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E-Book

Geschwistertod

Leben mit einem schweren Verlust -

AutorMinke Weggemans
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641242978
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Trauerbegleitung für erwachsene Geschwister
Der Verlust eines Bruders oder einer Schwester verändert das eigene Leben grundlegend, egal, in welchem Alter man ihn erlebt. Mit dem Geschwister verliert man auch ein Stück seiner eigenen Identität. Dieses Buch bietet erstmals Hilfe für alle, die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben, und für jeden, der sich mit der Bedeutung seiner Geschwisterbeziehung beschäftigt.
  • Für alle, die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben
  • Der Bestseller aus den Niederlanden


Minke Weggemans studierte Theologie und Sozialwissenschaften. Seit 1976 arbeitet sie als Therapeutin in eigener Praxis in der Nähe von Appeldoorn/Niederlande und begleitet Gesprächsgruppen und Trauernde. Sie ist anerkannte NLP-Master-Practitioner und für die Stiftung Attitudinal Healing tätig.

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Leseprobe

I
»SIE WAR MEINE SCHWESTER«


Der nicht anerkannte Verlust


Ein fehlendes Kapitel

Handbücher über Trauerarbeit und Trauerprozesse handeln in der Regel vom Verlust eines Partners, eines Kindes oder eines Elternteils. Neuerdings auch vom Verlust eines Haustiers, einer Arbeitsstelle, eines Karriereziels, vom unerfüllten Kinderwunsch und anderen unerfüllten Sehnsüchten. Ein Buch über den Verlust eines Bruders oder einer Schwester für Erwachsene gibt es bisher nicht. Aus unerklärlichen Gründen ist bis heute nichts über diesen Verlust geschrieben worden, einmal abgesehen von vielen sehr berührenden autobiografischen Dokumenten über den Verlust »meines Bruders« oder »meiner Schwester« und verschiedenen Romanen, in denen der Tod eines Geschwisters ein wichtiges Thema darstellt.

Unbemerkter Verlust

Der Verlust eines Geschwisters kommt sehr häufig vor, jedes Jahr sind viele Menschen davon betroffen. In Deutschland starben im Jahr 2008 über 840.000 Menschen: Wenn die Verstorbenen im Schnitt einen Bruder oder eine Schwester hatten, dann würde das bedeuten, dass im Jahr 2008 auch mehr als 840.000 Menschen einen Bruder oder eine Schwester verloren haben. Natürlich haben manche Menschen gar keine Geschwister, andere dagegen mehr als nur einen Bruder oder eine Schwester. Diese Zahl ist also nur als vorsichtige Schätzung zu betrachten.

Obwohl jedes Jahr sehr viele Menschen einen Bruder oder eine Schwester verlieren, ist nur wenig über die Folgen dieses Ereignisses im Leben der hinterbliebenen Geschwister bekannt. Aus einer kleinen niederländischen Studie geht allerdings hervor, dass viele Menschen große Schwierigkeiten damit haben, den Verlust eines Bruders oder einer Schwester zu akzeptieren, Frauen fällt dies noch schwerer als Männern. 1

Dass die Betroffenen große Mühe damit haben, den Verlust ihres Bruders oder ihrer Schwester zu akzeptieren, ist der unmittelbaren Umgebung oft nicht bewusst. Möglicherweise kannten die Personen im direkten Umfeld, die Freunde und Bekannten, den Bruder oder die Schwester gar nicht. Möglicherweise hat er oder sie an einem anderen Ort gelebt. So kann der Verlust eines Bruders oder einer Schwester im Umfeld der hinterbliebenen Geschwister so gut wie unbemerkt bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die Betroffenen aufsucht, um sein Beileid auszusprechen, ist ziemlich gering. Es handelt sich dabei auch nicht um eine übliche, gesellschaftlich verankerte Geste.

