Prolog
Ich möchte mit einem Zitat aus dem Jahr 1950 beginnen. Die Welt war damals in vieler Hinsicht noch bedeutend einfacher: Das Fernsehen sendete nur in Schwarzweiß, Verkehrsflugzeuge hatten noch keine Düsentriebwerke, der Siegeszug des Transistors stand noch bevor. Und weltweit gab es nicht einmal ein Dutzend Computer1, jeder einzelne ein fantastisches, riesengroßes Gebilde aus Elektronenröhren, Relais, Schalttafeln und Kondensatoren.
So gehörte schon einige Kühnheit zu der Prophezeiung: »[Ich glaube,] dass am Ende des [20.] Jahrhunderts der Gebrauch von Wörtern und die allgemeinen Ansichten der Gebildeten sich so sehr geändert haben werden, dass man ohne Widerspruch von denkenden Maschinen wird reden können.«2 Was für eine Idee! Denkende Maschinen! Wird es das in naher Zukunft tatsächlich geben? Und wenn, wie lange wird es dauern, bis sie uns überlegen sind?
Doch zunächst – von wem stammt diese kühne Prognose? Welche Relevanz hatte sie? Nun, die Zeitschrift Time zählte die Person, die sie traf, im Jahr 1999 immerhin zu den »100 wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts«.3 Ohne Zweifel gehört sie zu den rätselhaftesten Denkern des Jahrhunderts. Ein Mathematiker. Ein Kriegsheld. Und vor allem ein Visionär, dessen Träume uns bis heute, lange nach seinem Tod, beeinflussen.
Ein oscarprämierter Film schildert, welch entscheidenden Beitrag er im Zweiten Weltkrieg dazu geleistet hat, den Code der deutschen Verschlüsselungsmaschine »Enigma« zu knacken. Winston Churchill bezeichnete ihn und sein Team als »die Gänse, die das goldene Ei legten – ohne darüber ein großes Geschnatter zu veranstalten«. Historiker sind sich einig, dass die Entschlüsselung des Enigma-Codes den Zweiten Weltkrieg um mindestens zwei Jahre verkürzte. Und damit zweifellos Millionen Menschen das Leben rettete. Doch am Ende des 21. Jahrhunderts wird man sich an den Urheber dieses Zitats wohl nicht in erster Linie deshalb erinnern, weil er ein Meister-Dechiffrierer war.
Beim Knacken des Enigma-Codes legte er nicht nur das theoretische Fundament des Computers an sich, sondern trug entscheidend dazu bei, einen der ersten einsatzfähigen Computer zu bauen, the bombe genannt.4 Seine Ideen sind bis heute aus der Computerwissenschaft nicht wegzudenken. Noch bevor es überhaupt den ersten Computer gab, entwickelte er ein grundlegendes und vollkommen allgemeines Modell einer solchen Maschine.5 In Anerkennung seiner Leistungen trägt heute die höchste Auszeichnung der Informatik, der Turing-Award, seinen Namen. Doch trotz des enormen Einflusses, den Computer in allen Bereichen unseres Lebens haben, bezweifle ich, dass man sich dereinst hauptsächlich deshalb an ihn erinnern wird, weil er einen Großteil des Fundaments der Computerwissenschaft gelegt hat.
Mit einem einzigen Artikel, The Chemical Basis of Morphogenesis, der in einer altehrwürdigen wissenschaftlichen Zeitschrift erschien, beeinflusste Turing zudem nachhaltig einen Zweig der Biologie, der Morphogenese genannt wird.6 In dieser Publikation hatten vor ihm schon Geistesgrößen wie Charles Darwin (dessen Evolutionstheorie das Selbstbild des Menschen entscheidend veränderte), Alexander Fleming (der durch seine Entdeckung des Penicillins vielen Millionen Menschen das Leben rettete) und James Watson, Francis Crick und Dorothy Hodgkin (die mit ihrer Beschreibung der Struktur der DNA die genetische Revolution auslösten) publiziert. Turing stellte eine Theorie über die Musterbildung in der Natur auf, die erklärte, wie sich Streifen, Flecken und Spiralen bei Pflanzen und Tieren bilden. Seine Arbeit wird bis zum heutigen Tag häufig zitiert. Doch auch seine Theorie über die Musterbildung wird wahrscheinlich nicht die Leistung sein, die man am Ende des 21. Jahrhunderts in erster Linie mit seinem Namen verknüpft.
Alan Turing ist auch eine wichtige Persönlichkeit der Schwulenbewegung. In den 1950er Jahren war Homosexualität in Großbritannien noch verboten. Viele geben bis heute der strafrechtlichen Verfolgung und der anschließenden chemischen Kastration, der sich Turing unterziehen musste, die Schuld an seinem frühen Tod und werfen der britischen Gesellschaft, für die er im Zweiten Weltkrieg so viel getan hatte, vor, ihn im Stich gelassen zu haben.7 Im Jahr 2009 entschuldigte sich Premierminister Gordon Brown nach einer öffentlichen Kampagne formell für den Umgang mit Turing. Vier Jahre später unterzeichnete die Queen eine königliche Begnadigung, ein äußerst seltener Vorgang. Für manche Schwule ist Turing begreiflicherweise ein Märtyrer. Und dennoch bezweifle ich, dass man sich am Ende des 21. Jahrhunderts vor allem wegen dieser Sache an ihn erinnern wird.
