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Mit der Disziplin fängt alles an
Disziplin ist ein Wort, mit dem man sich nur schwer anfreunden kann, insbesondere wenn man jung ist. Kann ich mich damit nicht erst in ein paar Jahren befassen? Dieses Wort klingt, als gehöre es zum Militär oder in ein Internat oder auf eine Liste von Regeln und Vorschriften, die uns von dem abhalten, was wir wirklich tun wollen. Disziplin kann einem vorkommen wie der Feind von Spaß und Glück, wie ein Komplott, das Erwachsene geschmiedet haben, um jegliche Freude und Inspiration im Keim zu ersticken.
Aber dem ist nicht so. Disziplin ist viel mehr als nur harte Arbeit, doch mit ihr kommt der ganze Prozess in Gang. Ich war schon immer extrem strukturiert und sehr fleißig, ob ich nun meinen Schwestern beim Hausputz half, Sport machte, mich in der Schule anstrengte oder modelte – selbst heute noch, als Frau und arbeitende Mutter. Deshalb spüre ich eine so starke Verbindung zu dieser ersten Lektion: Mit der Disziplin fängt alles an. Ich glaube, dass sämtliche Erfolge, die ich in meinem Leben verbuchen kann, das Ergebnis von Konzentration, harter Arbeit, Engagement und Pünktlichkeit sind; dass ich alles, was notwendig war oder worum ich gebeten wurde, rechtzeitig erledigt und bei allem hundert Prozent gegeben habe – und noch immer gehe ich an alles im Leben so heran. Kurz gesagt: mit Disziplin.
Bei uns zu Hause war Disziplin wichtig. Bei sechs Kindern, lauter Mädchen, die alle durcheinanderplapperten, war das unerlässlich. Meine Mutter zum Beispiel hatte den ganzen Tag keine ruhige Minute und kümmerte sich um uns, so gut sie nur konnte. Jeden Morgen stand sie um sechs auf und mixte uns unsere Frühstücksshakes aus Avocados, Bananen oder Äpfeln mit Milch und ein bisschen Zucker; manchmal bereitete sie auch torradas zu, das sind Sandwiches mit geschmolzenem Käse. Nach dem Frühstück brachte sie oder unser Vater uns zur Schule, dann ging es für meine Mutter zur Arbeit, und zur Mittagszeit kam sie nach Hause, damit wir alle zusammen essen konnten. An den Wochenenden stand sie sogar noch früher auf, um sich um die Wäsche der ganzen Familie zu kümmern und für die kommende Woche vorzukochen und einzufrieren.
Der Tag, an dem Pati und ich zur Welt kamen, der 20. Juli 1980. Meine Schwestern und meine Großmutter mütterlicherseits kamen uns besuchen.
Bei acht Menschen, die sich drei Schlafzimmer und zwei Bäder teilten, war meinen Schwestern und mir sehr früh klar, dass wir mithelfen mussten.
Wir haben immer ein Familienfoto vor dem Weihnachtsbaum gemacht, der in einer Ecke unseres Hauses stand. Oben, von links nach rechts: Raque und meine Zwillingsschwester Pati. Unten, von links nach rechts: Walter, mein Großvater väterlicherseits, Gabi, Fofa, ich mit breitem Grinsen und meine Großmutter väterlicherseits, Lucilla, mit Baby Fafi auf dem Schoß.
Jede von uns hatte eine Putzaufgabe zu erledigen, bevor wir zum Spielen nach draußen durften. Wenn Raque oder Fofa die Glocke läutete, ging es für uns an die Arbeit. Für gewöhnlich war ich für die Badezimmer zuständig, und häufig schrubbte ich die Fugen zwischen den Fliesen so lange mit einer Zahnbürste, dass man davon hätte essen können. Damit ich mich wohlfühlen kann, müssen meine Räume sauber und ordentlich sein. Sobald meine Umgebung unordentlich ist, kann ich nicht mehr klar denken. Bei meinen Schwestern und mir war es so, dass wir für die Nächstjüngere immer auch als inoffizielle »Mama« agierten. Mit acht Jahren wechselte ich Fafi die Windeln und half meinen älteren Schwestern in der Küche beim Frittieren von Empanadas – mit Hühnchen, Rind oder Käse und Spinat gefüllten Teigtaschen –, die wir zusammen mit unserer Mutter aus Resten zubereitet hatten.
Das habt ihr toll gemacht, sagten meine Eltern, wenn meine Schwestern und ich etwas gut gemacht hatten. Jedes Mal. Wenn wir höflich waren. Wenn wir taten, worum wir gebeten wurden. Wenn wir uns anstrengten, gute Noten bekamen oder ein gutes Volleyballspiel hinlegten. Aber auch wenn etwas nicht so lief wie geplant, wir uns aber angestrengt und alles gegeben hatten, lobten uns unsere Eltern. Das habt ihr toll gemacht war ein riesiges Kompliment. Es hat mich immer auf meine Bemühungen stolz sein lassen.
