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E-Book

Erinnert euch an mich. Über Nestor Machno

Porträt des ukrainischen Anarchisten

AutorMark Zak
VerlagEdition Nautilus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783960540861
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
'In der Tat gab es wohl wenig Menschen, die auf ein so wildbewegtes und abenteuerliches Leben zurückblicken konnten.' Rudolf Rocker, deutscher Publizist und Anarchist (1873-1958) Von der sowjetischen Geschichtsschreibung zum Mörder und Banditen degradiert, von den Anarchisten in aller Welt als Held, als ukrainischer Che Guevara verherrlicht, hat Nestor Machno (1888-1934), der Führer der legendären Volksbewegung und Bauernarmee Machnowtschina, den Ausgang des russischen Bürgerkriegs entscheidend beeinflusst. Unter der schwarzen Fahne der Anarchie führte Machno von 1918 bis 1921 einen kompromisslosen Partisanenkrieg gegen Alle - gegen Anhänger des Zaren, Bolschewiken, ukrainische Nationalisten, deutsche und österreich-ungarische Truppen - und für die kollektive Selbstverwaltung der Bauern und Arbeiter in einer herrschaftsfreien staatenlosen Gesellschaft. Aus Memoiren, Berichten, Verhörprotokollen und Briefen von Zeitzeugen hat Mark Zak ein vielstimmiges Porträt des überlebensgroßen Bauernführers zusammengestellt.

Mark Zak, Schauspieler und Autor, wurde 1959 in Lwiw (Lemberg) geboren, wuchs in Odessa auf und kam 1974 mit seiner Familie aus der UdSSR nach Westdeutschland. Er lebt heute in Köln. 2013 erschien sein Krimi 'Glaube Liebe Mafia', der im selben Jahr als Hörspiel im WDR gesendet wurde. 2017 schrieb er für den Deutschlandfunk das Feature 'Erinnert euch an mich. Machno und seine anarchistische Armee', aus dem dieses Buch entstand. Bini Adamczak lebt in Berlin und arbeitet als Autorin und Künstlerin zu politischer Theorie, queerfeministischer Politik und der vergangenen Zukunft von Revolutionen. Zuletzt erschien von ihr 'Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende' (Berlin 2017) und 'Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom womöglichen Gelingen der Russischen Revolution' (Münster 2017).

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Leseprobe

1904–1910


Nasar Sujtschenko, Bauer und Anarchist aus Gulajpole

Das war Anfang 1904. Ich arbeitete beim Kerner-Werk und war dort Mitglied in der Laientheatergruppe. Eines Tages kommt Nestor Machno zu mir und bittet darum, ihn als Schauspieler aufzunehmen. Na, was soll man da noch überlegen? Wenn schon das Publikum belustigen, dann richtig! Der ist wie ein Däumling, reicht mir gerade bis zum Gürtel. Wir haben ihn aufgenommen. Die ganze Laienspielgruppe wurde Teil der (anarchokommunistischen, A.d.Hg.) Organisation, mit ihr zusammen kam auch Nestor Machno zu uns.

Rudolf Rocker, deutscher Publizist und Anarchist

Machno war ein geborener Rebell, der sich früh gegen die »Tyrannei der Umstände« aufbäumte, unter denen er zu leben gezwungen war. Doch erst nach dem Ausbruch der Revolution von 1905 bekam er erste Fühlung mit der äußeren Welt und schloss sich als Siebzehnjähriger den kommunistischen Anarchisten an. Von Natur aus wagemutig bis zur Verwegenheit, beteiligte er sich an einer ganzen Reihe revolutionärer und gefahrvoller Unternehmungen, bis er 1908 der zaristischen Polizei in die Hände fiel.

Trotz der Bemühungen, die Industrialisierung voranzutreiben, war Russland bis zur Revolution 1917 ein im Verhältnis zu seiner Größe und Einwohnerzahl rückständiges Agrarland geblieben.