Es gibt kein soziales Auffangnetz für Menschen, die einen Bruder oder eine Schwester verloren haben. Für Menschen, die ohne ihren Partner weiterleben müssen, besteht ein solches Netz glücklicherweise schon. So selbstverständlich es ist, sich um Menschen zu kümmern, die ihren Partner verloren haben, so wenig selbstverständlich ist es bei uns, sich Menschen zuzuwenden, die ihren Bruder oder ihre Schwester verloren haben. Auch deshalb gibt es große Unterschiede zwischen dem Trauerprozess um einen Partner und dem Trauerprozess um einen Bruder oder eine Schwester. Der unterschwellige und unbekannte Trauerprozess um ein Geschwister, der auch Sozialarbeitern, Pfarrern und Ärzten meist verborgen bleibt, tritt im Vergleich zum öffentlichen und anerkannten Trauervorgang der Witwe oder des Witwers gar nicht in Erscheinung.

Auf den Tod nicht leiden können

Wenn es also stimmt, dass die Betroffenen große Schwierigkeiten damit haben, den Verlust ihres Bruders oder ihrer Schwester zu akzeptieren, und wenn sie im Allgemeinen von ihrem Umfeld wenig Beachtung zu erwarten haben, warum bitten sie dann nicht selbst um mehr Aufmerksamkeit? Wie kommt es, dass die Brüder und Schwestern selbst so wenig darüber sprechen, oder aber auf eine derart beiläufige Art und Weise vom Tod ihres Geschwisters berichten, dass der Eindruck entsteht, sie wollen gar nicht darüber reden? Ist es ihnen unangenehm, über den Tod zu sprechen? Lehnen sie es gar strikt ab? Es gibt im Niederländischen die Redewendung: Een broertje dood aan iets hebben (vergleichbar etwa mit: etwas auf den Tod nicht leiden können). Diese Aussage bringt heute eine vehemente Ablehnung zum Ausdruck. In der ursprünglichen Bedeutung dieser Redewendung geht es jedoch um die Angst vor der Krankheit, an der der Bruder gestorben ist. Kann es sein, dass die Menschen es ablehnen, über den Tod ihres Bruders oder ihrer Schwester zu reden, weil der Tod dann anscheinend zu nahe an sie selbst herankommt?

Wie dem auch sei, der Verlust eines unserer Geschwister ist meistens kein Gesprächsthema, obwohl es ein Verlust ist, der häufig vorkommt, und der weitreichende Folgen nach sich ziehen kann. Vor einigen Jahren war ich Zeugin, wie ein Teilnehmer in einem Workshop zu seiner eigenen Überraschung entdeckte, dass sein totgeborener Bruder einen starken Einfluss auf seine Jugend und sein gesamtes weiteres Leben hatte. Wenn der Tod eines Bruders, den man nie kannte, eine derart große Auswirkung auf das eigene Leben hat, müsste dann nicht der Tod eines Bruders oder einer Schwester, die man kannte, einen weitaus größeren Einfluss haben?

Gespräche mit Brüdern und Schwestern

Die Fragen rund um die Folgen eines Verlusts von einem Bruder oder einer Schwester ließen mich nicht mehr los. Welche Auswirkung hat dieser auf das eigene Leben, vor allem auf das Gefühlsleben? Redet man mit anderen Menschen darüber oder geht man einem solchen Gespräch aus dem Weg? Wo findet man Unterstützung? Hat man immer das Gefühl eines Verlusts oder nur dann, wenn der Bruder oder die Schwester einem auch wirklich sehr nahestanden? Wie wichtig sind Geschwister eigentlich für einen Menschen?

Weil ich in der Trauerliteratur keine Antworten auf meine Fragen finden konnte, führte ich mit Menschen, die selbst die Erfahrung dieses Verlusts gemacht haben, Gespräche. Anfangs waren es lange, individuelle Interviews; später leitete ich Gesprächsgruppen und Workshops zu diesem Thema. Inzwischen habe ich mit fast 100 Menschen, die einen Bruder oder eine Schwester durch den Tod verloren haben, gesprochen. Auffallend ist, dass einzelne Gesprächspartner, die schon als Kind ein Geschwisterteil verloren haben, jetzt, da sie erwachsen sind, darüber reden wollen, weil sich die Geschehnisse von damals noch immer auf ihr Leben auswirken. Die Gespräche beschränken sich also nicht auf diejenigen Menschen, die als Erwachsene eines ihrer Geschwister verloren haben, es geht vielmehr um Gespräche mit Erwachsenen, die irgendwann in ihrem Leben einen Bruder oder eine Schwester verloren haben.

