In Spanien ist der 6. Januar – das Epiphaniasfest – der wichtigste Tag in der Weihnachtszeit, er markiert die Ankunft der Heiligen Drei Könige in Betlehem. Es ist ein Tag, an dem man Geschenke austauscht. Am 6. Januar 2003 begann ich als Praktikant im Tropenhaus der Gärtnerei von Kew. Es war das beste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen habe.
Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Tag. Es war Spannung pur von morgens bis abends – oder zumindest empfand ich es so. Nach einer kurzen Einführung wurde ich dem Bereich mit den Aronstabgewächsen zugeteilt. Aronstabgewächse sind eine Gruppe von Pflanzen, die einen mittigen Stab ausbilden, an dem die Blüten sitzen, und der von einem Hochblatt umgeben ist. Anthurien gehören dazu, genau wie das bekannteste unter ihnen, Amorphophallus titanum – die Titanwurz –, die wir in Kew kultivieren.
Und stellen Sie sich vor, ein Wissenschaftler, der an dem Fortpflanzungsprojekt von Ramosmania rodriguesi arbeitete – eben jener vom Aussterben stark bedrohten Pflanze aus der Zeitung, die ich in der U-Bahn gefunden hatte –, hatte darum gebeten, sechs von diesen Pflanzen in dem Bereich mit den Aronstabgewächsen aufzustellen, damit sie von den anderen Exemplaren getrennt wären. Obwohl sie keine Aronstabgewächse waren, würde ich mich also auch um diese Pflanzen kümmern. Das war wohl so etwas wie Schicksal.
Ich war nervös. Alle Pflanzen dieser Sammlung – etwa 500 Spezies – mussten von Hand mit einem Schlauch und einer Gießbrause bewässert werden. Jede Art hat andere Ansprüche, und man musste selbst einschätzen, wie viel Wasser jede einzelne Pflanze benötigte. Eine kürzlich umgetopfte Pflanze braucht weniger als eine, die schon länger nicht mehr umgetopft wurde, weil das Verhältnis Wurzel-Erde unterschiedlich ist. Man musste schon am frühen Morgen viele Entscheidungen treffen, und das schnell und richtig. Ich fühlte mich damit besser, als ich dachte. Es war eigentlich dasselbe, wie eine Bar zu führen oder Sommelier zu sein, nur dass man hier nicht Menschen, sondern Pflanzen die Getränke servierte. Ich musste das umsetzen, was ich bereits über das Bewässern von Pflanzen wusste, aber in einem Ausmaß, wie ich es nie zuvor versucht hatte. Allein die Größe der Pflanzen, ihre Anzahl, Vielfalt, Diversität und die verschiedenen Arten von Erde machten diese Tätigkeit zu einer fast nicht zu bewältigenden Herausforderung.
Das Praktikum dauerte drei Monate. Man erwartete von mir, dass ich so viel wie möglich über die Pflanzen lernte, die ich sah, vor allem über die, mit denen ich arbeitete – wie man sie vermehren konnte, wie man ihre Krankheiten behandelte … Außerdem sollte ich mir die speziellen Techniken und Verfahren von Kew aneignen. Das Aufgabenfeld war so weitgefächert, dass es sich endlos anfühlte (und immer noch anfühlt). Im Tropenhaus der Gärtnerei gibt es 21 Gewächshäuser mit etwa 44 000 Pflanzen. Selbst nach einem Monat hatte ich das Gefühl, ich hätte gerade mal einen flüchtigen Blick auf einen winzigen Teil der Sammlung geworfen. Aber dafür hatte ich die Qual der Wahl, von wem ich lernen wollte: Es gab dort etwa zwanzig Experten, die ich mit der Zeit kennenlernte, außerdem Vertragspartner, Besucher aus anderen Abteilungen, Praktikanten, Volontäre, Mitarbeiter und Forscher. »Plants, people, possibilities« – Pflanzen, Menschen, Möglichkeiten – war das damalige Motto von Kew, das perfekt zusammenfasst, worum es an diesem Ort geht.
Die verantwortungsvollste Aufgabe war die Pflege der Pflanzen mit einem roten Punkt auf dem Etikett, denn das bedeutete, dass sie vom Aussterben bedroht waren. Ich musste ihnen regelmäßig Samen entnehmen, um sie für die Samenbank zu sammeln, da sie äußerst selten angepflanzt wurden. Ihr Überleben musste garantiert sein. Es handelt sich hier eben nicht um die übliche Sammlung, wie man sie in jedem botanischen Garten findet, sondern um eine mit seltenen, kostbaren Pflanzen. Das Entnehmen der Samen war eine monotone Arbeit, aber für mich unschätzbar wertvoll, weil ich so jede Pflanze und ihre individuellen Bedürfnisse kennenlernen konnte.
