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Die drei Daseinsmerkmale
Es ist höchste Zeit, mehr Vernunft und größere Weisheit an den Tag zu legen, oder nicht?
Dalai Lama
Witz gefällig?
Auf der Suche nach innerer Ruhe sucht jemand einen Meditationsmeister auf.
»Ich will Frieden. Wie stell ich das an?«, fragt der Suchende.
»Nun«, antwortet der Meister. »Nimm zunächst einmal das ›Ich‹ weg, denn das ist das Ego. Und dann entferne das ›will‹ – das Verlangen. Was bleibt?«
Das ist natürlich leichter gesagt als getan!
Wenn du Ruhe und Zufriedenheit in deinem Leben finden möchtest, musst du zunächst dein Wesen und die Natur deiner Wünsche begreifen. Auch musst du dir klarmachen, was dir Erfüllung geben kann und was nicht. Die buddhistische Lehre von den drei Daseinsmerkmalen kann dir helfen, das herauszufinden.
Vor über zweitausendfünfhundert Jahren lehrte der Buddha, dass alle Phänomene im ganzen Universum drei Grundcharakteristiken gemeinsam haben:
- Vergänglichkeit
- Leiden/Unzulänglichkeit
- Selbst-Losigkeit/Nicht-Selbst)
Worum es bei dieser Lehre letztlich geht: Alle Phänomene – von Gedanken, Gefühlen, Emotionen hin zu Menschen, Orten und Dingen – sind in ständiger Veränderung begriffen; dies ist der große Fluss des Universums. Und weil nichts von diesen kontinuierlichen Veränderungen ausgenommen ist, kann dir nichts auf dieser Welt volle Befriedigung verschaffen, höchstens kurze Momente vorübergehender Erfüllung. Dies führt zu einem anhaltenden Zustand, den Buddhisten dukkha nennen, was oft mit »Leiden« übersetzt wird oder aber auch mit »Unzufriedenheit« oder »Unzulänglichkeit«.
Mit anderen Worten: Alles, von dem du denkst, es könnte dich glücklich machen, bereitet nur vorübergehende Zufriedenheit und lässt dich nur nach immer mehr gieren. Und schließlich zeigt das Nicht-Selbst beziehungsweise die Selbst-Losigkeit – nicht zu verwechseln mit dem Gegenteil von Egoismus –, dass das Bild, das du von dir hast, nur eine Illusion ist, eine Selbsttäuschung, denn auch du befindest dich ständig im Fluss. Da es in unserem unbeständigen Universum nichts von Dauer gibt, kann auch von einem separaten, unveränderlichen Selbst keine Rede sein. Solange du die Existenz dieser drei Phänomene erkennst und akzeptierst, wirst du dich bei deinem Versuch, inneren Frieden zu finden, vergeblich abstrampeln.
Schauen wir uns die drei Daseinsmerkmale jetzt mal etwas intensiver an.
Vergänglichkeit
Dass nichts statisch oder fest ist, sondern alles fließt und unbeständig ist, stellt das erste Daseinsmerkmal dar. Den Normalzustand. Alles ist in ständiger Entwicklung.
Alles – jeder Baum, jeder Grashalm, alle Tiere, Insekten, Menschen, Gebäude, das Belebte wie das Unbelebte – verändert sich ständig, von Moment zu Moment.
Pema Chödrön
Ich habe mal eine Geschichte gehört, in der ein König einem seiner Diener Demut beibringen wollte und ihm dazu auftrug, einen Ring zu finden, der den Glücklichen traurig und den Unglücklichen froh machen könnte. Da er wusste, dass so ein Ring nicht existierte, schickte er den Diener aus und gab ihm ein halbes Jahr Zeit, ihn dennoch aufzutreiben. Im ganzen Land sah sich der Diener um, vergebens. Am Abend vor Ablauf der Sechs-monatsfrist traf er in einem Dorf einen weisen Mann und fragte ihn: »Weißt du von einem Ring, der einen Glücklichen traurig und den Unglücklichen froh machen kann?« Stumm nickte der Weise und gravierte einige Worte in einen Ring. Am nächsten Tag rief der König seinen Diener zu sich und fragte ihn, ob er den Ring gefunden habe. Während alle Anwesenden, auch Seine Majestät selbst, die Münder schon zu einem hämischen, abfälligen Lachen öffneten, überreichte der Diener dem König den Ring. Die aufgeräumte Stimmung des Herrschers schlug um, als er die eingravierten Worte las: »Auch dies geht vorüber.«
Sehr hübsch illustriert diese kleine Fabel das erste der drei Daseinsmerkmale, die Vergänglichkeit. Sie ist das einzige fixe Versprechen, das das Leben zu bieten hat. Alles in diesem ganzen Universum ist in ständiger Bewegung. Ob Gedanken, Empfindungen oder Menschen und Situationen: Nichts ist von dieser Wahrheit ausgenommen. Vergänglichkeit ist immer und überall. Und daran wird sich auch nichts ändern. Sobald du das einmal verinnerlicht hast, wirst du auf Veränderungen in deinem Leben flexibler reagieren können und dich auch daran erinnern, dass du allen Grund hast, das, was du bereits bist und hast, wertzuschätzen und dankbar dafür zu sein.