Das erste Gespräch

Meine erste Gesprächspartnerin war eine alte Dame, deren Schwester starb, als sie selbst 16 Jahre alt war. Obwohl Lisa (83) damals selbst noch ein Kind war, hatte sie bereits die gesellschaftliche Position einer Erwachsenen. Sie hatte einen Arbeitsplatz und trug die Verantwortung für ihren Teil des Familieneinkommens. Aus ihrer Geschichte zeigt sich, dass der Kummer um eine verlorene Schwester ein Leben lang andauern kann:

Ich bin 83 Jahre alt und in diesem Alter liegt es in der Natur der Sache, dass man seine Familie verlieren wird. Ich jedoch verlor, als ich 16 war, meine einzige Schwester und ich kann immer noch nicht darüber reden. Sie war 20, ich war 16. Das hat ganz sicher meinen späteren Jugendjahren einen Stempel aufgedrückt und mein ganzes weiteres Leben geprägt. Wenn Sie darüber eine Untersuchung machen wollen und mich so fragen, dann glaube ich schon, dass ich darunter gelitten habe, dass mir so wenig Beachtung zuteil wurde. Als ich neun war, hatte meine Schwester schon einige Zeit im Sanatorium verbracht. Sie war damals 14. Mit 17 Jahren, ich war 13, musste sie ein zweites Mal in das Sanatorium. Meine Mutter brachte sie dorthin. Ich musste in die Schule, aber eine Freundin begleitete mich zum Bahnhof, um sie zu verabschieden. Das war das letzte Mal, dass sie zu Hause war. Ich habe den Augenblick, an dem sie unser Zuhause verließ, sehr gut in Erinnerung, denn es hatte etwas Radikales. Sie lag drei Jahre in diesem Sanatorium und ist auch noch einmal operiert worden, wobei ein Teil der Lunge entfernt wurde. In dem Sanatorium brach später Scharlach aus, ein Arzt hatte das Virus eingeschleppt, das die Herzklappen schädigen kann. Sie ist letztlich an einem Herzstillstand gestorben. Wir erhielten ein Telegramm, dass es gut wäre, wenn meine Mutter käme. Wir hatten damals noch kein Telefon. Am nächsten Morgen, als meine Mutter sich auf den Weg machte, fragte ich: »Und wenn sie nun stirbt?« Darauf antwortete meine Mutter: »Dann geh doch mit.« Aber ich sagte: »Das kann ich nicht, ich muss doch ins Büro.« Es war eine wirtschaftlich schwierige Zeit und ich hatte gerade eine neue Stelle. Als ich am Ende des Nachmittags nach Hause kam, sagte die Nachbarin: »Das ist aber jetzt schnell gegangen, nicht?« Da habe ich sofort verstanden.

Ich bekam frei bis zum Begräbnis, das ein Onkel meiner Mutter organisierte. Wir hatten Blumen für den Sarg gekauft. Der Onkel hat mich aus dem Raum, in dem der Besuch saß, weggeholt und mich mitgenommen in den Raum, in dem Annie aufgebahrt war, und er ließ mich die Blumen um sie herum anordnen. Im Nachhinein fand ich das sehr gut von ihm. Ich habe die Hyazinthen um ihren Körper herum verteilt und die Freesien in ihre Hände gelegt. Ich habe wirklich Gelegenheit bekommen, Abschied zu nehmen. Ich habe auch ihre Hände noch einmal gehalten. Sie sah sehr schön aus, nur ihr Haar war sehr dunkel geworden. Dann kam das Begräbnis. In unserer Familie war es Brauch, dass Frauen nicht zur Beerdigung mitgingen. Deshalb war ich nicht dabei und meine Mutter auch nicht. Es gab auch keine Messe oder so etwas. Am Tag nach...

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