Erfolgsgeschichte einer Chemikalie
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Die erste ausführliche Abhandlung über Sauerstoff stammt von Joseph Priestley (1733–1804; Chemiker, Physiker und Philosoph) und ist im Jahr 1774 als Artikel erschienen. 71 Jahre später wurde die Wissenschaft auf eine Flüssigverbindung aus Wasser- und Sauerstoff aufmerksam, die inzwischen unter der Bezeichnung Wasserstoffperoxid bekannt ist, bis heute aufgrund ihres breiten Spektrums an Anwendungen fasziniert und Geschichte schreiben sollte.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird Wasserstoffperoxid für verschiedenste Zwecke verwendet und ist vor allem aus der Industrie nicht mehr wegzudenken.
Entdeckung und erste Erfahrungen
Das erste Glied der Kette von bedeutenden Wasserstoffperoxid-Pionieren verkörpert der Chemiker Louis Jaques Thénard (1777–1857). Der angesehene französische Wissenschaftler entdeckte das, wie er es später nannte, eau oxygénée (dt.: oxidiertes Wasser) im Jahr 1818 bei Versuchen »über die Einwirkung von verschiedenen Säuren (in diesem Fall Salpetersäure) auf Baryumperoxyd« (Birckenbach 1909; Thénard 1818).
Er entwickelte verschiedene Herstellungsverfahren und führte zahlreiche Experimente mit der Chemikalie als Flüssigkeit und als Gas durch. Neben einigen interessanten Eigenschaften der Substanz beeindruckte ihn vor allem die ausgeprägte Reaktionsfreudigkeit. Auf Basis seiner Forschungsergebnisse empfahl Thénard den Gebrauch von Wasserstoffperoxid insbesondere zu medizinischen Zwecken sowie zur Restaurierung von alten Gemälden, da es schwarzes Bleisulfid in weißes umwandelt (Birckenbach 1909).
Louis Jaques Thénard (1777–1857) gilt als der Entdecker des Wasserstoffperoxids
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De Sondalo riet 1843 dazu, die Chemikalie als Lufterfrischer zu verwenden (Satterfield 1953).
Und Christian Friedrich Schönbein (1799–1868; Chemiker und Physiker) gelang es 1856, die Präsenz von Wasserstoffperoxid in lebendigen Systemen nachzuweisen (Schönbein 1856; Birckenbach 1909).
Der Durchbruch und frühe Pioniere
Thénards Verfahren zur Herstellung von Wasserstoffperoxid war bis Mitte des 20. Jahrhunderts gültig (Jones 1999). Trotzdem wurden immer wieder Versuche zur Optimierung der Produktion von Wasserstoffperoxid angestellt, doch bis auf wenige Ausnahmen wie beispielsweise bei Théophile-Jules Pelouze (1807–1867; Chemiker) schlugen die meisten fehl (Pelouze 1832; Satterfield 1953).
Michel Eugène Chevreul (1786–1889; Chemiker) und Cyprien Tessié du Motay (1818–1880; Physiker und Chemiker) bemerkten die große Bedeutung der Substanz als Bleiche bereits im Jahr 1862. Nicht zuletzt schuf der Gebrauch von Wasserstoffperoxid in der Kosmetikindustrie (als Haarbleichmittel) einen großen Markt für die Substanz (Satterfield 1953). Daneben diente es zur Herstellung anderer Chemikalien und sogar in hoher Konzentration als Brenn- oder Sprengstoff. Wasserstoffperoxid stand deshalb im ausgehenden 19. Jahrhundert hoch im Kurs und war aus der Industrie nicht mehr wegzudenken. In der Folge wurden verschiedene Wege zur Generierung von großen Mengen an flüssigem Wasserstoffperoxid entwickelt.
Über einen langen Zeitraum scheiterten während der Produktion der Substanz sämtliche Anstrengungen, Wasserstoffperoxid vom anfallenden Wasser zu separieren.
Aus diesem Grund nahm die Wissenschaft zeitweise an, dass es instabil sei. Per Vakuumdestillation gelang es schließlich im Jahr 1894 Richard Wolffenstein, entgegen allen Annahmen, reines Wasserstoffperoxid herzustellen (Wolffenstein 1894).
Aber auch die medizinische Fachwelt wurde nur kurze Zeit nach der Entdeckung von Wasserstoffperoxid auf das vielseitige »Wundermittel« aufmerksam und führte einige Untersuchungen an der Substanz durch: Im frühen 19. Jahrhundert leisteten die beiden Mitbegründer der modernen Mikrobiologie Louis Pasteur (1822–1895) sowie Heinrich Hermann Robert Koch (1843–1910) einen wertvollen Beitrag zum Fortschritt der Wissenschaft. Dank ihnen war es nun möglich, Bakterien in vitro anzuzüchten. Dieser Umstand eröffnete neue Wege in der Erforschung von antibakteriellen Substanzen. Neben vielen anderen Stoffen wurde auch die Wirkung von Wasserstoffperoxid auf Bakterien getestet. Die damit erzielten Ergebnisse zur antibakteriellen Aktivität von H2O2 wichen stark voneinander ab und ließen sich nicht immer reproduzieren. Im Nachhinein lässt sich das wohl durch das uneinheitliche Studiendesign und die damit einhergehenden Variablen erklären (beispielsweise getestete Bakterienarten, Reinheit und Konzentration des verwendeten Wasserstoffperoxids, Expositionszeiten). Trotzdem konnte eine gewisse und teilweise sogar äußerst potente antibakterielle, antivirale und pilzhemmende Wirkung nachgewiesen werden. Es waren diese besonderen Eigenschaften, die dem Wasserstoffperoxid gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu seinem Siegeszug im Kampf gegen verschiedene Infektionskrankheiten verhalfen.
