Kapitel 1: Jod und seine Geschichte
Eine heilsame (Zufalls-)Entdeckung
Wie so oft hatte auch bei der Entdeckung von Jod der Zufall seine Hände im Spiel. Wir schreiben das Jahr 1811. Der Pariser Salpetersieder Bernard Courtois ist mit der wichtigen Aufgabe betraut, neue Munition für die Waffen Napoleons herzustellen, der sich im Krieg mit Russland befindet. Salpeter, Grundzutat für Schießpulver, wird aus Kaliumkarbonat hergestellt, das wiederum aus Holzasche gewonnen wird. Doch durch den Krieg ist dieser Rohstoff knapp geworden. Eine Alternative muss her, und Courtois hofft, dass die Verbrennung getrockneter Algen zu tauglicher Asche führt. Doch als er etwas zu viel Schwefelsäure auf die verbrannten Braunalgen gibt, steigt aus seinen Kochkesseln plötzlich eindrucksvoll lilafarbener Dampf empor. Beim Reinigen der Kessel entdeckt er zudem an den Gefäßwänden eine seltsam glänzende, grafitfarben-kristalline Schicht. Courtois ahnt, etwas Bahnbrechendes entdeckt zu haben – wenn auch nicht gerade das, was er sich erhofft hatte. Doch er besitzt nicht das Vermögen, um weitere Forschungen mit der geheimnisvollen Substanz zu betreiben. Deshalb sammelt er die Rückstände und übergibt sie schweren Herzens dem wohlhabenderen Chemiker Joseph Louis Gay-Lussac, der wenig später mit seinem Kollegen Nicolas Clément-Désormes die Erforschung des erstaunlichen Stoffs beginnt. 1813 beweist Gay-Lussac, dass es die Welt mit einem neuen Element zu tun hat. Er nennt es Jod, nach dem altgriechischen Wort ioeides, das übersetzt etwa »violett« bedeutet. Der Grund liegt auf der Hand: »Jod im festen Zustand ist schwarzgrau, der Dampf aber sehr schön violett«, erklärt Gay-Lussac.1 Während Gay-Lussac für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse gefeiert wird, geht Bernard Courtois schon zum zweiten Mal leer aus: Obwohl er 1804 mitverantwortlich ist für die Entdeckung von Morphium, wird er bei der Publikation zur Entdeckung des Opioids mit keinem Wort erwähnt. Auch Jod gereichte ihm nicht zum Erfolg. 1838 stirbt der Salpetersieder verarmt; trotz seiner erstaunlichen wissenschaftlichen Erfolge »hinterlässt er eine Witwe in dürftigen Umständen«, wie das Archiv der Pharmazie2 berichtet – sogar mit folgender Fußnote versehen: »Sollten französische Ärzte, Apotheker und Naturforscher nicht suchen, der dürftigen Witwe des Entdeckers einer so wichtigen Substanz, als das Jod ist, eine sorgenfreie Existenz zu verschaffen!«3
Dessen ungeachtet verbreitet sich die Nachricht des lilafarbenen chemischen Neuankömmlings unter Wissenschaftlern wie ein Lauffeuer, und schon kurze Zeit später weiß man einiges mehr über das faszinierende Jod. So finden sich geringe Mengen davon praktisch überall in der Umwelt; hohe Konzentrationen hingegen stellen Forscher in Seefischen, Schwämmen und Meeresfrüchten fest sowie eben in Algen und Seetang. Die sagenhafte Entdeckung spricht sich im Laufe der Jahrzehnte auch unter Medizinern herum und sorgt für zahlreiche Aha-Effekte. Dabei ist Jod, das im 19. Jahrhundert als innovatives Heilmittel gilt und rasch zu einer Art Universaltherapie für zahlreiche Krankheiten avanciert, eigentlich alles andere als neu.
Jod heilt schon viel länger
Seetang, das belegen zahlreiche Aufzeichnungen, wird bereits seit Tausenden von Jahren von Heilern zur Linderung von Krankheiten und zur Verbesserung des allgemeinen Zustands eingesetzt. Die Großalgen gelten gar als eine Art prähistorische Antioxidantien: Was heute der grüne Smoothie ist, war früher das Seaweed, insbesondere für europäische Küstenbewohner. In Zeiten, in denen die Lebenserwartung bei unter 40 Jahren lag, nutzte man jede Möglichkeit, dem Tod einige möglichst gesunde Monate abzutrotzen. Die Verwendung von Seetang stellte sich als cleverer Schachzug heraus: Im berühmten Papyrus Ebers finden sich bereits Hinweise darauf, dass es erfolgreich zu medizinischen Zwecken eingesetzt wurde. Auch weit entfernt, im alten China, wendete man bereits vor über 2000 Jahren Braunalgen zur Bekämpfung von Tumoren, Tuberkulose und merkwürdig verdickten Hälsen an, mit denen auch Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) zu kämpfen hatte. Der Arzt und Begründer westlicher Medizin verschrieb Algen gegen das Leiden – und siehe da, bereits nach kurzer Zeit bildeten sich die Schwellungen zurück! Selbst der berühmteste Pharmakologe des Altertums und Verfasser der Materia Medica, Pedanios Dioskurides, führt in seiner Enzyklopädie den Seetang auf. Der Arzt, der im 1. Jahrhundert lebte, beschreibt die Substanz als eine Allgemeinarznei, die »bereits Jahrhunderte« (und das ist bereits etwa 2000 Jahre her!) bei Krankheiten wie Tumoren und Parasiten zum Einsatz kommt.
