2.1 | Aus Problemen und Fehlern lernen |
Stellen Sie sich vor, Sie wären der CEO eines Unternehmens, welches sich in folgender Situation befindet:
Der Kapitalmarkt steckt in einer Phase, in welcher es für Ihr Unternehmen nahezu unmöglich ist, die Kapitalbasis zu erweitern. Die Finanzierung von Investitionen in neue Maschinen ist nicht möglich. Der Finanzierung des Umlaufvermögens sind außerordentlich enge Grenzen gesetzt. WIP-Bestände (WIP = Work in Process) zu finanzieren ist nur sehr begrenzt möglich.
Ihre Mitarbeiter haben eine starke Gewerkschaft, die gerade eine lebenslange Beschäftigung der Mitarbeiter in Ihrem Unternehmen erreicht hat. Eine Reduzierung der Belegschaft ist aufgrund des Durchschnittsalters für die nächsten 40 Jahre fast unmöglich.
Der Markt, in welchem Sie erfolgreich Ihre Produkte verkaufen können, erfordert die Produktion kleiner Stückzahlen bei hoher Varianz. Die verfügbare Technologie erlaubt aber aus wirtschaftlicher Sicht nur eine Massenproduktion. Die vom Markt geforderten geringen Stückzahlen lassen sich jedoch nur zu Preisen herstellen, die der Markt nicht akzeptieren würde.
Was würden Sie tun, um diese schwierige Situation zu bewältigen? Für viele Manager würde sich dies als eine ausweglose Situation darstellen, und die einzig angemessene Verfahrensweise wäre der Gang zum Konkursrichter. Aber genau dies war die Situation, in welcher sich Toyota zu Beginn der Entwicklung des Lean Managements befand (die folgenden Ausführungen beruhen auf [27]).
Work in Process (WIP): unfertige Teile und Komponenten inklusive Rohmaterial, welches sich im Produktionsprozess befindet
Im Japan der Nachkriegszeit litt das Land unter einer schweren Inflation. Kapital für Investitionen und ausländische Devisen waren für die Unternehmen äußerst knapp. Hinzu kam die dadurch ausgelöste Nachfrageschwäche auf dem Markt für Endprodukte. Damit war für die Unternehmen der Erwerb westlicher Produktionstechnologie sehr eingeschränkt. Der Zugang zu Kapital aus dem Ausland wurde durch das Verbot der Regierung für ausländische Direktinvestitionen in die japanische Autoindustrie verhindert. Der Import ausländischer Fahrzeuge wurde durch hohe Zollschranken begrenzt.
Die zur Bekämpfung der Inflation eingesetzte Politik der restriktiven Handhabung der Kreditvergabe führte zu einer ausgeprägten Rezession, die Toyota fast an den Rand des Konkurses gebracht hatte. Konsequenz war die Entlassung einer hohen Zahl von Mitarbeitern. Ein Viertel der Belegschaft wurde entlassen, die übrigen Mitarbeiter erhielten zwei Garantien: lebenslange Beschäftigung (das Alter der Mitarbeiter lag zwischen 18 und 22 Jahren) und ein System zur Bonuszahlung, das weniger auf die Funktion als auf die Zugehörigkeit zum Unternehmen abgestellt war. Kiichirō Toyoda, der damalige Präsident, übernahm die Verantwortung für diese schwere Krise des Unternehmens und trat von seiner Position zurück.
Die damals vorherrschende Technologie für die Fahrzeugproduktion war die Massenproduktion in den USA. Kernelement dieser Technologie waren Pressen für die Herstellung der Karosserieteile. Aufgrund der Umrüstzeiten von etwa einem ganzen Arbeitstag waren große Losgrößen erforderlich, um wirtschaftlich zu arbeiten. Notwendig war für die produzierten großen Stückzahlen auch ein Markt, der diese aufnehmen konnte. Die Hersteller in den USA, wie Ford, Chrysler oder GM, hatten diesen Markt. Für diese Unternehmen war die Massenproduktion die „perfekte“ Technologie. In Japan hingegen forderte der Markt geringere Stückzahlen bei hoher Varianz neuer Modelle, die aber nicht nach der damals noch existierenden handwerklichen Tradition, sondern mit neuen Produktionsmethoden hergestellt werden sollten.
In dieser ausweglosen Situation entwickelte sich das Toyota-Produktionssystem. Aus den Problemen, die einer erfolgreichen Entwicklung des Unternehmens diametral entgegenstanden, wurden Stärken, die aus dem Unternehmen eines der erfolgreichsten der Welt gemacht haben. Die begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen führten zum „sparsamen“ Umgang mit diesen und somit zur Reduzierung von Verschwendung. Die Reduzierung von Beständen in der Wertschöpfungskette und der vorsichtige Umgang mit Investitionen in neue Technologien waren die Konsequenzen.
Japan weist mit eine der höchsten Bevölkerungsdichten weltweit auf, Fläche ist deshalb nur begrenzt verfügbar. Darüber hinaus sind Rohstoffe nur eingeschränkt vorhanden. Auch diese Randbedingungen zwingen zu einem sorgfältigen Umgang mit diesen knappen Gütern.
