1 Ich bin wertvoll wie ein Schatz
Beim Stichwort »Selbstwert« kommt mir immer die Umkleidekabine in Bekleidungsgeschäften in den Sinn. Ein Ort, der – zumindest für Frauen – das Selbstwertgefühl gegen null bringen kann. Alle Problemzonen kommen im Licht der Umkleidekabine schonungslos zum Vorschein. Sämtliche Falten, Speckrollen, Cellulite-Dellen, Besenreiser zeigen sich mit gnadenloser Deutlichkeit. Das eben noch heiß ersehnte knappe und kurze Kleid sieht auf einmal überhaupt nicht mehr verführerisch aus. Unser innerer Feind des Selbstwertgefühls mischt sich lautstark mit seinen Kommentaren und Gedanken ein: »Mit der Figur kannst du sowas wirklich nicht tragen! Guck dich doch mal richtig an« oder »Der Lack ist ab. Du bist eben keine zwanzig mehr! Sieh’s endlich ein!« oder »Wie du inzwischen aussiehst, kannst du das Thema Sex bald abhaken. Welcher Mann sollte dich nackt noch anziehend finden?«
Ich vermute mal, dass es dem einen oder anderen Mann nicht so viel anders ergeht. Schonungslos zeigt sich, dass der Adonis-Körper Schnee von gestern ist. An die Stelle des einstigen Waschbrettbauchs ist nun eine männliche Rundung getreten, liebevoll von manch einem Mann auch »Feinkostgewölbe« genannt.
Auch die männliche Eitelkeit wird an diesem gnadenlosen Ort hart auf die Probe gestellt.
1.1 Der Feind in uns
Was zeigt diese erste Assoziation bei der Beschäftigung mit dem Thema Selbstwert? Wir richten unsere Aufmerksamkeit häufig zuerst auf die kritischen und den Selbstwert mindernden Aspekte. Sie stehen automatisch zuerst in unserem Fokus. Offenbar auch bei mir.
Uns selbst sind wir oft der größte Feind, nicht nur in puncto Äußerlichkeiten. Auch in alltäglichen Situationen oder im Job begegnen wir uns sehr kritisch und schwächen unsere eigene Wertigkeit, anstatt sie zu stärken. Wenn uns beispielsweise im Straßencafé ein Glas umfällt, meldet sich unser innerer Feind mit den Worten: »War ja klar, dass ausgerechnet dir das passiert. Du bist halt fahrig und tollpatschig!« Wir hätten auch denken können: »Kann passieren. Glücklicherweise ist nichts auf die Hose gelaufen!«
Berufliche Situationen sind nicht anders, im Gegenteil! Wir lassen kein gutes Haar an uns, wenn uns Fehler passieren, verfallen in Selbstzweifel, wenn der Chef uns kritisiert, reagieren unsicher und empfindlich auf Tuscheleien der Kollegen hinter unserem Rücken, zweifeln an unserer Kompetenz, wenn wir herausfordernde Aufgaben übertragen bekommen, nehmen Kritik persönlich …
Auch mir passiert das immer wieder. Manchmal bin ich beispielsweise unzufrieden mit meinen Schreibergebnissen des Tages. Dann höre ich meinen inneren Feind sagen: »Heute hast du ja mal wieder nicht viel geschafft. Wenn du so weitermachst, wird das nichts mit der pünktlichen Abgabe des Manuskripts beim Verlag. Jetzt reiß dich endlich mal zusammen und bleib dran.« Es hätte mir auch in den Sinn kommen können: »Du hast dich angestrengt. Mehr ging heute nicht. Morgen klappt es bestimmt wieder besser. Jetzt gönn dir erstmal eine Pause. Dann kriegst du auch wieder neue Ideen.«
1.2 »Schätzelein« – Vom inneren Feind zum inneren Geliebten
Glücklicherweise gelingt mir diese eher versöhnliche Sicht mittlerweile recht häufig. Ich habe mich mit meinem inneren Feind inzwischen angefreundet. Er meint es ja im Grunde gut mit mir. Er passt auf, dass ich nicht in Lethargie verfalle, dass ich mich nicht hängen lasse, dass ich äußerlich auf mich achte, dass ich für jedes Parkett tauglich bin … Ich habe mich deshalb irgendwann entschlossen, ihm liebevoll den Namen »Schätzelein« zu geben. Unsere Liaison ist ein wenig so wie eine Liebesbeziehung. Mal wird das gemacht, was er möchte, und ein anderes Mal das, was ich möchte. Zusammen sind wir ein gutes Team. Wir stärken uns gegenseitig, respektieren uns und die guten Absichten. Und wir sagen uns ehrlich und offen unsere Meinung. Nach einer Auseinandersetzung lachen wir über uns und versöhnen uns wieder. Wenn er mal zu sehr dazwischenfunkt, mich streng zurechtweist und klein machen will, sage ich mit meiner inneren Stimme zu ihm: »Schätzelein, lass gut sein. Ich sehe das jetzt anders als du.«
Ich empfehle diese versöhnliche Art des Umgangs mit dem inneren Feind des Selbstwerts. Wenn wir versuchen, gegen ihn zu kämpfen und ihn zu vernichten, scheitern wir. Er gehört seit unserer Kindheit zu uns und ist an vielen gut gemeinten, aber letztlich unsere Wertigkeit einschränkenden Erziehungsbemühungen und Erfahrungen im Leben gewachsen. Ihn vernichten zu wollen, würde uns unendlich viel Energie kosten. Besser, wir treten in einen kritischen und uns selbst schützenden Dialog mit ihm.
