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E-Book

Die Mühlen der Zivilisation

Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten

AutorJames C. Scott
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783518761526
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR

Wie selbstverständlich gehen wir davon aus, dass die neolithische Revolution, in deren Verlauf Nomaden zu Ackerbauern und Viehzüchtern wurden, ein bedeutender zivilisatorischer Fortschritt war. James C. Scott entwickelt in seinem provokanten Buch eine ganz andere These: Die ersten Staaten entstanden aus der Kontrolle über die Reproduktion und errichteten ein hartes Regime der Domestizierung und Unterwerfung, das Epidemien, Ungleichheiten und Kriege mit sich brachte. Einzig die »Barbaren« - die heimlichen Helden dieses Buches - haben sich der Sesshaftigkeit sowie den neuen Besteuerungssystemen verweigert und sich damit gegen die Mühlen der Zivilisation gestemmt.



<p>James C. Scott, geboren 1936, ist Sterling Professor of Political Science und Direktor des agrarwissenschaftlichen Programms der Yale University. Er ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences und war Fellow sowohl am Wissenschaftskolleg zu Berlin als auch der Guggenheim Stiftung. Seine Bücher zur Geschichte der Staatlichkeit sowie zu Widerstandsbewegungen gelten bereits heute als Klassiker und sind vielfach preisgekrönt. Zuletzt erhielt er 2015 den Benjamin E. Lippincott Award der American Political Science Association und 2018 schließlich den Prize for High Achievement in Political Science von der International Political Science Association für sein Lebenswerk.</p>

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9Vorwort


Was Sie hier finden werden, ist der Bericht von dem Erkundungsgang eines Grenzverletzers. Lassen Sie mich das erklären. 2011 wurde ich gebeten, zwei Tanner Lectures in Harvard zu halten. Die Anfrage war schmeichelhaft, aber da ich gerade ein anstrengendes Buch hinter mich gebracht hatte, genoss ich eine willkommene Zeit der »freien Lektüre«, ohne ein besonderes Ziel vor Augen zu haben. Was konnte ich realistischerweise in vier Monaten zustande bringen, das vielleicht von Interesse wäre? Als ich mich so nach einem überschaubaren Thema umsah, kamen mir die beiden einleitenden Vorlesungen in den Sinn, mit denen ich in den letzten beiden Jahrzehnten einen Graduiertenkurs über agrarische Gesellschaften zu eröffnen pflegte. Sie behandelten die Geschichte der Domestikationen und die agrarische Struktur der frühesten Staaten. Obwohl sie sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt hatten, war mir klar, dass sie völlig überholt waren. Vielleicht, überlegte ich, könnte ich mich in die aktuelleren Arbeiten über Domestikation und die frühesten Staaten vertiefen und zumindest zwei Vorlesungen schreiben, die den Forschungsstand besser widerspiegelten und meiner anspruchsvollen Studenten würdiger wären.

Nie stand mir eine größere Überraschung bevor! Die Vorbereitung der Vorlesung erschütterte vieles von dem, was ich zu wissen glaubte, und konfrontierte mich mit einer Masse neuer Debatten und Ergebnisse, die ich in der Tasche haben musste, um dem Thema gerecht zu werden. So dienten die Vorlesungen, die ich dann tatsächlich hielt, mehr dazu, mein Erstaunen über die Menge der überkommenen, gründlich überprüfungsbedürftigen Meinungen zu bekunden, als dazu, diese Überprüfung selbst zu leisten. Homi Bhabha, mein Gastgeber, wählte drei scharfsinnige Kommentatoren aus – Arthur Kleinman, 10Partha Chatterjee und Veena Das –, die mich in dem Seminar, das den Vorlesungen folgte, davon überzeugten, dass meine Argumente eigentlich noch längst nicht präsentabel waren. Tatsächlich tauchte ich erst fünf Jahre später mit einem Manuskript wieder auf, das mir wohlbegründet und provokant schien.

Das vorliegende Buch reflektiert also meine Bemühung, tiefer zu schürfen. Es ist immer noch sehr das Werk eines Amateurs. Obwohl ich eingetragenes Mitglied der politikwissenschaftlichen Zunft bin und nur ehrenhalber als Anthropologe und Ökologe gelten darf, erforderte dieses Unternehmen das Arbeiten am Schnittpunkt von Vorgeschichte, Archäologie, Alter Geschichte und Anthropologie. Da ich auf keinem dieser Gebiete besondere Fachkompetenz habe, kann man mir mit gutem Recht Hybris vorwerfen. Meine Entschuldigung für diese Grenzüberschreitung – die gewiss noch keine Rechtfertigung darstellt – ist eine dreifache. Erstens ist die Naivität, mit der ich an das Unternehmen herangehe, auch ein Vorteil! Anders als ein Spezialist, der sich leicht in dem dichten Gestrüpp intensiver Debatten auf seinem Gebiet verfängt, begann ich mit überwiegend den gleichen unüberprüften Annahmen über die Kultivierung und Zähmung von Pflanzen und Tieren, über Sesshaftigkeit, frühe Bevölkerungszentren und die ersten Staaten, Annahmen, die diejenigen von uns, die den neuen Erkenntnissen ungefähr der letzten beiden Jahrzehnte keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben, für erwiesen zu halten geneigt sind. In dieser Hinsicht könnten mein Unwissen und meine anschließende Verblüffung darüber, wie viel von dem, was ich zu wissen glaubte, falsch war, vielleicht von Vorteil beim Schreiben für einen Adressatenkreis sein, der von den gleichen Fehlvorstellungen ausgeht. Zweitens habe ich mich als Wissenskonsument redlich bemüht, die neueren Erkenntnisse und Debatten in Biologie, Epidemiologie, Archäologie, Alter Geschichte, Demographie und Umwelthistorie, soweit sie diese Fragen betreffen, aufzunehmen. Und schließlich bringe ich als Hintergrund meine über zwei Jahrzehnte ausgedehnten Versuche mit, die Logik der modernen Staatsmacht (Seeing Like a State) sowie die Praktiken nichtstaatlicher Völker besonders in Südostasien zu 11verstehen, die es bis vor kurzem vermeiden konnten, von Staaten aufgesogen zu werden (The Art of Not Being Governed).

