Im Folgenden werden die wichtigsten Stationen, Epochen, Personen und Konstellationen der Geschichte der Religionspsychologie dargestellt. Diese historische Orientierung, die dem Verständnis der gegenwärtigen Themen und Probleme dienen soll, lässt bereits im Ansatz erkennen:
• dass Religionspsychologie eine vergleichsweise junge Wissenschaftsdisziplin ist, ihr Anliegen aber so alt ist wie das Fragen des Menschen nach den Grundlagen seiner Existenz,
• dass es nicht die Religionspsychologie gibt, sondern dass sich von Anfang an unterschiedliche, auch widersprüchliche Ansätze und Entwicklungen herausgebildet haben, die heute unter dem Sammelbegriff »Religionspsychologie« verhandelt werden,
• dass bestimmte Themen und Aspekte, die schon die Anfänge kennzeichnen, sich wie ein roter Faden durch die Geschichte ziehen, wenn auch unter wechselnden Begriffen, und
• dass weder Psychologie noch Philosophie, weder Theologie noch Religionswissenschaft, sondern Anthropologie (im weitesten, umfassenden Sinne) die Bezugswissenschaft der Religionspsychologie ist.
2.1 Zur Vorgeschichte der Disziplin
Um ein Geschichtsbild der Religionspsychologie zu zeichnen, setzen bisherige, auch überblicksartige Beiträge zumeist bei der Vorgeschichte ein. Sie liefert die Ausgangspunkte der Entwicklung der Disziplin und erklärt, wie sich der Begriff »Religions-Psychologie« zusammensetzt.
Schon in biblischen Traditionen ist die erfahrungsbezogene, rationale und intuitive Thematisierung von Zusammenhängen innerseelischer und religiöser Phänomene zu finden. Das Bedürfnis des Menschen, über das Zusammenwirken von religiösen und psychischen Aspekten seiner Existenz nachzudenken, lässt sich seit der Antike durch die ganze Geschichte abendländischer Philosophie und Theologie hindurch verfolgen. Von altkirchlicher und mittelalterlicher Theologie bis hin zu christlicher Mystik und jüdischer Kabbala, in der reformatorischen Theologie, in der aufklärerischen Religionskritik, sodann in protestantischen Traditionen von Theologie und Frömmigkeit, die das subjektive Moment von Religion besonders kultivieren (Heimbrock 1998, 7f.). Oft genannte Beispiele sind die Psalmen, biblische Weisheitsliteratur, Platon, Aristoteles, Paulus, Tertullian, Augustin, Thomas von Aquin, Meister Eckart, Luther, Melanchthon, Schleiermacher, Feuerbach, Kierkegaard u. a.
Was schon immer nach den Zusammenhängen von religiösen und psychischen Phänomenen fragen lässt, ist die Urerfahrung des Menschen, dass der Kern seiner Persönlichkeit (hebr. näfäsch, griech. psychē, lat. anima) mehr ist (größer, weiter, höher) als er selbst. Ohne solche Kontingenzerfahrungen, die sich über Gefühle, Anmutungen, Vorstellungen und Gedanken vermitteln, käme wohl niemand auf die Idee zu fragen, was Religion sei, warum und wie sie sich im Menschlichen und Zwischenmenschlichen manifestiert – oder auch nicht. Trotz immer wieder vorhandener Gegenkräfte, z. B. durch die Abwertung von Gefühlen zugunsten der Vernunft, hat dieses Fragen und Forschen nach den Gründen und Ambivalenzen des Religiösen im Menschen nie aufgehört und ist auch heute allgegenwärtig.
Bei der Klärung der anthropologischen Voraussetzungen (vgl. 3.1) wird deutlich werden, wie tief das Menschen- und Weltbild sowie die Entstehung und Entwicklung des Person- und Subjektbegriffs der Religionspsychologie in der Vorgeschichte der Disziplin verwurzelt sind. Auf sie wird nicht nur in der Psychologie, sondern auch in der allgemeinen kulturellen Wahrnehmung ständig Bezug genommen, z. B. in Theaterstücken über die antike Tragödie mit ihren Protagonisten Ödipus, Elektra, Narziss usw.
In der Vorgeschichte wird auch der Grund gesehen, der es rechtfertigt, Religionspsychologie als ein Spezialgebiet der empirischen Psychologie zu bestimmen. Auf der Grundlage der Vorarbeiten seines Lehrers Platon, der die Seele durch ihre Zerlegung in Schichten zu verstehen versuchte, liefert Aristoteles in seinem intellektualistischen Psychē-Konzept die Grundlagen für die naturalistische Betrachtung. Aristoteles trennt zum ersten Mal Psychologie von Philosophie und beschreibt die Funktion der Seele im Verhältnis zu Körper und Geist. Deshalb wird er in medizinisch-therapeutischen Kontexten auch als der »Vater« der empirischen und damit der Psychologie überhaupt bezeichnet. In deren Entstehungsgeschichte ist die Religionspsychologie also von Beginn an involviert. Ihre Anfänge verdankt sie letztlich der Entdeckung der naturwissenschaftlichen Methode und der Faszination ihrer neuen Möglichkeiten des Erkennens.