Kurz vor Ende meines Praktikums hatte ich das große Glück, dass eine zeitlich befristete Stelle als Pflanzenvermehrer in der temperierten Abteilung der Gärtnerei und der Baumschule ausgeschrieben wurde. Ich bewarb mich und bekam den Job. Obwohl diese Aufgabe ein großer Schritt vorwärts war, bemerkten einige in Kew das Selbstvertrauen, mit dem ich an an sie heranging. Vielleicht erkannten sie, dass ich für das Vermehren von Pflanzen ein Auge hatte, ja eine Art sechsten Sinn. Dank der Sammlung meiner Mutter und ihrer Erklärungen besaß ich fast immer bereits etwas Erfahrung mit einem Verwandten der Pflanze, um die ich mich kümmerte, sei es ein Farn, eine Bromelie, ein Aronstabgewächs oder eine Konifere. Mein Job war zwar eigentlich in der Gärtnerei angesiedelt, aber ich vermehrte alles Mögliche: Bäume aus dem Palmenhaus, Sträucher aus dem Haus der gemäßigten Klimazonen und winterharte Pflanzen aus buchstäblich allen Ecken des botanischen Gartens. Auch ums Überleben kämpfende, kränkelnde oder schwache Exemplare wurden neu gezogen, entweder durch Stecklinge oder aus Samen. Viel hing dabei von der Art, der Jahreszeit, dem Zustand des Exemplars und der Menge an verfügbarem Material ab. Es war wichtig, einen Plan für jede Vermehrungsanforderung zu haben (die von den Managern der jeweiligen Bereiche formuliert wurde). Daher war ich oft mit Noelia Alvarez, der Teamleiterin, schon früh am Morgen unterwegs, im Allgemeinen in einem Elektro-Buggy, um das Pflanzenmaterial einzusammeln. Unsere Gespräche liefen ähnlich ab wie bei der Arztvisite im Krankenhaus: Wir unterhielten uns über unsere Patienten, ihre Verfassung und was wir tun konnten, um ihnen zu helfen. Wenn die Pflanze sich im öffentlichen Ausstellungsbereich befand, mussten wir das Material sehr vorsichtig entnehmen, um ihr Aussehen nicht zu beschädigen. Gelegentlich kam eine besondere Anfrage. Einmal suchte man für den Buckingham Palace eine seltene Maulbeerbaumart, Morus cathayana, um sie der königlichen Sammlung von Maulbeerbäumen hinzuzufügen. (Die Blätter der Maulbeerbäume sind die einzige Nahrungsquelle für Seidenraupen.)
Kew hat so viele vom Aussterben bedrohte Pflanzen in der Sammlung, darunter auch den Café-Marron-Baum, dass ich weiter mit diesen Arten zu tun hatte, obwohl ich nun nicht mehr im Tropenhaus der Gärtnerei arbeitete. Fast jeden Tag konnte ich beobachten, wie neue Triebe durch die Erdoberfläche stießen oder Wurzeln unten aus den Töpfen im Befeuchter hervorkamen, ein sicheres Zeichen dafür, dass der Steckling Wurzeln geschlagen hatte. Die unglaubliche Vielfalt an Pflanzen, mit denen ich arbeitete und die ich vermehrte, war beeindruckend, aber auch erfreulich.
Das Auswahlverfahren für das Kew-Diplom in Gartenbau begann, und ich hatte das Glück, zu einem Gespräch eingeladen zu werden. Auf dreißig Bewerber, die den Anforderungen entsprachen, kamen nur zwölf bis vierzehn Plätze.
Das Kew-Diplom ist eine der angesehensten Qualifikationen in Gartenbau weltweit. Der dreijährige Kurs verbindet praktische Erfahrung mit einem Theoriestudium, und der Unterricht findet auf höchstem Niveau statt. Man arbeitet im botanischen Garten an neun verschiedenen Orten, zieht alpine Pflanzen groß, klettert in Bäume und arbeitet mit Pflanzen aus der feuchten und der trockenen Zone. Man hat Blockvorlesungen in Naturwissenschaften, Landschaftsarchitektur und Pflanzenbestimmung. Es ist wie ein Studium in Oxbridge, Harvard, Leiden oder an der Universität von Barcelona. Die Ausbildung bringt einen an seine Grenzen, aber obwohl sich keiner das zweimal antun würde, profitiert man langfristig gesehen ungeheuer davon.
In dem Jahr, in dem ich mich bewarb, filmte die BBC für die Serie »A Year at Kew« (»Ein Jahr in Kew«). Dafür wollte man auch das Aufnahmeverfahren aufzeichnen. Als ich auf dem Weg zur Prüfung an einer Ampel stehen blieb, filmte die BBC mit. Ich hatte also nicht nur verschiedene Aufgaben zu erfüllen, sondern lernte auch, was es hieß, unter Beobachtung der Medien zu stehen. Es würde ein langer Tag werden.
Mein Lebenslauf war nicht gerade beeindruckend, aber die Tatsache, dass ich bereits in den Kew Gardens arbeitete, bedeutete, dass das Auswahlgremium wusste, was ich konnte und was es zu erwarten hatte.
Als Erstes stand ein Pflanzenbestimmungstest auf dem Programm. Ich wurde in ein kleines Gewächshaus mit dreißig nummerierten Pflanzenproben geführt. Meine Aufgabe bestand nun darin, von allen Gattung, Namen, Spezies, Familie (wenn bekannt) und den gebräuchlichen Namen anzugeben. Bei einigen handelte es sich um ganz normale Gartenpflanzen, andere waren weniger bekannt. Während ich jede Pflanze genau untersuchte, wurde mir bewusst, dass die normalen die vertracktesten waren, weil man bei diesen niemals die Familie nennt oder den lateinischen Namen verwendet. Ich vertraute auf mein Bauchgefühl und versuchte, ruhig zu bleiben – was nicht ganz einfach ist, wenn so viel auf dem Spiel steht.
Wir wechselten dann zu einem Tisch mit einer zufällig ausgewählten Pflanze, neben der sich eine Auswahl an Schneidwerkzeugen, Töpfe verschiedener Größen und einige Hilfsmittel zur Unterstützung des Wurzelwachstums befanden, wie ein Benebelungstisch und eine Schale mit Kompost.
»Können Sie diese Pflanze vermehren?«, fragte ein Mitglied des Auswahlgremiums.
»Sicher!«, sagte ich und griff zu einem Messer. Sofort wurde nachgefragt.
»Warum verwenden Sie das Messer und nicht das Skalpell oder die Gartenschere?«
Sie wollten erfahren, was ich dachte, nicht nur...