duelle herausgerutscht. Oder er hat es absichtlich gesagt. Ist ja egal. Als ich um die 30 Jahre alt war, hat meine Mutter mich unter anderem mit dem häufig verwendeten Satz »Du wirst dich noch wundern!« genervt. Sie meinte damit, dass ich mich wundern würde, wie schnell und schneller die Zeit vergeht, je älter ich werde. Ich musste jedes Mal milde lächeln und dachte in Richtung meiner Mama: Na ja, du hast vermutlich viel versäumt in deinem Leben, zahlreiche Vorsätze nicht realisiert, dir viele Wünsche nicht erfüllt, das ist die Frustration des »Mittelalters« (sie war damals 66 – da fängt das Leben doch erst an, oder?), die dich umfängt, und je älter du wirst, desto intensiver werden die Gefühle des Versäumt-Habens und ähnliche gespürte Defizite. Vermeintliche. »Du wirst dich noch wundern!«, meinte sie oft und öfter. Und ich habe mich tatsächlich gewundert.
Wenn ich zurückdenke, kommt mir das Zeitvergehen, das überraschend schnelle Vorbeiziehen von Tagen, Wochen, Monaten und Jahren, gefühlt als Fünfjahres-Sprünge vor. Nicht nur mir scheint, dass die Zeit beziehungsweise das Zeitempfinden ein anderes, ein Differenzierteres geworden ist. Es hat sich in eine Achterbahnfahrt light verwandelt. Und heute, mit 60 Jahren, rast die Zeit dahin, auch wenn ich mir meine persönlichen Zeitinseln nicht nehmen lasse, sie im Gegenteil erweitere. Auch wenn ich in der Lage bin, zu entspannen, zu ruhen, innezuhalten, nachzudenken. Also nicht einfach dahinzuleben oder -zuvegetieren … nein, ich lebe meine Zeit bewusst, und trotzdem geht es so schnell dahin. Und ja: Es ist meine Zeit. Die Endlichkeit des Daseins wird mir immer bewusster. Nicht zuletzt deshalb, weil sich regelmäßig und immer öfter Bekannte, Freunde, Verwandte von dieser Erde verabschieden. Sei es durch Krankheit, manchmal durch Unfälle, relativ gehäuft durch plötzlichen Herztod oder Aneurysma. Unlängst sagte ein Bekannter in meinem Alter: »Die Einschüsse kommen näher.« Ich verstand nicht gleich, was er damit meinte, aber er hatte natürlich recht: Je älter wir werden, desto mehr Menschen sterben in unserem Umfeld, auch wenn man es nicht wahrhaben will. Die Einschüsse kommen näher und vor allem unerwartet.
Wie bei meinem Freund Christian, der mich 44 Jahre begleitet hat. Vom Gymnasium über die Maturareise, das Studium, diverse Weltreisen und unzählige, auch alkoholgeschwängerte, Treffen, die allesamt lustig, bereichernd und erfüllend waren. Keine Minute war es mit ihm langweilig. Genau das haben wir oft angesprochen – wir sind uns nicht auf die Nerven gegangen. Vielleicht auch, weil wir keine Konkurrenten waren, weil wir uns nichts beweisen mussten und weil wir kompatibel waren. Dabei hat man mich mit ihm in der 5. Klasse (zwangs-)zusammengesetzt, weil die Professoren wussten, dass wir uns, ich drücke es gelinde aus, nicht sehr sympathisch waren. Dieser Zustand, diese Einstellung zueinander, hat sich freilich geändert und war auf Dauer gesehen für einige Menschen in unserem gemeinsamen Umfeld ein fataler Irrtum. Nicht umsonst bezeichnete uns meine Mutter nicht selten als »Duo infernale«. Sie hatte ja so recht, die gute Frau. Christian und ich näherten uns anfangs einander sehr vorsichtig und misstrauisch an, wie zwei Raubtiere, und entdeckten nach reiflicher, gegenseitiger Überprüfung eine geradezu symbiotische Übereinstimmung, was unter anderem Menschen, Lebensthemen, Schule, Universität oder Arbeit betraf. Spannend war, dass wir monatelang in der Schule, obwohl in derselben Bank sitzend, kein Wort miteinander gesprochen haben. Wir mochten uns einfach nicht. Ich erinnere mich an die ominöse Lateinprüfung – ein Vokabelcheck würde man heute sagen –, Frau Dr. M. rief mich auf, man musste in der Bank verharren, aber aufstehen. Sie wollte gewisse Termini von mir übersetzt wissen, und ich hatte, wie öfters, keinen blassen Schimmer. Plötzlich hörte ich Christians Stimme in meine Richtung den Lösungssatz raunen. Blitzartig schossen mir Gedanken durch den Kopf wie »Kann ein Mensch derart schlecht sein, derart fies, dass er dir die falsche Lösung einsagt?«. Ja, er könnte. Christian war es nicht. Frau Dr. M. wollte noch vier weitere Vokabeln übersetzt haben, Christian war ein perfekter Souffleur und ich setzte mich wieder, um ein wenig in seine Richtung zu rutschen, nachdem wir extrem auseinandergerückt waren, um ja keine wie immer gearteten Berührungspunkte zu haben. Ich sagte zu ihm: »Danke, das war sehr nett von dir.« Er schnoddrig darauf: »Jössas, du kannst ja sprechen.«
Das war der Anfang. Wir haben die halbe Welt gemeinsam bereist, Tausende Stunden miteinander verbracht, und das seit unserem 15. Lebensjahr. Unfassbare Erlebnisse durften wir teilen, viele Höhen und Tiefen unseres Lebens haben wir erleben dürfen oder müssen. Christian wusste mehr von mir, mehr über mich, als alle Lebensabschnittspartnerinnen zusammen. Er war ein cooler Hund. Im Oktober 2016 ist er beim Frühstück vom Sessel gefallen. Tot. Schnell, überraschend und unerwartet. Einen Tag davor haben wir noch telefoniert und über die Intensität des Lebens gesprochen.
