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E-Book

Hüttenzeit

Bergweisheiten für das gute Leben im Tal

AutorDaniel Zindel
VerlagSCM R.Brockhaus im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783417229226
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Wer möchte das nicht: Fernab vom Trubel einen Ort haben, an dem man einfach sein kann. Daniel Zindel berichtet von seinem Rückzugsort - einer Hütte in den Bergen. Ehrlich und warmherzig spricht der Autor von seinem Leben in und um die Hütte - dem Ort, an dem er zur Ruhe kommt, an dem er Gott begegnet und Kraft tankt für das Leben im Tal. Mit einer Prise Humor nimmt er den Leser mit in seine Reflexionen über die Fragen des guten Lebens, der Existenz, des Glaubens und der Verantwortung für Andere.

Daniel Zindel (Jg. 1958, verheiratet, 4 erwachsene Kinder) ist Theologe und arbeitet als Gesamtleiter der Stiftung 'Gott hilft', ein christliches Sozialwerk in Zizers/Schweiz. Er ist nebenberuflich als Eheseelsorger und Führungscoach tätig. Seine Hüttenzeiten nutzt er zum Beten und Schreiben. Er hat zu den Themen Leiterschaft, Spiritualität und Ehe publiziert.

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2


Die Hütte


Den eigenen sicheren Ort finden


»Ich könnte nicht eine einzige Nacht dort oben allein in dieser Bergeinsamkeit verbringen«, sagt meine Frau, als ich am späten Nachmittag meinen Rucksack packe, um den Abend, die Nacht und den nächsten Morgen in der Hütte zu verbringen. Für meine Frau ist diese Einöde, so mutterseelenallein bedrohlich. Auch für mich ist die Einsamkeit nicht nur eitel Freude. Wir werden darüber noch sprechen müssen, dass die Stille nicht einfach automatisch stillt. Sie muss auch aktiv gestaltet werden. Brot, Eier, Käse, eine Flasche Wein, etwas Obst, zwei Bücher, Laptop, Handy. Zuoberst Mütze, Handschuhe und Stirnlampe. Ich bin gerüstet. Ich verabschiede mich von meiner Frau.

Beides ist wunderschön, zu zweit zur Hütte hochzufahren oder allein zu gehen. Zu zweit brauchen wir jeweils eine Übergangszeit, wo wir in der Hütte ankommen und uns beide als Paar finden. Ich muss dann bewusst wählen, dass jetzt die Hütte für mich nicht Einsamkeit und Rückzug bedeutet, sondern dass sie zum Ort der Begegnung und der Beziehung wird. Der Weg zueinander als Paar ist manchmal etwas holprig. Jeder von uns kommt aus der eigenen Lebens- und Arbeitswelt, die uns fordern, gar überfordern. Bei der Ankunft sind wir beide noch unter Strom. Setzt die Entspannung ein, sind wir beide bedürftig und erwarten vom anderen oft, was er oder sie im Moment selbst nicht geben kann. Manchmal finden wir zueinander über den Umweg eines sinnlosen Streits. Etwa darüber, wer nun schuld daran sei, dass wir die Milch vergessen haben. Wenn das passiert, sind wir nicht frustriert. Wir wissen, dass wir noch etwas Zeit brauchen und nicht subito und störungsfrei in die harmonische Zweisamkeit hineintanzen können.

Wir wissen beide, dass wir nicht subito in die harmonische Zweisamkeit hineintanzen können.


Auf dem Weg zur Intimität gibt es keine Abkürzungen, aber am Ziel der Gemeinsamkeit halten wir fest. Tatsächlich wird so die Hütte zum Ort tiefer Begegnung und zum Kreativraum für unsere gemeinsamen Projekte.

 

Ich fahre aber ebenso gern allein hoch. So wie heute. Ich parke den Wagen auf dem Platz, den uns der Wegmacher mit Pflug und Schneefräse frei geräumt hat. Wie eine Mauer türmt sich der Schnee um den Parkplatz. Ich nehme meine Sachen aus dem Auto und laufe auf meinen Skiern durch den verharschten Schnee. Der Lichtkegel meiner Stirnlampe erfasst einen Fuchs, der sich schnell trollt. Meine Skier geben bei jedem Schritt ein kratzendes, knirschendes Geräusch. Die Nacht ist sternenlos.