Nein, wirklich neu ist der Nutzen von Jod, einem der wichtigsten Bestandteile der Meerespflanzen, also im 19. Jahrhundert nicht – anders die Erkenntnis, dass es seine Heilkraft ist, die die weitverbreiteten Schilddrüsenprobleme bessert. Denn dass Braunalgen bei einem Kropf, wie man die Krankheit des geschwollenen Halses mittlerweile nennt, helfen kann, ist bekannt. Nur das Warum, das erkannte man erst mit der Erforschung des Jods.
Es ist schließlich der Schweizer Mediziner Jean-François Coindet (1774–1834), der 1820 erstmalig für die medizinische Anwendung hergestelltes Jod zur Behandlung einer Schilddrüsenvergrößerung einsetzt, nicht wie bisher Algenasche. Die Euphorie um das Element, das im Periodensystem in der 7. Hauptgruppe der Halogene inmitten seiner chemischen Verwandten Fluor, Chlor, Brom und Astat Platz nimmt, kennt im Laufe des 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum Grenzen. Um 1850 stellt der Botaniker und Mediziner Gaspard Adolphe Chatin (1813–1901) schließlich die These auf, dass ein Kropf überwiegend dann entsteht, wenn dem Körper Jod fehlt. Es wird tatsächlich bis ins tiefe 20. Jahrhundert, um genau zu sein, bis 1985 dauern, bis diese Theorie wissenschaftlich belegte Wahrheit ist. Einige von Ihnen, liebe Leser, sind somit vermutlich Zeitzeugen gewesen!
Das Ende des Kretinismus-Leids
»Du Kretin« sagt man mitunter zu Leuten, die für dumm und ungebildet gehalten werden. Doch wissen Sie, woher das Schimpfwort stammt? Es ist angelehnt an den Begriff »Kretinismus«, der, geprägt um etwa 1800, ein zu dieser Zeit häufig vorkommendes Krankheitsbild bezeichnet. Typische Symptome sind Missbildungen und Zwergwuchs, dazu eine zurückgebliebene geistige Entwicklung. Die bemitleidenswerten Betroffenen mussten in Heilanstalten betreut werden. Dass diese Krankheit, ebenso wie Kröpfe, vor allem in den Alpenländern auftritt, ist kein Zufall: Algen und Seetang gibt es dort nicht und in Süßwasserfischen ist die Konzentration von Jod viel geringer als bei deren Verwandten im Meer. Zudem sind die Böden in der Schweiz und anderen Bergregionen jodarm, ebenso das dort angebaute Gemüse und Obst. Die Ursache des Kretinismus: Jodmangel und die damit einhergehende Fehlentwicklung der Schilddrüse. Doch dieser Erkenntnis nähern wir uns im Laufe des 19. Jahrhunderts erst langsam; der Schweizer Arzt Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863), der 1841 die »Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder« eröffnete, hielt in erster Linie – und fälschlicherweise – schlechte Hygienebedingungen für den Krankheitsauslöser.
Zum Ende des ausgehenden Jahrhunderts kam es zu einem enormen Vorwärtsschub für die moderne Jodtherapie: Der deutsche Apotheker und Biochemiker Eugen Baumann (1846–1896) erbrachte kurz vor seinem Tod den Nachweis von Jod in der menschlichen Schilddrüse. Sein eigenes Leben konnte diese Erkenntnis nicht retten, doch sie erleichtert und verlängert das Leben von Millionen anderen: Mit dem Wissen, dass die menschliche Schilddrüse ohne Jod erkrankt beziehungsweise sich bei Säuglingen, deren Mütter unter Jodmangel leiden, gar nicht erst richtig entwickeln kann, beginnt mit Beginn des 20. Jahrhunderts der Siegeszug gegen den grausamen Kretinismus. Doch was tun, um eine flächendeckende Versorgung aller Bewohner mit Jod sicherzustellen? Der in Zermatt tätige Schweizer Mediziner und Autor Dr. Otto Bayard (1881–1957) führt hierfür in Walliser Gemeinden ab 1918 Versuche mit durch Jod angereichertem Kochsalz durch. Auch diese Idee ist nicht neu; der französische Chemiker Jean-Baptiste Boussingault (1802–1887) hatte sie bereits 1825, doch es sollte fast 100 Jahre dauern, bis dieser simple wie geniale Ansatz Realität wurde. Ein Umstand, der den Medizinhistoriker Friedrich Merkel von einer »100-jährigen Leidensgeschichte, die peinlich berühre«4 sprechen lässt. Und wer hat’s dann doch noch erfunden? Die Schweizer.
Bayards Pilotprojekt wird schließlich ein voller Erfolg, die Anzahl von Kretin-Geburten verringert sich drastisch, Schilddrüsenerkrankungen gehen massiv zurück. Überzeugt von der Wirkung dieser Pionierarbeit, empfiehlt die durch das...