Noch im Jahr 1913 machte der Bauernstand 85 % der gesamten russischen Bevölkerung aus. Selbst im verhältnismäßig industrialisierten Südosten der heutigen Ukraine lag der Anteil der Bauern bei 80 %. (Zum Vergleich: in Deutschland waren ca. 25 % der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt.)

Auch die Organisation des sozialen und ökonomischen Zusammenlebens der russischen Bauern unterschied sich grundsätzlich und wesentlich von der in Mittel- und Westeuropa.

Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 wurde das Land nicht an die einzelnen Bauern verteilt, sondern der Dorfgemeinschaft, der »Obschtschina« zur Selbstverwaltung übergeben. Die Bauern besaßen kein Eigentum, sondern nur Nutzungsrechte. Dieser Obschtschina, auch »Mir« genannt, gehörten alle Bauern eines Dorfes an.

Die Anbauflächen und die Produktionsmittel gehörten dem »Mir«, wurden entsprechend der Bodenqualität in Nutzflächen aufgeteilt und unter den Haushalten gemäß der Personenanzahl egalitär verteilt. Rein ökonomisch gesehen war diese Produktionsweise per se äußerst ineffektiv. Die Parzellierung der Nutzflächen – manche Bauern mussten bis zu dreißig voneinander entfernte Nutzflächen bearbeiten – schmälerte die Produktivität erheblich.

Auch minderte die ständige Landumverteilung das Interesse und die Eigeninitiative der Bauern, Maßnahmen zu ergreifen, um die Bodenbeschaffenheit langfristig zu verbessern.

So verwundert es nicht, dass auch fünfzig Jahre nach Ende der Leibeigenschaft der Getreideertrag pro Hektar Land, laut statistischer Erhebungen 1913, in Deutschland, Holland oder Großbritannien drei Mal höher war als in Russland.

Dazu kommt, dass die 1861 geplanten Reformen, wie fast immer in Russland, nur halbherzig und dilettantisch durchgeführt worden waren. Das inzwischen geflügelte Wort des russischen Präsidenten Tschernomyrdin über die Geldreform von 1993, »gewollt war das Beste, aber es kam wie immer«, ist heute wie damals aktuell.

Die Dorfgemeinschaften bekamen nicht genügend Anbauflächen zugewiesen, zudem litten die Bauern unter enorm hohen Steuern, Ablösezahlungen und Schuldzinsen. Für die gleiche Landfläche mussten die Bauern in manchen Gegenden insgesamt bis zu fünf Mal so viele Abgaben wie die Großgrundbesitzer zahlen. All das führte zu großen Problemen in der Landwirtschaft und war mitverantwortlich für die vielen Hungersnöte – 1873, 1880, 1883, 1889–1892, 1898, 1901, 1905–1906, 1907, 1911. Bei den großen Hungersnöten 1891–1892 litten bis zu 30 Millionen Menschen an Hunger, 1897–1898 etwa 27 Millionen. Die Not der Bauern hinderte das Zarenreich übrigens nicht daran, weiterhin Getreide zu exportieren.

Leo Tolstoi, russischer Schriftsteller

Wir, die Erwachsenen, wenn wir nicht verrückt sind, könnten eigentlich verstehen, warum das Volk hungert. Der Hunger kommt – und das weiß jeder Bauer:

1) vom Landmangel, daher dass die Hälfte des Grund und Bodens den Großgrundbesitzern und den Kaufleuten gehört, die mit Land und mit Brot handeln

2) von den Fabriken mit jenen Gesetzen, bei denen der Kapitalist geschützt wird, aber der Arbeiter nicht

3) vom Wodka, der dem Staat die größten Einnahmen beschert und dem Volk seit Jahrhunderten angewöhnt worden ist

4) von der Wehrpflicht, die die besten Leute im besten Alter wegnimmt

5) von den Beamten, die das Volk unterdrücken

6) von den Abgaben

7) von der Unwissenheit, die von den staatlichen und kirchlichen Schulen bewusst aufrechterhalten wird.