Sein plötzlicher Tod hat mich sehr erschüttert und tut es fallweise immer noch. Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass wir dies und das und jenes miteinander unternehmen sollten. Wie in der angeblich so guten, alten Zeit … Wir haben unsere Pläne, meist wegen eines höchst intensiven beruflichen Engagements, immer wieder hinaus- und aufgeschoben. Das war der Fehler. Und das kannst du auf das ganze Leben, privat, beruflich, deinen Ich-Bereich betreffend, projizieren. Hör auf, deine Wünsche hinauszuschieben, deine Pläne aufzuschieben und in eine ferne Zukunft zu transferieren. Vielleicht hast du keine lang andauernde Zukunft mehr. Den Zeitpunkt des Abschieds kennen wir nicht. Gott sei Dank!
Hör auf, deine Wünsche hinauszuschieben, deine Pläne aufzuschieben und in eine ferne Zukunft zu transferieren. Vielleicht hast du keine lang andauernde Zukunft mehr.
Mir kommt oft vor, dass sich viele Menschen der Tatsache nicht bewusst sind, dass wir alle ein endliches Dasein haben. Dass wir alle sterben werden. Der Tod wird als etwas Schreckliches empfunden und aus unserem Leben verbannt. Ich erinnere mich an die durchaus liebe Tante P. und ihre Aussage: »Wenn Kinder da sind, darf man nicht übers Sterben und den Tod reden!« Wie bitte? Es ist ein Unsinn der Sonderklasse, dass man heute, im 21. Jahrhundert, das Thema Tod von Kindern fernhält und sie vermeintlich schützen möchte. Schützen? Wovor? Sterben gehört zum Leben, der Tod ist ein natürlicher Teil unseres Lebens und muss als solcher gewürdigt werden. Und doch werden Geheimnisse, das Unheimliche, das Unendliche schamhaft oder angstvoll verbannt. Die Ursache liegt vielleicht darin, dass man den Tod nicht erklären will.
Sterben sei ein natürlicher Teil des Lebens und gehöre dazu, sagt die Psychotherapeutin Marina Gottwald aus Oberösterreich, die viel mit Kindern arbeitet. Ihre Empfehlung ist es, das Kind mitzunehmen, unabhängig vom Alter. Je früher sich Kinder mit dem Tod beschäftigen, umso selbstverständlicher wird der Umgang damit. Damit Sterben für den Nachwuchs nicht zum Tabuthema wird, können kleine Anlässe genutzt werden, wie zum Beispiel ein toter Vogel auf der Wiese, den man begräbt. So verbindet man den Tod mit einem Abschiedsritual.3
Ich erinnere mich, dass wir in meiner Kindheit einen Wellensittich hatten, mit dem schrecklichen Namen »Pipsi«, ein wunderbarer Vogel mit buntem, bläulichem Gefieder, sehr zutraulich, ein sehr liebes und geliebtes Tier. Als der Kleinpapagei eines Tages verendete, ich war circa zehn Jahre alt, war die Trauer riesengroß. Nicht nur bei meiner Schwester und mir, auch bei den Großen. Wir legten ihn in ein buntes Osterei – du kennst diese geschmacklosen Pappendeckelhüllen mit Ostermotiven drauf – in ein Ostergrasbettchen (im Februar!) und begruben ihn – verbotenerweise im nahe gelegenen Park. Durch dieses Ritual hatte ich einen Bezug zum Thema Ableben oder »Gehen« und es verlor seinen Schrecken. Ich war natürlich betroffen oder traurig, wenn ein naher Verwandter oder Freund starb. Ich erinnere mich auch genau daran, wie meine Oma starb. Die Mutter meines Vaters. Eine herzensgute Frau. Sehr traurig war ich, aber ihr Tod hatte nichts Schreckliches an sich. Es war der natürliche Lauf der Dinge. Verstehst du, was ich meine? Meine Eltern haben mir auch nie Unsinnigkeiten nähergebracht wie »Die Oma ist auf eine lange Reise gegangen« oder »sanft eingeschlafen«, wie es manche Zeitgenossen tun. Das hat sicher keine positiven Auswirkungen auf Kinder. Sie könnten die Endgültigkeit des Todes missverstehen, weil sie glauben,...