Die Mitarbeiter wurden nicht mehr als „austauschbarer“ Produktionsfaktor gesehen, sondern als Partner, die durch die Zugeständnisse, wie die lebenslange Beschäftigung, nun in „die Pflicht“ genommen werden konnten, aktiv am Aufbau und der Weiterentwicklung des Unternehmens mitzuwirken. Die Verpflichtung, die Prozesse ständig zu verbessern, ist eine der Säulen des Toyota-Produktionssystems.
Die Problematik der Produktion mit hohem Variantenreichtum bei relativ geringer Stückzahl, und dabei eine Technologie zu verwenden, die für die Massenproduktion ausgelegt war, ist eine enorme Herausforderung, vor der noch heute viele Unternehmen stehen. Shigeo Shingo entwickelte die Methode der schnellen Umrüstung von Maschinen, besser bekannt unter dem Begriff „Single Minute Exchange of Die“ (SMED).
Dieser Teil der Geschichte von Lean Management offenbart dessen Wurzeln: Probleme in deren Ursprung bzw. Grundursache zu erkennen, diese als Herausforderung zu akzeptieren und nach einer Lösung zu suchen. Hier liegt eine der größten Herausforderung bei der Realisierung von Lean Management im Unternehmen. Gleichzeitig liegt hierin auch ein Risiko des Scheiterns, denn hierfür sind eine Änderung der Unternehmenskultur und ein „langer Atem“ des Managements und der Belegschaft notwendig.
Betrachten wir das Feuerwehrbeispiel vom Anfang dieses Buches. Wie gehen wir mit Problemen und Fehlern in unseren Unternehmen um? Stellen Sie sich vor, Sie sind Leiter eines wichtigen Projekts in Ihrem Unternehmen. Sie sind im Fokus des Topmanagements. Leider läuft das Projekt nicht planmäßig. Bei der Entwicklung einer Teilkomponente sind die Konstrukteure auf unerwartete technische Schwierigkeiten gestoßen. Eigentlich wäre Unterstützung in Form zusätzlicher Ingenieurkapazität erforderlich. Ihr Vorgesetzter besucht Sie in Ihrem Büro und fragt, wie das Projekt läuft.
Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diese Frage zu antworten. Die eine wäre, das Problem zu benennen und zusätzliche Kapazität anzufordern. Sie wissen aber auch, zu welchem Ergebnis diese Option führen würde. Der Vorgesetzte hätte nun ebenfalls ein Problem, müsste sich damit befassen und würde Ihre Kompetenz als Projektleiter möglicherweise in Zweifel ziehen.
Da dieses Ergebnis für Sie indiskutabel ist, antworten Sie: „Kein Problem“, und hoffen, dass Sie die verlorene Zeit bei der Bearbeitung anderer Arbeitspakete wieder hereinholen können. Aber genau dies wird nicht passieren. Der „Brand“ wird im weiteren Verlauf des Projekts immer größer, und die „Feuerwehr“ muss mit „schwerem Gerät“ anrücken. Wer hat diese Situation im eigenen Umfeld nicht schon einmal erlebt?
Damit diese, für das Unternehmen und die Mitarbeiter unbefriedigende Situation nicht mehr auftritt, ist eine Änderung der Unternehmenskultur im Hinblick auf Probleme erforderlich. Probleme und Fehler als Chance für Veränderung und Verbesserung zu verstehen ist eine der tragenden Säulen des Lean Managements. Anstatt nach dem Auftreten eines Fehlers nach einem Verantwortlichen hierfür oder einem „Schuldigen“ zu suchen und personalbezogene Konsequenzen zu ziehen, wird dieser als willkommenes Indiz für den Ansatzpunkt für Verbesserungen angesehen. „Kein Problem ist ein Problem“ ist einer der Grundsätze im Lean Management. Schuldige zu suchen ist nicht nur Zeitverschwendung, sondern es verhindert auch nicht die Entstehung des gleichen Problems oder Fehlers in der Zukunft. Im Lean Management hingegen wird die Ursache des Problems mittels erprobter Methoden systematisch untersucht und unmittelbar die Wurzel des Problems beseitigt. Damit tritt das Problem zukünftig nicht mehr auf. Die eingangs geschilderte Metapher aufgreifend wird also die Ursache des Brands beseitigt und nicht ständig der immer wieder auftretende Brand bekämpft.
Fehler als Motor des Lernens
Als Kleinkinder haben wir die essenziellen Dinge des Lebens zumeist durch Versuch und Irrtum gelernt. Beim ersten Gehversuch beispielsweise sind wir gescheitert, weil das dazu erforderliche Gleichgewicht nicht gegeben war. Dennoch haben wir es immer und immer wieder versucht. Aus jedem Versuch und den dabei gemachten Fehlern haben wir gelernt, bis wir am Ende einer langen „Versuchsreihe“ gehen konnten.
Würden wir uns als Kleinkind so verhalten, wie in den meisten Unternehmen üblich, würden wir nach dem...