Nach statistischen Angaben von 1913 waren 732 von 1000 Menschen im europäischen Teil Russlands Analphabeten. Zum Vergleich: in Deutschland waren es 20, in Belgien 2.

Michail Menschikow,

Publizist, Ideologe der russischen nationalistischen Bewegung

Mit jedem Jahr wird die russische Armee, was die körperliche Verfassung betrifft, immer unfähiger und kränker. Es ist schwer, von drei Burschen einen auszusuchen, der diensttauglich wäre. Die schlechte Ernährung im Dorf, das Wanderleben als Lohnarbeiter, frühzeitige Eheschließungen, die eine harte Arbeit fast noch im Jünglingsalter abverlangen – das sind die Gründe für die physische Erschöpfung. Rund 40 % der Rekruten haben beim Militärdienst zum ersten Mal in ihrem Leben Fleisch gegessen.

An Unterernährung und Krankheiten starben Millionen von Menschen. Laut Statistik von 1913 litten in Russland mehr als 21 Millionen Bürger (fast 20 %) an epidemischen und ansteckenden chronischen Krankheiten (Cholera, Diphtherie, Malaria, Krätze, Milzbrand u.a.). Durchschnittlich gab es auf dem Land einen Arzt für 26.000 Menschen, elf Mal weniger als in Deutschland und 16 Mal weniger als in den USA. 262 von 1000 Neugeborenen starben bis zum ersten Lebensjahr in Russland, durchschnittlich etwa drei Mal so viele wie in Westeuropa und den USA.

So verwundert es nicht, dass die spontanen lokalen Aufstände und Meutereien der verzweifelten Bauern an der Tagesordnung waren. Allein in den Jahren 1900–1904 zählten die zaristischen Behörden bis zu 670 Bauernrevolten, die in der proletarisch-bäuerischen Revolution 1905 kulminierten. Vom März bis September desselben Jahres hielten die Behörden über 1000 Bauernerhebungen fest, etwa 16.000 Gutshäuser wurden in Brand gesetzt oder ausgeraubt. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, aber die russische Regierung merkte allmählich, dass sie die Kontrolle über die Bauern verlor, und suchte nach einer Lösung.

1906 begann die nach dem russischen Premierminister Stolypin benannte Stolypinsche Agrarreform. Sie gewährte den Bauern das Recht, ihre Dorfgemeinschaft freiwillig zu verlassen und ein eigenes Grundstück zu erhalten.

Pjotr Stolypin, russischer Premierminister 1906–1911

Das Ziel der Regierung ist klar definiert: die Regierung möchte den bäuerlichen Landbesitz aufbauen. Sie möchte einen reichen, wohlhabenden Bauern, denn da, wo Wohlstand ist, ist auch Bildung und wahre Freiheit.

Um unser Zarenreich basierend auf seinen festen monarchistischen Grundsätzen umzugestalten, brauchen wir dringend einen starken Privateigentümer, der die Entwicklung der revolutionären Bewegung verhindern wird.

Doch viele, vor allem arme Bauern wehrten sich gegen die Reform. Denn unabhängig von der wirtschaftlichen Ineffizienz förderte die Dorfgemeinschaft ein sehr ausgeprägtes kollektives Bewusstsein, eine tiefgreifende Solidarität und ein starkes Gemeinschaftsgefühl in der Landbevölkerung.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Das Jahr 1905 brach an, mit Massenaufständen im ganzen Land. Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich, verbotene politische Untergrund-Literatur zu lesen. Während der ersten Monate des Jahres, als die aufständische Bewegung auf dem Höhepunkt war, geriet ich unter den Einfluss der Sozialdemokraten. Ihre sozialistische Phraseologie, ihre vorgetäuschte revolutionäre Leidenschaft verführten und täuschten mich. Ohne jegliche Furcht verteilte ich große Mengen sozialdemokratischer Flugblätter, die zum Kampf gegen den Zaren und zur Errichtung einer Republik aufriefen.

Anfang 1906 lernte ich zufällig eine kleine...

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