Einleitung
Bald 30 Jahre ist es her, dass ich ins Thema Angst hineingeworfen wurde. Das eigene Schicksal, meine damalige musiktherapeutische Tätigkeit mit frühgestörten Menschen und meine erste Dissertation führten mich an die Frage heran: Was genau ist Angst und wie kann sie überwunden werden? Inzwischen hat die Angst in der Welt nicht ab-, sondern eher zugenommen und bleibt doch bis heute weitgehend unverstanden. Was genau ist Angst?
Angst ist die tiefgreifende Sorge um die eigene Existenz und zeigt sich ähnlich wie extremer Stress zuerst als reine Körperreaktion: als Schaudern, Frieren, Schwitzen, Augen- oder Herzflattern, Zittern, Anfall, Lähmung, Muskelanspannung, Übelkeit, Ekel, Erstarrung und insgesamt als eine unlustbetonte Erregung. Anspannung und Adrenalinspiegel steigen. Das Gefühlsleben ist durcheinander. Man ist angetriggert, von etwas affiziert und darin unfrei. Gemäß G. Hüther (2004) steht Angst am Anfang aller Stressreaktion (vgl. S. 25). Bei Sterbenden und wohl auch bei Neugeborenen kommt sie als reine Körpersprache zum Ausdruck.
Etymologisch weist das Wort eine Nähe zum lateinischen »angustus« auf, was Enge und Bedrängnis meint (vgl. die Erkrankung Angina), ferner zum Wort »angor« (würgen).1 Derweil Furcht auf ein Objekt bezogen ist (lateinisch »timor«: Furcht vor etwas Bestimmtem), ist Angst (»angor«) unspezifisch, unfassbar. Angstformen gibt es viele (vgl. Kap. 7.3), doch scheinen sie alle genährt zu sein von einem unfassbaren Angsthintergrund, der Urform von Angst, hier Urangst genannt. Urangst ist ein immer noch unerkanntes, weitgehend tabuisiertes Phänomen. Den Begriff las ich erstmals bei E. Drewermann, dort genannt »Urangst vor Gott« (etwa 1987, S. 27, 40). Drewermann sah in dieser Urangst die zentrale menschliche Not schlechthin, die vielen anderen Nöten zugrunde liegt (ebd.). Doch wer weiß, was solche Urangst ist? Wie fühlt sie sich an? Wann und wie entstand sie? Würde ich 100 Menschen auf der Straße fragen, wovor sie Angst haben, so bekäme ich alle möglichen Antworten: Angst vor Spinnen, engen Räumen, vor Krieg, Arbeitslosigkeit, Überfremdung, vor Krankheit und Tod. Nur eine Antwort käme wohl kaum: Angst vor Gott. Im vorliegenden Buch versuche ich, Angst auch in ihrer ursprünglichen Gestalt der nackten Erregung zu verstehen. Gerade darin ist sie namen- und grenzenlos – reine Körperreaktion. Der Begriff Urangst vor Gott bringt auf seine Weise genau dies ins Wort: eine Angst ohne Anfang und Ende, ohne Gesicht und Kausalität; und doch ist der Ausdruck meines Erachtens zu abstrakt. Es geht vielmehr um erste Eindrücke, um Druck, Stress und Druckverhältnisse, derweil der in Entwicklung begriffene Mensch aber erst rudimentär wahrnimmt. Das Stichwort Wahrnehmung ist entscheidend, denn diese bestimmt darüber, was effektiv empfunden wird. Ab wann beispielsweise realisiert ein Kind »Mutter«? Wann beginnt »Beziehung«? Welches sind früheste Eindrücke von einem »Du«? Was wurde zuvor empfunden? Kehrt der Mensch im Sterben wieder zu solch ursprünglichen Eindrücken zurück? Als Sterbebegleiterin vermute ich, dass die Selbst- und Welterfahrung Sterbender ähnlich ist wie jene im frühen Werden.
Dieses Buch berichtet von einem Erwachen im Ich und den dabei gemachten frühen Empfindungen. Diese ersten Eindrücke prägen sich dem Menschen ein. Sie sind Urgrund künftiger Erfahrungen und treten erst viel später – vielleicht über Träume, Musik, Meditation – ahnungshaft ins Bewusstsein. Diese Ahnungen berichten uns von einem unermesslichen Glücklichsein in einer non-dualen Wirklichkeit, ferner von einem umfassenden Behütetsein, ohne dass man näher wüsste, worin man eigentlich geborgen ist. Sie sprechen aber auch von einem Umkippen – einem Wetterumschlag ähnlich – und einem völligen Ausgeliefertsein. Beginnt, begann es da mit der Angst? Beim genauen Hineinhören in zahlreiche Erfahrungsberichte wird deutlich, dass ein Ausgeliefertsein ebenso im Zuwenig wie im Zuviel erfahren werden kann. Da ist völlige Gottverlassenheit und gleich danach oder daneben ein Zuviel an Druck, Stress, alles ist zu eng, zu nah, man schaudert. Trifft der Ausdruck Urangst vor Gott oder besser, vor dem Numinosen also doch zu?