Die Vergänglichkeit kann ziemlich angsteinflößend sein; und trotz ihrer Allgegenwart empfinden wir Veränderungen in der Regel als unschön, weil sie uns den Boden nehmen, auf dem wir stehen. Nichts können wir uns krallen, nichts wirklich besitzen. Solltest du versuchen, an angenehmen Gefühlen, Erfahrungen oder Emotionen festzuhalten, wird dir schnell auffallen, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ein Beispiel: Du hast dir gerade ein neues iPhone gekauft, bist voller Freude und Aufregung – endlich hast du das Gerät, auf das du schon so lange gewartet hast! Du lädst alle verfügbaren neuen Apps herunter und fängst sofort an, dich mit den ganzen coolen Features zu beschäftigen. Aber die Begeisterung schwindet schnell, und nach – höchstens – einigen Wochen ist dieses einmal so großartige Telefon nichts anderes mehr als deine alte Gurke. Doch damit nicht genug: Wie sich herausstellt, kommt schon in ein paar Monaten eine bessere Version des Geräts auf den Markt. Und im Vergleich zu dem kann dein iPhone, das dir einmal so viel Freude und Spaß bereitet hat, nun nur noch als Mahnung an etwas dienen, das du nicht hast. Reingefallen, Alter!
Die Vergänglichkeit kann sich in deinem Leben zu einer Quelle echter Sorgen auswachsen – als unbehagliche Unterströmung, die den Geist zu der Idee von einem dauerhaften Ich verleitet, das sich fest an bestimmte Überzeugungen, Gedanken und Emotionen hält. Wenn du die Vergänglichkeit leugnest oder dich ihr entgegenzustellen versuchst, wirst du dir eine Menge unnötiges Leiden einhandeln. Aber das muss nicht so sein: Denn schließlich zwingt dich niemand, auf Veränderungen mit Widerstand zu reagieren. Stattdessen musst du die Dinge nur an dich heranlassen, sie zu- und loslassen, den Wandel also akzeptieren wie ein Pflanzenblatt, das von der Strömung im Fluss mitgetragen wird. Denn die Dinge ändern sich, ob du das nun willst oder nicht. Manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechteren. Sobald du das verstanden und dich damit arrangiert hast, werden die Dinge handhabbar; du kannst deinen Widerstand aufgeben und lernen, dich auf sie einzulassen. Meinen Yogaschülern sage ich immer gern: »Entweder könnt ihr im Meer des Lebens ertrinken oder ihr lernt surfen.«
Der Meditationsmeister Ajahn Chah wurde einmal gefragt, wie er in einer vergänglichen Welt so glücklich sein könne. Als Antwort hielt er seine Lieblingstasse, das Geschenk eines Freundes, hoch und erklärte, wie viel Freude er an ihr habe. Er sagte, wie wunderbar sie das Wasser enthielte, wie sie im Sonnenlicht schimmere und wie schön sie klinge, wenn er sie anschnippe. Und obwohl sie eines Tages zerbrechen könne, würde er sein Vergnügen an ihr haben, solange sie intakt sei, im vollen Bewusstsein darüber, dass ihre Natur darin bestehe, zu zerfallen.
Was Ajahn Chah hier demonstrierte, war das Grundprinzip der Vergänglichkeit. Alles – auch du selbst – ist nur zeitweilig intakt. Wie alles im Universum bist auch du bereits »zerfallen«; oder anders ausgedrückt: Du bist eine vorübergehende Verbindung verschiedener Elemente. Das Los deines Körpers, deines Geistes und all der anderen Dinge in deinem Leben ist es, zu zerfallen oder zu zerbrechen. Diese Erkenntnis kann ein ganz schön harter Brocken sein, doch statt dich darüber aufzuregen, kannst du sie auch nutzen, um deinem Leben mehr inneren Frieden und Freude zu entlocken. Da fällt mir der verstorbene Unternehmer und ehemalige Apple-Chef Steve Jobs ein, der einmal sagte, die beste Möglichkeit, dem Irrglauben zu entgehen, man könne etwas zu verlieren haben, bestehe darin, dass man sich der eigenen Sterblichkeit erinnert.
Im Umgang mit Gedanken und Emotionen kann die Akzeptanz der Vergänglichkeit ein wunderbares Hilfsmittel sein. Sobald du dir nämlich, um ein Beispiel zu nennen, vor Augen führst, dass Zorn einen vorübergehenden Gemütszustand darstellt, musst du nicht länger aus der Haut fahren vor Ärger, sondern du kannst ihn an dir vorüberziehen lassen – ganz natürlich und aus sich selbst heraus. Zugegeben, sauer zu sein fühlt sich nicht gut an. Doch wenn du dir klarmachst, dass dieses Gefühl – wie alles andere auch – vorbeigeht, kannst du leichter darauf verzichten, die Person niederzumachen, die bei dir die falschen Knöpfe gedrückt hat. Sobald du ein Verständnis für die Vergänglichkeit entwickelt hast und dich nicht länger mit sorgenvollen Gedanken herumschlägst, brauchst du dich nicht mehr von ihnen einfangen und steuern zu lassen. Wenn dir aufgrund einer Erkrankung etwas wehtut, kannst du den Schmerz aus einer Position innerer Ruhe beobachten und akzeptieren – und zuschauen, wie er sich von einem Moment zum nächsten verändert. So verschaffst du dir den geistigen Freiraum, den du brauchst, um dich so weit von Schmerz und Leid zu befreien, dass du nicht mehr ihr Opfer bist.
Befreiende Wirkung hat das Wissen um die Vergänglichkeit auch in puncto Vergnügen. Sobald dir klar ist, dass Glück, schöne Gefühle und Emotionen auf veränderlichen Bedingungen beruhen,...