Aber weswegen wird man sich nun vor allem an ihn erinnern? Ich vermute, dass es ein Artikel sein wird, den er in der dem breiten Publikum eher unbekannten philosophischen Zeitschrift Mind veröffentlichte, dem auch das Zitat zu Beginn dieses Kapitels entstammt. Diese Publikation war bis dahin vor allem durch die Veröffentlichung von »Was die Schildkröte zu Achill sagte« hervorgetreten, einem Text von Lewis Carroll über die Logik eines Zenon-Paradoxons.8 Der Aufsatz, aus dem unser Zitat stammt, gilt heute als einer der wichtigsten in der Geschichte der Künstlichen Intelligenz.9 Er blickt in eine Zukunft, in der Maschinen denken. Als unser Autor ihn schrieb, gab es auf der ganzen Welt gerade mal ein Dutzend Computer, allesamt riesengroß und unvorstellbar teuer. Ihre Rechenleistung wird heute von jedem Smartphone übertroffen. Es war also keine Kleinigkeit, schon zum damaligen Zeitpunkt vorauszusehen, welchen Einfluss Computer dereinst auf unser Leben haben würden, und eine noch viel größere Leistung, sich vorzustellen, dass sie eines Tages selbst denken würden. Der Aufsatz nimmt bereits sämtliche wichtigen Argumente, die in der Folge gegen denkende Maschinen erhoben wurden, vorweg und widerlegt sie. Sein Autor wird deshalb von vielen als einer der Väter des Forschungsgebiets Künstliche Intelligenz angesehen.
Die Rede ist hier natürlich von Alan Mathison Turing, Mitglied der Royal Society, geboren 1912, 1954 von eigener Hand aus dem Leben geschieden.
Ich sage voraus, dass man am Ende des 21. Jahrhunderts Alan Turing vor allem deshalb gedenken wird, weil er das Fundament des Forschungsgebiets gelegt hat, das den Versuch unternimmt, denkende Maschinen zu bauen. Diese Maschinen werden unser Leben nicht weniger dramatisch umgestalten als die Dampfmaschine zu Beginn des Industriezeitalters. Sie werden verändern, wie wir arbeiten, was wir spielen, wie wir unsere Kinder erziehen, wie wir die Kranken und die Alten behandeln und schließlich auch wie man sich an die Menschheit erinnern wird. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden sie die Welt stärker umkrempeln als alle unsere bisherigen Schöpfungen. Die denkenden Roboter, die bislang nur die Science-Fiction bevölkerten, stehen kurz davor, Einzug in die Realität zu halten.
Unser Leben bewegt sich in Riesenschritten auf die Zukunft zu, die sich Science-Fiction-Autoren erträumt haben. Die Taschencomputer, die wir nun ständig mit uns herumtragen, können die kompliziertesten Fragen beantworten, uns mit Spielen und Filmen unterhalten, uns den Weg zeigen, sie helfen uns, eine Arbeit oder einen Partner zu finden, sie spielen uns ein Liebeslied, wenn uns danach ist, und setzen uns jederzeit mit Freunden rund um die Welt in Verbindung. Dass man mit ihnen auch noch telefonieren kann, ist längst eine ihrer unspektakulärsten Eigenschaften geworden.
Natürlich wirft meine Prognose, dass Turings bleibender Beitrag seine Starthilfe für das Forschungsgebiet der Künstlichen Intelligenz sein wird, gleich mehrere Fragen auf. Werden sich am Ende des Jahrhunderts diese denkenden Maschinen an ihn erinnern? Steuern wir auf eine lebenswerte Zukunft zu? Werden Roboter alle mühseligen und gefährlichen Arbeiten übernehmen? Wird durch sie die Wirtschaft aufblühen? Werden wir weniger arbeiten und mehr Freizeit genießen? Oder wird Hollywood mit seinen düsteren Zukunftsvisionen recht behalten? Werden die Reichen noch reicher, alle anderen ärmer werden? Werden viele von uns ihre Arbeit verlieren? Oder kommt es noch schlimmer, werden die Roboter schließlich alles übernehmen? Sind wir vielleicht schon dabei, die Saat unseres eigenen Untergangs auszubringen?
Das sind die Fragen, denen in diesem Buch nachgegangen werden soll; zudem liefert es eine Prognose, wohin uns die Künstliche Intelligenz führen wird. In Teil I beschäftige ich mich damit, was wir von der Vergangenheit lernen können. Wie sich eine bestimmte Technik weiterentwickelt, versteht man wohl am besten, wenn man sich anschaut, wie sie entstanden ist. In Teil II stelle ich dar, wo die Künstliche Intelligenz (KI) heute steht, und wäge Risiken und Nutzen des Baus intelligenter Maschinen ab. Ich versuche, realistisch einzuschätzen, was wir damit erreichen können. Es ist zweifellos eine kühne und ambitionierte Idee, denkende Maschinen zu bauen, und wenn sie Erfolg hat, wird dies ungeheuren Einfluss auf die Gesellschaft haben. Schließlich werde ich in Teil III die Zukunft der KI mehr im Detail diskutieren. Welche der abenteuerlichen Zukunftsvorstellungen, die in Büchern und Filmen entwickelt wurden, werden vielleicht tatsächlich eintreten? Wird die Wirklichkeit die Fantasie womöglich noch übertreffen? Und um sozusagen auch ein wenig eigenes Kapital zu investieren, werde ich zehn Prognosen darüber...