2 Die Psyche – zwei Blickwinkel
Wie erklären westliche und östliche Modelle die verschiedenen Geisteszustände in uns? In der westlichen Welt müssen wir uns stets beweisen oder vergleichen – selbst dann, wenn wir gerade etwas erfolgreich gemeistert haben. Häufig begleitet uns noch das Gefühl, wir hätten es noch besser machen können. Gleichzeitig leiden so viele Menschen unter mentalen Dysbalancen und psychischen Erkrankungen. Vielleicht öffnen sich deshalb so viele Menschen dem ganzheitlichen und spirituellen Ansatz des Ayurveda.
2.1 Das psychodynamische Modell
Wir wollen uns zunächst mit dem Modell der Psyche aus psychoanalytischer Perspektive beschäftigen.
Sigmund Freud, der Gründer der Psychoanalyse, teilte in seinem Werk »Die Traumdeutung« (1900) die Psyche in drei Systeme: das »Bewusste«, das »Vorbewusste« und das »Unbewusste«. Diese Anteile unterscheiden sich neben ihren unterschiedlichen Bewusstseinsgraden auch hinsichtlich ihrer Rolle in Konflikten.
Das Unbewusste ist »bewusstseinsunfähig«, es kann also auch willentlich nicht einfach ins Bewusstsein geholt werden. Hier befinden sich zum einen Inhalte, die uns noch nie bewusst waren, wie unsere Triebimpulse. Zum anderen finden sich verdrängte Inhalte, denn manche Dinge, die für unser Bewusstsein unerträglich wären und die wir nicht aushalten würden, werden von unserer Psyche ins Unbewusste verdrängt.
Das Vorbewusste dagegen kann im Gegensatz zum Unbewussten unter gewissen Umständen ins Bewusstsein gelangen. Das Vorbewusste steht sozusagen zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten. Inhalte, die sich im Vorbewussten befinden, hat man zwar gerade nicht präsent; wenn man jedoch die Aufmerksamkeit darauf lenkt, kann man sich diese Inhalte bewusst machen.
Das Bewusste nimmt Informationen aus der Außenwelt sowie der eigenen Innenwelt wahr. Meist bleiben Inhalte jedoch nur kurzzeitig bewusst.
Freud hat später sein Modell erweitert und diesen Bewusstseinsebenen drei Instanzen zugeordnet: das Es, Ich und Über-Ich. Im Spannungsfeld dieser drei Ebenen entwickeln sich die Dynamik und die Konflikte unserer Psyche.
Das Es Das Es ist der unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit. Es wird durch unsere Triebbedürfnisse mit Energie gefüllt und folgt dem Bestreben, diese zu verwirklichen.
Das Ich Das Ich ist die Region unserer Psyche, in der das Bewusstsein entsteht. Unser Bewusstsein ist für die Wahrnehmung zuständig und dabei sowohl für Erregungen von außen als auch für Erregungen von innen empfänglich. Es organisiert unsere gesamten psychischen Vorgänge und versucht, sie miteinander sinnvoll zu koordinieren. Allerdings ist das Ich dynamisch gesehen schwach, es erhält seine Energie vom Es, handelt in seinem Auftrag. Darum muss das Ich auch ein Stück weit die Absichten des Es durchführen.
Das Über-Ich Im Verlauf unserer Entwicklung bildet sich im Ich eine weitere Instanz, die sich dann vom Ich abtrennt, das sogenannte Über-Ich. Es orientiert sich an der Erziehung durch die Eltern sowie gesellschaftlichen Normen und Werten und stellt so eine verinnerlichte Außenwelt dar. Das Über-Ich hat eine gewisse Selbstständigkeit, eigene Absichten und ist in seinem Energiebesitz unabhängig vom Ich, es bezieht seine Energie auch aus den Idealen, die es übernommen hat. Seine Funktionen sind das Beobachten, Richten und Strafen. Beispielsweise in melancholischen Zuständen wird das Über-Ich überstreng, beschimpft, erniedrigt und misshandelt das Ich. Eine weitere Funktion des Über-Ichs ist das sogenannte Ich-Ideal. An diesem messen wir uns, streben ihm nach. Wenn wir das Ich-Ideal nicht erfüllen, kommt es zu Minderwertigkeitsgefühlen. Wir genügen dann unserem Über-Ich nicht.
2.2 Unsere seelische Programmierung
Wir können uns die Funktionsweise unserer Psyche auch vereinfacht mit dem Bild eines Flusses in seinem Flussbett vorstellen.
Wie das Wasser in einem Fluss ganz automatisch das Flussbett entlangfließt, entscheiden und agieren wir im Laufe unseres Lebens auch verstärkt »automatisch«, ohne dass wir intensiv darüber nachdenken müssen. Wir handeln, denken und fühlen immer stärker geprägt von unseren vorherigen Erfahrungen. Das ist auch gut so, da es sonst sehr schwierig für uns wäre, den vielfältigen und häufig auch gleichzeitig auf uns einwirkenden Anforderungen unseres Lebens gerecht zu werden. Das bedeutet, es entwickelt sich im Laufe unseres Lebens so etwas wie eine psychische Programmierung. Nicht nur in unserem Gehirn, in dem wir abspeichern, wie man liest, schreibt und rechnet, sondern auch in unserer Psyche speichern sich Erfahrungen und Erlebtes ab. Die psychische Programmierung entsteht durch alle Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen. Gemeint sind wirklich alle Erfahrungen, also auch die, die wir ganz früh in unserem Leben machen, bevor wir sprechen können. All das entscheidet darüber, wie unsere ganz individuelle Programmierung aussieht und diese Programmierung wiederum beeinflusst, wie wir denken, fühlen und uns verhalten.