2.2 Anfänge als Erfahrungswissenschaft
Erst allmählich entwickelt sich die Religionspsychologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin. Dies geschieht nicht ohne Konflikte mit ihren Eltern-Disziplinen Psychologie, Theologie und Philosophie.1 Anfangs weigern sie sich, sie ziehen zu lassen. Doch fasziniert vom Erfolg ihrer naturwissenschaftlichen Methoden warten sie mit konkurrierenden Konzepten auf, um Religion als ihr Gebiet nicht aus der Hand zu geben (Heine 2005, 32f.). Das Kind hat sich durchgesetzt, nicht nur lokal. Seine eigene Geschichte beginnt international.2
2.2.1 Internationale Aufbrüche
Die erste Phase ab der zweiten Hälfte bis Ende des 19. Jh. kann in vier regional bedeutenden Traditionslinien dargestellt werden. Diese Einteilung soll den Überblick erleichtern. Dabei darf nicht übersehen werden, dass es bis nach dem Ersten Weltkrieg einen regen Austausch zwischen Europa und Amerika gab.
2.2.1.1 Die angloamerikanische Traditionslinie
Sir Francis Galton (1822–1911), britischer Naturforscher, »Vater« der Eugenik, wissenschaftlich stark interdisziplinär orientiert, gilt als Mitbegründer der Differenzialpsychologie und – zusammen mit Wilhelm Wundt (vgl. 2.2.1.2) – der experimentellen Psychologie. Er untersucht u. a., welchen Einfluss das Beten auf Gesundheit, Langlebigkeit und weltlichen Erfolg hat. Das Anliegen, Fragen des Existenzbezugs des Glaubens unabhängig von transzendenzbezogenen theologisch-kirchlichen Erklärungsmodellen mittels der empirischen Psychologie zu beantworten, wird dann noch brisanter bei Hall, Starbuck, Leuba und James, den eigentlichen Begründern der amerikanischen Religionspsychologie.
Granville Stanley Hall (1844–1924) wollte ursprünglich Pfarrer werden, bricht sein Theologiestudium in New York ab, studiert in Berlin zuerst Theologie und Philosophie (1869–70), später auch Physiologie und Medizin und widmet sein Lebenswerk, inspiriert von Wilhelm Wundt (vgl. 2.2.1.2), der Psychologie. In Zusammenarbeit mit Wundt entwickelt er Fragebögen zur Untersuchung der Psychologie des Kindes und wird zu einem der Pioniere der Jugendforschung. An der John-Hopkins-University in Baltimore, wo er Philosophie, Psychologie und Pädagogik unterrichtet, gründet er nach Wundts Vorbild das erste experimentelle Psychologie-Labor in den USA. An der Clark-University in Worcester erwirkt er die Anerkennung der experimentellen Psychologie als Wissenschaftsdisziplin. Bedeutung in der Geschichte der Religionspsychologie gewinnt Hall durch seine Arbeiten über die religiöse Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, durch seine Schrift »Jesus, der Christus, im Licht der Psychologie« (1917), durch seine Anerkennung der Psychoanalyse als Forschungsprogramm und als Lehrer und Inspirator von Starbuck und Leuba.
Edwin Diller Starbuck (1866–1947), aus einer Quäkerfamilie in Indiana stammend, studiert Philosophie bei William James an der Harvard-University, dann als Schüler von Hall experimentelle Psychologie an der Clark-University. Fasziniert vom neuen Paradigma seiner Zeit, die naturwissenschaftliche Methode auch auf alle anderen Wissensgebiete anzuwenden, untersucht er in seiner wegweisenden Schrift »Psychology of Religion« (1899) anhand von umfangreichem autobiografischem Material, statistischer Auswertung von Fragebögen und Interviews die protestantische Sozialisation. Aus seiner frömmigkeitskulturellen Herkunft interessieren ihn besonders seelisch-körperliche Zusammenhänge von Bekehrungserlebnissen (1897). Starbuck lehrt Morallehre und -erziehung an verschiedenen Universitäten in den USA.
James Henry Leuba (1868–1946), amerikanischer Psychologe, überzeugt davon, dass Religion auf naturalistischem Wege erklärbar ist, untersucht in seiner Schrift »A Psychological Study of Religion. Its Origin, Function and Future« (1912) Zeugnisse aus Stammes- und anderen nichtchristlichen Religionen. Sein Ziel ist, den Kern von Religion in mystischen Erfahrungen nachzuweisen und ihre soziale Leistung zu erklären. Er stellt 48 Definitionen von Religion zusammen, die er in drei Kategorien – intellektualistisch, gefühlsmäßig und voluntaristisch – einteilt, um diese letztlich zu verwerfen. Denn Religion umfasst für ihn alle Seiten der Persönlichkeit.
William James (1842–1910), amerikanischer Philosoph, Mediziner und Psychologe, Begründer der Psychologie in den USA und einer der wichtigsten Vertreter des philosophischen Pragmatismus, gewinnt durch sein Hauptwerk »Principles of Psychology« (1890) und seine philosophischen Leistungen internationale Anerkennung. Seine psychologischen Theorien beinhalten bereits die Grundideen der späteren Gestaltpsychologie und des Behaviorismus. Damit ist der Weg zu einer empirischen Religionspsychologie gebahnt, die mit Hilfe deskriptiver Verfahren wie Introspektion, emphatische Beobachtung und...