Dies ist also ein Projekt, das Wissen aus zweiter Hand zusammenstellt und sich dessen völlig bewusst ist. Es schafft keine eigenständigen neuen Erkenntnisse, sondern betrachtet es als sein ehrgeizigstes Ziel, bestehendes Wissen so zu verknüpfen, dass ein erhellendes oder suggestives Bild entsteht. Die erstaunlichen Fortschritte unseres Verständnisses im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte haben dazu gedient, das, was wir über die ersten »Zivilisationen« im mesopotamischen Schwemmland und anderswo zu wissen glaubten, radikal zu revidieren oder total umzustürzen. Wir dachten (jedenfalls die meisten von uns), die Domestikation von Pflanzen und Tieren habe direkt zu Sesshaftigkeit und feldgebundener Landwirtschaft geführt. Es zeigt sich aber, dass Sesshaftigkeit der nachgewiesenen Domestikation von Pflanze und Tier lange vorausging und dass es sowohl Sesshaftigkeit als auch Domestikation mindestens vier Jahrtausende lang gab, bis so etwas wie ein landwirtschaftliches Dorf auftrat. Sesshaftigkeit und das erste Erscheinen von Städten galten typischerweise als Folge von Bewässerung und Staatengründung. Stattdessen erweist sich, dass beide gewöhnlich das Produkt überreichlich vorhandener Feuchtgebiete sind. Wir glaubten, dass Sesshaftigkeit und Kultivierung direkt zur Staatenbildung geführt hätten, doch Staaten tauchten erst lange nach dem Erscheinen feldgebundener Landwirtschaft auf. Ackerbau, dachte man, sei ein großer Fortschritt, was Wohlergehen, Ernährung und Muße der Menschen angeht. Ungefähr das Gegenteil war zunächst der Fall. Der Staat und die frühen Zivilisationen galten oft als Magneten, die die Menschen dank ihres Luxus, ihrer Kultur und ihres Chancenreichtums angezogen hätten. In Wirklichkeit mussten die frühen Staaten einen Großteil ihrer Bevölkerung erbeuten und in Knechtschaft halten. Darüber hinaus wurden sie aufgrund des dichteren Zusammenlebens von Epidemien heimgesucht. Die frühen Staaten waren fragil und anfällig für Zusammenbrüche, doch die darauffolgenden »dunklen Zeitalter« dürften oft eine faktische Verbesserung des menschlichen Wohls bedeutet haben. Schließlich lässt sich mit 12guten Gründen behaupten, dass das Leben außerhalb des Staates – das Leben als »Barbar« – materiell gesehen häufig leichter, freier und gesünder war als das Leben innerhalb der Zivilisation – zumindest für die Nichteliten.

Ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass meine jetzige Darstellung nicht das letzte Wort über Domestikation, frühe Staatenbildung oder das Verhältnis zwischen den frühen Staaten und den Bewohnern ihres Hinterlands sein wird. Mein Ziel ist ein doppeltes. Das bescheidenere lautet, das fortgeschrittenste Wissen, das wir über diese Dinge haben, kurz darzustellen und dann anzudeuten, was sich für die Bildung von Staaten und für die Auswirkungen der Staatsform auf Mensch und Ökologie daraus ableiten lässt. Allein das ist schon eine Riesenaufgabe, und ich habe versucht, den Maßstäben für dieses Genre zu genügen, die Autoren wie Charles Mann (Amerika vor Kolumbus) und Elizabeth Kolbert (Das sechste Sterben) gesetzt haben. Mein zweites Ziel, das meinen Gewährsleuten nicht zum Vorwurf gemacht werden sollte, besteht darin, weiterreichende Folgerungen oder vielmehr Mutmaßungen anzustellen, mit denen, wie ich meine, »gut zu denken« wäre. So schlage ich vor, Domestikation im umfassendsten Sinne – als Kontrolle der Reproduktion – nicht nur auf Feuer, Pflanzen und Tiere anzuwenden, sondern auch auf Sklaven, Staatsuntertanen und Frauen in der patriarchalen Familie. Ich vertrete die These, dass Zerealien einzigartige Merkmale besitzen, die sie im Grunde überall zu der für die frühe Staatenbildung unentbehrlichen »Hauptwährung« der Besteuerung werden ließen. Ich glaube, dass wir die Bedeutung der (ansteckenden) Krankheiten, die vom dichteren Zusammenleben begünstigt wurden, für die demographische Fragilität des frühen Staates womöglich grob unterschätzt haben. Anders als viele Historiker frage ich mich, ob die häufig nachgewiesene Preisgabe von Zentren der frühen Staaten nicht eher ein Segen für die Gesundheit und Sicherheit ihrer Populationen war als der Beginn eines »dunklen Zeitalters«, das den Zusammenbruch einer Zivilisation anzeigte. Und schließlich frage ich mich, ob jene Populationen, ...

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