Eine kleine Übung am frühen Morgen vor dem Spiegel kann als erster Versuch für einen guten Umgang mit ihm helfen. Kaum jemand sieht morgens früh nach dem Aufstehen wirklich gut aus. Wenn uns das beim Blick in den Spiegel unweigerlich klar wird, ist unser Feind auch schon da und sagt vielleicht: »Du siehst ja heute Morgen wieder gruselig aus! Einfach zum Weglaufen.« Hier ist der Moment, wo wir »Schätzelein« in die Schranken weisen und stattdessen in einen wohlwollenden Dialog mit uns selbst treten sollten. Etwa so: »Schätzelein, sei jetzt mal still. Und – zum Spiegelbild – guten Morgen, Fremde(r). Ich kenne dich zwar nicht und sympathisch bist du mir auch noch nicht, aber ich mach dich jetzt erstmal zurecht und dann sehen wir weiter. Das kriegen wir hin, bestimmt.« Und damit haben wir unserem inneren Feind den Wind aus den Segeln genommen. Die erste Hürde des Tages zu einer positiven und wertschätzenden Einstellung zu uns selbst ist genommen.
1.3 Die wohlwollende Seite des inneren Feindes
Wie alles hat auch der innere Feind zwei Seiten. Lassen wir zu, dass er sein Unwesen zu sehr ausleben kann, gerät er in die Übertreibung und schadet uns damit. Unser Selbstwertgefühl leidet. Geben wir ihm aber dort Aufmerksamkeit, wo er uns mit seinem kritischen Blick auf uns an den richtigen Stellen ein wenig schubst und auf Trab hält, kann das durchaus motivierend und aufbauend sein. Unser Selbstwert steigt durch Erfolgserlebnisse, die wir möglicherweise erst dadurch erleben. Auch deswegen sollten wir ihn nicht vernichten.
Nehmen wir an, Ihr Chef will Ihnen eine neue und herausfordernde Aufgabe übertragen, vielleicht die Führung eines Teams. Sie trauen sich diese Aufgabe nicht wirklich zu und überlegen vielleicht sogar, sie abzulehnen. Jetzt kann es sein, dass Ihr innerer Feind Sie deutlich kritisiert: »Du alter Feigling. Ist klar, dass du wieder keine Traute hast. Wie letztes Mal auch, denkst du, du bist unfähig. Jetzt reiß dich zusammen, sei einmal mutig und geh es diesmal endlich an! Wenn es schiefgeht, hast du dazugelernt.« Das kann die andere Seite von ihm sein. Er kann auch wohlwollend sehr streng mit uns umgehen. Diese Seite sollten wir annehmen und ihm gut zuhören. Genau dadurch eröffnen wir uns Entwicklungschancen, die uns stärken. Wie in einer guten Partnerschaft, wo wir gut gemeint ab und an den Spiegel vorgehalten bekommen. Das zwingt uns zur Selbstreflexion. Dadurch können wir uns positiv weiterentwickeln.
Es ist wesentlich für uns, für unser Leben, dass wir uns gut um unser Selbstwertgefühl kümmern und es stärken.
Denn das wohl wichtigste Urteil, das wir fällen können, ist tatsächlich das Urteil über uns selbst. Wenn wir uns selbst wohlwollend sehen und mögen, eröffnen wir uns die Chance, auch mit den Stolpersteinen des Lebens gut und gesund umgehen zu können. Ein positiver Blick auf uns schafft Selbstsicherheit. Das bewirkt, dass wir an uns und das, was uns in unserem Wesen einzigartig und wertvoll macht, glauben. Wohlgemerkt, es geht um unser Wesen, das, was uns im Kern ausmacht. Es geht nicht um das, was wir leisten und erreichen.
Versuche nicht, ein erfolgreicher, sondern ein wertvoller Mensch zu werden.
Albert Einstein
Menschen, die sich selbst wertschätzen, sind zuversichtlich und schauen nach vorne. Sie sehen Belastungen, Krisen und Schwierigkeiten als weniger bedrohlich an und können Bewältigungsstrategien besser umsetzen. Sie glauben daran, für sich wirksam werden zu können. Sie fühlen sich den Herausforderungen des Lebens nicht hilflos ausgeliefert, denn sie glauben an ihre Möglichkeiten und Chancen. Auch wenn es schwierig ist. Und gerade, wenn es schwierig ist, ist das Empfinden hohen Selbstwerts die Plattform für gelingendes, erfolgreiches, zufriedenes und gesundes Leben.
1.4 Nichts gesagt ist eben nicht genug gelobt
Die jährlichen Gesundheitsberichte der Krankenkassen zeigen eine stetig zunehmende Zahl von Langzeiterkrankungen aufgrund psychischer Überlastung. Schaut man sich die Erklärungen der Ursachen an, so wird u. a. fehlende Wertschätzung und Anerkennung genannt. Das ist sehr bedauerlich, aber leider Fakt. Viele Menschen agieren nach dem Motto »Nichts gesagt ist genug gelobt!«. Im beruflichen wie im privaten Umfeld ist Selbstwertstärkung nicht an der Tagesordnung. Umso verstörender ist unser eigenes Verhalten, wenn wir einmal ein anerkennendes Lob erhalten. Es fällt vielen Menschen schwer, es ganz einfach dankend anzunehmen und sich darüber zu freuen. Schon auf ein simples Kompliment wie »Du hast aber einen schönen Pullover an« reagieren sie sich selbst abwertend mit »Och, der war ganz billig« oder »Ich weiß nicht. Findest du wirklich?«. Fühlen...