Das früheste Werden des Menschen ist bestimmt von Urvertrauen und Urangst. Und dieses Ur-… hat stets die großen Dimensionen des Seins, des Ganzen im Blick und doch nicht »Gott« im Sinne eines überirdisch fernen Wesens, sondern eher im Sinne einer Gotteserfahrung. Nach all den Jahren der Kurstätigkeit sowie der Arbeit mit Schwerkranken bin ich tief überzeugt, dass Erfahrungen mit dem Ganzen, Unfassbaren (mit Gott) aller konkreten, überblickbaren Erfahrung vorausgehen und den Menschen tief prägen. Das Ganze erfüllt und überfordert zugleich (im Anwesend- ebenso wie im Abwesendsein). Es ist als Substanz wie als Energie zu begreifen. Aus diesem Ganzen, Einen geht der Mensch hervor, dorthin kehrt er mit dem Tod zurück, und in größter Nähe zu diesem Einen begann er, er selbst zu werden. Entfernte Ahnungen eines solch geistigen Ursprungs, einer solchen Nähe wie auch Trennung, haben sich ihm eingeprägt.
Was Angst überwindet, hat mit Spiritualität zu tun. Man kann es religiös betrachten oder als Phänomen einer non-dualen Wirklichkeit, wie dies etwa im Nachgang einer Nahtoderfahrung, aber auch von Sterbenden berichtet wird. Zunächst darf rein phänomenologisch festgehalten werden, dass es angstfreie Momente, Stunden und Erfahrungen gibt, und dies selbst inmitten schlimmer Bedingungen (Schmerzen, Symptome, Gewalt). Das berichten schwerkranke Menschen und Sterbende, aber auch vereinzelte Gewalt- und Folteropfer. Das Phänomen findet sich vielerorts; die Nahtoderfahrung bringt es nur am deutlichsten auf den Punkt. Ich spreche analog zur »out-of-body experience« auch von einer »out-of-fear experience«, was die Angstfreiheit in der Erfahrung betont. Wiederum kann es religiös gefasst werden, als absolute Gottnähe, Gnade, Mystik, oder aber hirnphysiologisch bedingt und in beiden Fällen einfach erzählend: »Ich bin wie über allen Schmerzen und doch da«, »außerhalb von Symptom und Gewalt«, »in einem Licht/Weiß/Gelb«, »über der Schwelle«. Die Beschreibungen sind vielfältig, das Phänomen bleibt sich gleich: Angstfreiheit. Der im Zusammenhang mit Gewalt- und Folteropfer oft verwendete Begriff der Dissoziation ist zwar nicht falsch, aber doch irreführend: Er wertet unnötig ab, als wäre diese tief spirituelle Wirklichkeit rein mechanisch erzeugbar. Als solche wäre diese Erfahrung konsequenterweise willentlich herzustellen, was manchmal durchaus der Fall sein kann, wie Drogenabhängige berichten. Und doch sagen genau sie, dass man »es« nicht »machen« kann, dass neun von zehn Versuchen fehlschlagen. Ähnlich diffizil ist darum auch der Umgang mit Medikation; es geht um mehr als nur um einen fehlenden Botenstoff. Vielleicht ist die spirituelle Interpretation letztlich auch ein Bekenntnis: dass nämlich die »out-of-fear experience« eine Gipfelerfahrung ist, reines Urvertrauen, einfach so geschenkt. Persönlich erlebte ich dies mehrmals, und einmal während eines Skiunfalls:
Ich sah mich auf einen Snowboardfahrer zufahren, hatte Angst, dann realisierte ich in Sekundenschnelle die Unausweichlichkeit des Zusammenpralls: Er, knapp einen Meter neben mir, in schräg steiler Hanglage, immer näherkommend. Gleich darauf hatte ich nurmehr das Gefühl von »himmelwärts«, ein Aufprall und eine unsägliche Leichtigkeit. Es folgte das sich verlierende Gefühl von einem Heer Verstorbener, angeführt von meinem kurz zuvor verstorbenen Vater … Licht und nicht einmal mehr Licht. – Dann realisierte ich mein Daliegen im Schnee, etwa fünf Meter neben dem Steilhang. Ich griff nach meinem Helm, den ich auf dem Kopf hatte, die Sonnenbrille lag irgendwo im Schnee. – Der Unfall wirkte nach: Ich wurde hospitalisiert und lag danach wochenlang rekonvaleszent zu Hause. Seelisch ging es um die Verarbeitung des Unfassbaren.
Die These, dass dasjenige, was Angst überwinde, im Spirituellen zu suchen sei, ist steil. Für die einen ist das »Erfahrung«, für andere reine Hypothese oder Erfindung. In den verschiedenen Psychotherapie-Schulen wird diese These heute immerhin diskutiert und darf doch nicht zu einem naiven Umgang mit Angst verleiten, nach dem Motto: »Meditiere dich gesund.« Angst mobilisiert Respekt und Vorsicht. Darin liegt mitunter ein Sinn der Angst (vgl. Kast 1996). Einen adäquaten Umgang mit Ängsten umschreiben Worte wie Zurückhaltung, Mut, Medikation, joggen, essen, fasten, warten, atmen. Die einen finden über den Weg der Ablenkung wieder in ihr Gleichgewicht, andere, indem sie genauer und tiefer hinschauen. All dies ist nicht zwingend spirituell. Klärung bringt die Unterscheidung, ob es im Einzelfall um konkrete Bewältigung einer Angst geht oder aber um einen Schritt in Richtung Bewusstwerdung und Überwindung. Ersteres misst sich am gelingenden Realitätsbezug. Letzteres geschieht über Reifung und Spiritualität (vgl. Wirtz 2018). Denn so wie Angst an ein Mindestmaß an Subjekthaftigkeit gebunden ist...