Wir kennen es aus unserem Alltag, dass Menschen in vergleichbaren Situationen sehr unterschiedlich reagieren. Bekommen drei Kollegen die gleiche negative Rückmeldung vom Chef, wird ein Kollege vielleicht sehr verzweifelt reagieren, eine andere Kollegin wird sauer werden und einer dritten Kollegin macht es gar nichts aus. Solche Unterschiede können wir zumindest zum Teil durch Unterschiede in der psychischen Programmierung erklären. So hat der mit Verzweiflung reagierende Kollege vielleicht abgespeichert, dass andere ihn unterstützen, wenn er genau in dieser Stimmung ist, die andere Kollegin, dass sie sich mit Wut am besten durchsetzen kann, und die dritte Kollegin, dass es sowieso keinen Einfluss hat, was sie tut.
Unsere psychische Programmierung führt dazu, dass wir Gefühle und Denkweisen aus einer früheren Situation in einer aktuellen wieder genauso empfinden, obwohl die Gefühle gar nicht unbedingt passen oder zumindest in ihrem Ausmaß nicht angemessen sind. Unter Umständen verstehen wir gar nicht, warum wir gerade so denken oder fühlen, denn es läuft ja automatisch ab, ist durch unsere psychische Programmierung so vorherbestimmt. Diese Prozesse, die wir uns rational gar nicht wirklich erklären können, bezeichnen wir als unbewusst.
2.2.1 Unsere innere Programmierung ist wie ein Flusslauf
Den Prozess des Abspeicherns können wir uns anhand der Flussmetapher gut vorstellen. So ist das Abspeichern ähnlich einem Fluss, der sich immer tiefer in sein Flussbett gräbt. Jede weitere Erfahrung, die wir abspeichern, gibt unserer psychischen Struktur eine ganz bestimmte Richtung, wie das Wasser des Flusses die Beschaffenheit und den Verlauf des Flussbettes prägt. Wenn an einer engen Stelle das Wasser mit erhöhtem Druck fließt, wird dort das Flussbett immer tiefer und werden an dieser Stelle immer mehr Wassermassen fließen. Genauso wird die Art und Weise, zu denken, zu handeln und zu fühlen, die unsere psychische Programmierung häufig durchlebt und somit abspeichert, mit höherer Wahrscheinlichkeit wieder ablaufen. Und umso schwieriger wird es auch, auf eine andere Art und Weise zu denken, zu handeln oder zu fühlen.
2.2.2 Die psychische Programmierung sollte anpassungsfähig sein
Bei den drei Kollegen aus unserem Beispiel hat sich der Hauptfluss oder eben die psychische Programmierung unterschiedlich entwickelt, weil sie unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Für alle drei ist das, was sie tun, passend und vielleicht führt es sie auch zu ihrem Ziel oder hat zumindest früher zum Ziel geführt. So wurde sich in seiner Kindheit um den ersten Kollegen in seiner Verzweiflung vielleicht besonders gut gekümmert, die zweite Kollegin bekam als Reaktion auf ihren Ärger ebenfalls die erwünschte Aufmerksamkeit und die dritte wurde, wie erhofft, einfach in Ruhe gelassen. Möglicherweise ist dies auch heute in der Situation mit dem Chef noch der Fall. Aber es gibt auch Situationen und Kontexte, in denen das beschriebene Verhalten weniger passend ist und nicht unbedingt zum Ziel führt. Viele der Verhaltensweisen, die möglicherweise in Kindertagen noch zielführend waren, erweisen sich im Erwachsenenleben als eher unpassend. Ein spezifisches Verhalten der psychischen Programmierung, das vielleicht zu einem Zeitpunkt sehr sinnvoll gewesen ist, muss sich aber im Verlauf unserer inneren Reife weiterentwickeln.
Wenn wir zu einem späteren Zeitpunkt in unserem Leben erneut so wie in unserer Kindheit handeln, kann das darin begründet sein, dass wir uns wieder ähnlich fühlen wie zu einem früheren Zeitpunkt in unserem Leben. Muss beispielsweise ein Kind nach einem Umzug in eine neue Schule gehen, erlebt es vielleicht große Ängste, fühlt sich so hilflos und klein wie zu der Zeit, als es wirklich noch klein war. Dann möchte das Kind eventuell wie damals bei der Mutter im Bett schlafen. Und auch wenn wir einen neuen Job anfangen und zum ersten Mal ins neue Büro gehen, fühlen wir uns vielleicht unsicher und wünschen uns eventuell, an die Hand genommen zu werden, wie wir es aus früheren Tagen kennen. Vielleicht benötigen wir dann am Abend davor besonders viel Zuneigung. Wir werden in diesem bestimmten, kleinen Bereich unseres Denkens, Fühlens und Handelns wieder »kleiner«, weil eine neue...