Jetzt kommt sie mir wieder in den Sinn, jene mondhelle Nacht, die mir solche Angst eingejagt hatte. Damals stieg ich in einer Vollmondnacht zur Hütte hoch. Ich brauchte keine Lampe. Im Licht des Mondes, das durch den Schnee reflektiert wurde, hätte man sogar ein Buch lesen können. Als ich mich der Hütte näherte, sah ich vor dem Eingang eine dunkle Tiergestalt liegen. Ich blieb stehen. Mein Herz klopfte schnell vom Aufstieg – und vor Angst. Vorsichtig trat ich näher. Plötzlich richteten sich die zwei schwefelgelben Augen eines Raubtiers direkt auf mich. Das Tier öffnete seinen Rachen und ich hörte ein markerschütterndes Brüllen, dessen Echo in den Bergen vielfältig widerhallte. Dabei schüttelte das Tier wild und herrschaftsheischend seine Mähne. Es erinnerte mich an den Vorspann von Hollywoodfilmen, bei denen ein knurrender Löwe seinen Kopf erhebt und seine Mähne hin und her schüttelt. Einziger Unterschied: Das Knurren jenes Löwen im Film klingt im Vergleich mit dem tödlichen Gebrüll des Raubtiers vor meiner Hütte wie ein leichtes Räuspern. Panik ergriff mich. Nicht nur meine Nackenhaare, sondern alle meine Körperhaare stellten sich auf.

Dann erwachte ich, schweißgebadet.

 

Ich muss an diesen Traum denken, als ich zur Hütte hochsteige, und richte deshalb den Schweinwerfer meiner Stirnlampe schon von Weitem auf die Hütte, als ob ich mich vergewissern müsste, dass mein Traum nicht Realität geworden ist. Mit welcher Wucht doch tiefe innere Erfahrungen in der sichtbaren Realität nachwirken! Aber alles ist in Ordnung. Einsam und verlassen steht die Hütte da, tief verschneit, nichts regt sich.

Meine Hütte ist mir der Inbegriff eines sicheren Ortes.10 Hier kann ich sein, nichts bedrängt und bedroht mich. Hier wird alles einfach, überschaubar, wesentlich.

Mein sicherer Ort: alles wird überschaubar, wesentlich, geborgen.


Hier bin ich geborgen und geschützt. Und ausgerechnet vor dem Eingang zu diesem sicheren Ort lauerte in meinem Traum ein Löwe und versperrte mir den Zugang zu meinem Rückzugsort. Ich wusste sehr bald, was mir der Traum sagen wollte: Ich hatte meine innere Sicherheit verloren, ich war bedroht und Angst war in mein Leben eingezogen.

Einige Monate vor meinem Traum geriet die Organisation, die ich leite, in ein gewaltiges Mediengewitter. Ich kam gerade frühmorgens aus Afrika in der Schweiz an und schaltete auf dem Flughafen mein Handy ein. Es klingelte sofort: »Hier ist das Schweizer Fernsehen DRS, können Sie die sexuellen Übergriffe in Ihrer Institution bestätigen?« Tatsächlich war es in einer unserer sozialpädagogischen Einrichtungen zu sexuellen Übergriffen unter Jugendlichen gekommen. Meine Frau hatte mich angerufen und mir davon berichtet, was zu Hause los war. Die größte Schweizer Boulevardzeitung hatte einen Artikel mit dem Titel Sexhölle im Christenheim gebracht. Die Medien griffen diese Vorfälle genau zu dem Zeitpunkt auf, als fast täglich von pädophilen Vorfällen in katholischen und anderen pädagogischen Institutionen berichtet wurde.