Der wohl erste Befürworter des Gebrauchs der Substanz als Antiseptikum war Benjamin Ward Richardson (1828–1896; Arzt, Anästhesist, Physiologe). Er hob 1856 die Bedeutung der Chemikalie bei der Wundheilung hervor (Satterfield 1953).
Im Frühling des Jahres 1888 berichtete Dr. Love erstmals über die arzneiliche Wirkung von Wasserstoffperoxid im JAMA (Journal of American Medical Association). Der Arzt beschreibt darin den wirkungsvollen Einsatz des »Sauerstoffwassers« bei zahlreichen Erkrankungen wie Diphterie, Scharlach, Schnupfen, Nasenkatarrh, Keuchhusten, Asthma, Heuschnupfen und Mandelentzündung (Love 1888). In den USA setzte der US-amerikanische Arzt P. L. Cortelyou erstmals im Jahr 1888 Wasserstoffperoxid zur Behandlung von Infektionen in Nase und Hals ein. Er beschreibt die erfolgreiche Behandlung eines Diphteriepatienten, der mithilfe von Wasserstoffperoxid, das als Nasenspray verabreicht wurde, innerhalb eines Tages geheilt war (Douglass 2003) .
Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in das frühe 20. Jahrhundert wurde Wasserstoffperoxid in unzähligen Artikeln in Fachzeitschriften als potentes Heilmittel bei Infektionen und einer nicht enden wollenden Liste von Erkrankungen propagiert. Charles Marchand (1848–1917), Chemiker und seiner Zeit führender Produzent von Wasserstoffperoxid in den USA, editierte eine Sammlung aller zwischen 1880 und 1904 veröffentlichten Artikel über die innerliche und äußerliche Anwendung von H2O2, Ozon und Glyzerin zur Behandlung von Typhus, Cholera, Magengeschwür, Asthma, Bronchitis, Katarrh, Heuschnupfen, Keuchhusten und Tuberkulose (Marchand 2012). Der Sammelband erfreute sich bereits zu Lebzeiten Marchands großer Beliebtheit und wurde im Jahr 1904 zum 18. Mal aufgelegt. Walter Grotz hat das Werk 1989 reproduziert. Books on Demand bietet ebenfalls Nachdrucke an, was darauf hinweist, dass auch heute das Interesse der Fachwelt an dem 234-seitigen Sammelband nicht versiegt zu sein scheint.
Stebbing und Tunnicliffe stellen in ihrem 1916 erschienen Artikel im Lancet (medizinische Fachzeitschrift) einige Untersuchungen in Bezug auf die therapeutische Wirkung von Wasserstoffperoxid vor. So führte Pierre-Hubert Nysten 1811 einige Versuche zur Wirkung von intravenösen Injektionen verschiedener Gase in die Jugularvene (darunter auch Sauerstoff) bei Hunden durch (Nysten 1811). Der injizierte Sauerstoff rief damals bei den Tieren keine Nebenwirkungen hervor (Stebbing und Tunnicliffe 1916).
Und Jean Nicolas Demarquay (1814–1875; Chirurg und Autor) stellte fest, dass der intravenös applizierte Sauerstoff nicht vollständig von den Lungen der Versuchstiere herausgefiltert wurde und in das Gewebe gelangte (Demarquay 1886). Stebbing und Tunnicliffe entschieden sich aufgrund der Erfolge der beiden französischen Vorreiter und anderer Wissenschaftler auf dem Gebiet im Jahr 1916 erstmals dazu, Menschen reinen Sauerstoff zu injizieren. Sie sprachen sich nach ihren Versuchen für die vielversprechende therapeutische Wirkung der intravenösen Gabe aus, sofern diese vorsichtig und sachgerecht durchgeführt wird (Douglass 2003).
1921 schildern die englischen Armeeärzte T. H. Oliver, B. C. Cantab und D. V. Murphy im Lancet ihre beeindruckenden Ergebnisse bei der Bekämpfung einer Influenza-Pneumonie-Epidemie in Indien, die zahlreiche Menschenleben unter den Ghurkas (nepalesische Soldaten im Dienst der British Army und der indischen Streitkräfte) forderte – 80 Prozent der Erkrankungen hatten einen tödlichen Verlauf. Die Ärzte verabreichten einem Soldaten, dessen Schicksal bereits besiegelt zu sein schien, über einen Zeitraum von etwa 15 Minuten intravenös eine Mischung aus 240 Millilitern physiologischer Salzlösung und 60 Millilitern 3-prozentiger Wasserstoffperoxid-Lösung. Der Patient war am nächsten Tag geheilt (Oliver et al. 1920).
In den 1940er-Jahren nahm die Anzahl der Untersuchungen des Wundermittels durch die Verfügbarkeit von neuartigen Medikamenten ab. In Indien schien zu dieser Zeit die Begeisterung für die Sauerstofftherapie keinesfalls versiegt zu sein. So führten die beiden indischen Ärzte Singh und Mangaldas ähnlich wie Nysten, Demarquay, Tunnicliffe und Stebbing einige Experimente mit intravenös verabreichtem Wasserstoffperoxid an Hunden und Menschen durch. Sie erzielten damit vielversprechende Ergebnisse (Douglass 2003).
Ende der 1960er-Jahre realisierten Urschel und später Finney mit seinen Mitarbeitern einige Studien über Myokardischämie. In diesem Zuge untersuchten sie auch die Wirkung von H2O2 und kamen zu dem Ergebnis, dass die Substanz eine protektive Wirkung gegen Myokardischämie besitzt (Urschel 1967; Finney...