Ob es nun um das Schrubben der Badezimmerfliesen, eifriges Lernen, gute Schulnoten oder um Sport ging, bei allem war ich enorm fokussiert und motiviert. Als ich mit zehn Jahren anfing, Volleyball zu spielen, sagte ich mir: Wenn ich gut werden will, muss ich jeden Tag mindestens zwei Stunden trainieren, um es ins Team zu schaffen, vielleicht sogar in das Team eine Klasse über mir. Meine Hausaufgaben ging ich genauso an. War ich in einem Fach nicht gut, blieb ich notfalls die ganze Nacht wach und lernte so lange, bis ich eine Eins bekam. Disziplin war für mich nie ein abstrakter Begriff oder etwas, in das ich später irgendwann hineinwachsen würde. Sie war schon immer ein Teil von mir – ich wollte mein Bestes geben, meine Eltern stolz machen, niemanden hängen lassen. Wollte ich bei irgendetwas Erfolg haben, dann stellte ich mir nicht nur vor, was ich wollte, oder wartete darauf, dass es eintraf oder jemand es mir aushändigte. Mir war klar, dass ich etwas dafür tun musste. Auch dann, wenn ich Angst hatte oder mir etwas unerreichbar erschien. Ich habe immer hundert Prozent gegeben, immer mein Bestes, weil ich wusste, dass ich mir ansonsten Vorwürfe machen würde. Dabei lag meiner Disziplin das starke Gefühl zugrunde, dass ich alles, was ich mir vorgenommen hatte, auch erreichen konnte, wenn ich mir nur genug Mühe gab. Und machte mir etwas Angst, gab ich mich nicht etwa geschlagen. Ich stellte mich der Herausforderung.
Mit der Zeit wurde ich immer disziplinierter, vielleicht, weil ich die positiven Ergebnisse sah. Als ich mit vierzehn mein Zuhause und meine Familie verließ, um nach São Paulo zu ziehen und eine Modelkarriere zu beginnen, hatte ich einen Entschluss gefasst. Für mich stand fest: Ich komme nicht mit leeren Händen nach Hause zurück. Ich werde meine Eltern und Schwestern nicht enttäuschen. Ich werde mich nach allen Kräften bemühen und tun, was ich tun muss, auch wenn das heißt, Tag und Nacht zu arbeiten. Ohne Disziplin hätte ich vielleicht den nächsten Bus nach Hause genommen. Die Arbeit war sehr anstrengend, ich vermisste meine Familie, und häufig war ich einsam. Aber ich blieb in São Paulo und machte weiter.
Meine Freundin Maqui, ich, meine Freundin Karina und meine Schwester Pati in unseren paquitas-Outfits kurz vor unserem Auftritt beim Musikfestival in Horizontina 1992.
Eine Gelegenheit folgte auf die nächste, unaufhörlich, und ich strengte mich weiter an.
Nachdem ich 1999 den Vertrag mit Victoria’s Secret unterschrieben hatte, arbeitete ich 350 Tage im Jahr. In einer typischen Saison fanden bis zu sechs Shows an einem Tag statt, gefolgt von den Fittings für die Shows am nächsten Tag. Haar-Styling und Make-up fingen zum Teil um sechs Uhr morgens an, und die Fittings konnten bis zum Morgengrauen dauern. Ganz egal, ob ich in der Nacht zuvor erst um zwei ins Bett gekommen war – die Fittings waren ein Muss. Und ich war jeden Morgen pünktlich da. Es ging da nicht sonderlich glamourös zu. Nur selten bot mir jemand ein Glas Wasser an, und manche Leute nahmen kein Blatt vor den Mund und teilten mir rundheraus mit, was sie zu kritisieren hatten.
In einem kleinen Boot, auf dem Weg zu einem Werbe-Shooting, umgeben von Eisbergen in Island, 1998. Es war eiskalt!
Ich erinnere mich gut daran, wie ich als Teenager und junge Erwachsene ein schönes Model nach dem anderen traf – es gab so viele, also konnte ich es kaum glauben, dass ich diejenige war, die für so viele Jobs gebucht wurde. Warum? Ich vermute mal, dass meine Disziplin dabei eine große Rolle gespielt hat. Ich habe hart gearbeitet, aber immer auch versucht, jemand zu sein, mit dem man gerne zusammen ist und Spaß haben kann. Alle Jobs fußen auf Zusammenarbeit, das ist beim Modeln nicht anders. Ich bin nie zu spät gekommen, nicht ein einziges Mal. Immer gab ich alles. Einmal musste ich für einen Job in Island zwischen lauter Eisbergen auf einem schwimmenden künstlichen Eisberg stehen und hatte nur ein dünnes Trägerkleidchen an. Mir war eiskalt, außerdem befürchtete ich, ich könnte ausrutschen und ins eisige Wasser fallen, und trotzdem lächelte ich und gab mir die größte Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, wie viel Angst ich hatte. Ich sagte mir, es sei egal, wenn ich zitterte oder meine Lippen blau anliefen. Ich wollte nur meinen Job gut machen.
Genau genommen war ich einfach glücklich, dort zu sein! Ich war so dankbar für jede Chance, die ich bekam. Wie sollte man sich mit diesem Job nicht für einen Glückspilz halten, und wenn man sich dafür zehnmal an einen Eisberg lehnen musste? Das musste doch auch allen anderen in diesem Job so gehen, oder? Einer der Gründe, weshalb ich im Modeln so gut wurde, liegt vermutlich darin, dass ich nicht von Natur aus fotogen war. Sehr viele Models sehen auf einem Foto einfach großartig aus. Ich jedoch hatte das Gefühl, dass ich nicht gut aussehen würde, wenn ich einfach nur vor der Kamera stand. Ich musste lebendig werden, mehr wie eine Schauspielerin oder Tänzerin sein, um etwas Besonderes daraus zu machen. Mir war es wichtig, gute Arbeit abzuliefern, gleichzeitig wollte ich mich aber nie durch das Modeln definieren lassen. Tatsächlich wurde ich nie zu einem Model; ich modelte. Für gewöhnlich arbeitete ich von morgens bis abends und ging danach nach Hause, wo ich mit meinem Hund Vida...