»Ich bin soeben aus dem Ausland angekommen, ich kann Ihnen heute Nachmittag Auskunft geben«, antwortete ich dem Journalisten am Telefon und ergriff mein Gepäck vom Band. Es folgten wohl die schwierigsten Wochen meines Lebens als Führungsperson. Für meine Kollegen in der Geschäftsleitung und mich waren etwa einen Monat lang alle Hebel im Modus des Krisenmanagements. In meinem Biorhythmus geriet alles durcheinander: Tag und Nacht, Schlaf und Verdauung. Infolge der medialen Präsenz in den nationalen Medien meldeten sich viele Ehemalige, die in unserem damals fast hundertjährigen christlichen Sozialwerk ihre Kindheit und Jugend verbracht hatten. Es fand eine Art Götterdämmerung statt. Täglich Dutzende Telefongespräche mit Ehemaligen, und das über Wochen. Berichte über negative Erfahrungen während des Heimaufenthaltes. Sie schilderten mir Schläge, Demütigungen, Essensentzug, sexuelle Übergriffe. In den vielen Gesprächen mit ihnen wurde ich zur Projektionsfläche ihrer Wut, ihres Hasses und ihrer verletzten Gefühle.

Als ehemaliger Seelsorger wusste ich zwar, dass sie nicht mich persönlich meinten. Ich konnte die Sache professionell angehen. Einmal musste ich sogar laut lachen, als ich ein Mail mit folgendem Inhalt erhielt: »Schaffen Sie sofort den Zölibat ab!« Die akute Krisensituation musste aber gemanagt werden. Und gleichzeitig konfrontierte diese Zeit uns sehr heftig mit der Schattenseite der hundertjährigen Geschichte unserer Institution. Das brachte mich an die Grenzen meiner Kräfte. Ich kämpfte mit Ohnmacht, Scham und Schuldgefühlen. Dabei musste ich nach außen stark sein und Führungsverantwortung wahrnehmen. Erst im Nachhinein stellte ich fest, dass durch diese Ereignisse meine inneren Grenzen überschritten, ja massiv verletzt worden waren. Als endlich die Entspannung kam, merkte ich, dass etwas in mir zerbrochen war. Mein sicherer Ort war mir abhandengekommen. Damals träumte ich diesen Traum vom Löwen vor der Hütte.

Ich brauchte Hilfe.

 

Die Handgriffe beim Ankommen in der Hütte sind eingespielt. Ich schalte die Batterie der Solaranlage an. In der Hütte fließt jetzt Strom. Ich öffne den Hauptzufluss des Wassers und höre zu, wie es in die Leitungen fließt und die WC-Spülung füllt. Als Nächstes mache ich Feuer im Ofen und im Herd, ich setze Wasser auf. Wenn ich ausatme, sehe ich meinen Atem als feinen, weißen Hauch, es sind nur einige Grad über dem Gefrierpunkt hier drin. Das wird sich schnell ändern, trotzdem behalte ich meine Daunenjacke noch an.

 

Ich konnte mich mit einer Vertrauensperson über diese schwierigen Wochen aussprechen. Schon das bewirkte eine erhebliche Erleichterung. Gemeinsam zogen wir die Projektile der unzähligen Angriffe, die in mir steckten, aktiv heraus. Ich ließ die Verletzungen los, indem ich sie vor Gott laut aussprach und ihm abgab. Im Gebet richtete ich auch bewusst meine innere Grenze wieder auf, indem ich sagte: »Dieser innerste Ort gehört mir und dir, mein Gott, und sonst niemandem.«

»Dieser innerste Ort gehört mir und dir, mein Gott, und sonst niemandem.«


Als ich so aufräumte und mein innerstes Gemach wieder aufbaute, entdeckte ich einen Bibeltext, dem ich den Namen Der Psalm des sicheren Ortes gab. Er beginnt so:

Zu Gott allein ist meine Seele still,
von ihm kommt meine Hilfe.
Er allein ist mein Fels und meine Hilfe, meine Burg,
ich werde nie wanken.

Für den Beter sind die Bilder Fels und Burg Ausdruck von Stabilität und Sicherheit. Darauf konzentriert er sich und führt seine äußeren und inneren Sinne zu dem, der ihm hilft: »Zu Gott allein ist meine Seele still.« Er beginnt sein Gebet optimistisch, fast schon mit einer Portion Übermut: »Ich werde nie wanken!« Das hatte ich auch mal gedacht.

Was geschieht dann? Im Betenden passiert plötzlich ein Aufruhr, er ist völlig aufgewühlt, fast verstört. Was ist passiert? Welcher Schalter wurde da wohl gekippt? Das ist...

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