Henry
Ich bin sehr angespannt vor dieser Sitzung. Ich kenne Henry Vignaud seit Jahren, und eine echte Freundschaft verbindet uns. Ich bin ihm zum ersten Mal im November 2006 begegnet und habe ihn bereits damals getestet, mit einem Foto meines Bruders, der fünf Jahre zuvor in Afghanistan ums Leben gekommen war. Das Ergebnis dieser ersten Sitzung war beeindruckend.4 Er wusste nichts über mich, und an diesem Tag hat Henry ohne Zweifel mit meinem Bruder kommuniziert.
Und dennoch hatte ich haufenweise Zweifel. Hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit und Widerstand kam ich damals aus der kleinen Wohnung, in der er mich empfangen hatte. Ich war fassungslos, weil er mir eine unglaubliche Anzahl von sehr präzisen Details über meinen Bruder gegeben hatte, über sein Leben, seinen Charakter, die besonderen Umstände seines Todes und so weiter. Details, die er objektiv gesehen nur von einer einzigen Person erfahren konnte: von meinem Bruder selbst, der seit fünf Jahren tot war! Und ich fühlte einen Widerstand, weil mein Verstand das, was so eindeutig war – mein Bruder hat nach seinem Tod zu mir gesprochen –, noch nicht bereit war zu akzeptieren.
Dieser Widerstand ist hartnäckig und klammert sich am geringsten Zweifel fest, am geringsten Anlass, der sich ihm bietet. An diesem Tag im November 2006 störte mich zum Beispiel, dass Henry zu keinem Zeitpunkt erwähnt hat, dass mein Bruder Thomas hieß. Er hatte ganz genau beschrieben, wie er damals bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, seine Kopfverletzung, den Ort, an dem es passierte, aber er hatte seinen Namen nicht genannt. Das schien mir paradox. Henry behauptete, dass mein Bruder sich mit uns im Raum befand, wieso sagte er also nicht ganz einfach: »Ach, übrigens, sag ihm, dass ich Thomas heiße.«? Das schien mir unbegreiflich, unlogisch, und diese Kleinigkeit stellte die absolut unerklärliche Realität infrage: Henry hatte mir sehr viele andere richtige Informationen mitgeteilt.
Inzwischen habe ich den Grund für diesen scheinbaren Widerspruch erfahren. Und es liegt mir viel daran, dies mit den sechs Medien zu erforschen, die sich bereit erklärt haben, sich dem Experiment zu unterziehen, das ich ihnen vorgeschlagen habe. Sehr kurzgefasst, denn dieser Punkt ist entscheidend, und ich werde im Laufe des Buches immer wieder darauf zurückkommen: Der Teil des Gehirns des Mediums, der die Worte, Bilder und Informationen der Verstorbenen erfasst, ist nicht derselbe Teil des Gehirns, der diese Informationen für die lebende Person – den Klienten – verbalisiert. Die Forscherin Julie Beischel hat mir das bei einem Gespräch erklärt, das ich mit ihr in Tucson, Arizona, vor ein paar Jahren geführt habe: »Namen und Daten bereiten vielen Medien Probleme. Ich denke, dies ist darauf zurückzuführen, dass diese Informationen von der linken Gehirnhälfte abhängen. Ein Name ist ein Etikett, und Zahlen und Etiketten werden von der linken Gehirnhälfte verarbeitet. Wir glauben, dass Medialität ein Prozess ist, der sich hauptsächlich in der rechten Gehirnhälfte abspielt. Die Informationen, die normalerweise von der linken Gehirnhälfte gefiltert werden, sind also schwerer zu erfassen und zu interpretieren.«
Man kann eine Parallele zu den ersten Sekunden nach dem Erwachen ziehen. In diesem Augenblick kann es passieren, dass Sie noch Ihren letzten Traum im Sinn haben. Er ist noch da, Sie spüren ihn, seine Erinnerung sitzt noch in Ihnen fest, mit allem, was er in Ihnen heraufbeschworen hat. Aber dann machen Sie eine Bewegung im Bett, und noch bevor Sie überhaupt aufstehen, zerfällt der Traum. Wenn Sie versuchen, ihn aufzuschreiben oder ihn Ihrer Lebensgefährtin oder Ihrem Lebensgefährten zu erzählen, zerstören seltsamerweise die Worte, die Sie verwenden, einen Teil des Traums. Indem Sie ihn erzählen oder aufschreiben, reduzieren Sie ihn zu Wörtern. Er fügt sich neu zusammen. Er wird beinahe etwas anderes. Tatsächlich ist es so, dass Sie von der rechten Gehirnhälfte, die geträumt hat, zur linken Gehirnhälfte gewechselt sind, die nun versucht, den Traum zu beschreiben. Doch irgendetwas stimmt nicht. Und dennoch spüren Sie noch vage ein paar Teile des Traums: Da war noch mehr … ein Detail ist Ihnen entglitten … die Farbe war doch … wie soll ich es ausdrücken? Nein, trotz Ihrer Bemühungen schaffen Sie es nicht, die richtigen Worte zu finden. Haben Sie das schon einmal erlebt? Für ein Medium verläuft es ähnlich, wie wir erfahren werden: Es muss während einer Sitzung gleichzeitig im Traum verbleiben, diesem feinsinnigen Raum von sensitiven Wahrnehmungen, in dem er mit den Verstorbenen in Kontakt ist, und ihn Ihnen mit Worten mitteilen. Die Fähigkeit, dieses ständige Hin und Her zu meistern, ohne seine Wahrnehmungen zu beeinträchtigen, ist das Geheimnis eines guten Mediums.
Während ich durch Paris fahre, in das Viertel, in dem Henry wohnt, frage ich mich, ob unsere Freundschaft diese Sitzung beeinflussen wird. Wird das Vertrauen, das wir ineinander haben, dazu beitragen, dass er beim Test weniger Stress empfindet, oder ist die Herausforderung dadurch eher größer und bewirkt das Gegenteil? Stress ist ein wichtiger Faktor, wenn man sich mit seinen übersinnlichen Wahrnehmungen verbinden will – denn sie sind feinsinnig und hochsensibel. Diese medialen Wahrnehmungen, von denen man meinen könnte, sie seien der Intuition oder dem sechsten Sinn ähnlich, werden bei der geringsten Emotion beeinträchtigt. Und Stress, die Angst zu versagen, ist eine gewaltige Emotion. Keines der Medien, die an diesem Experiment beteiligt sind, wird davon verschont sein.
Obwohl wir uns schon lange kennen, hat Henry meinen Vater niemals getroffen, und falls er von seinem Tod gehört hat, der nun über ein Jahr her ist, so weiß er sonst nichts von ihm. Nichts über die Umstände seines Todes und natürlich nichts über mein heimliches Experiment in der Trauerhalle, in der der Sarg versiegelt wurde. Seltsamerweise wird Henry zu keinem Zeitpunkt erwähnen, dass es mein Vater ist, mit dem er Kontakt aufnehmen wird, und dennoch, Sie werden sehen, es ist wirklich er, der kommen wird …
Wie gewöhnlich bin ich viel zu früh weggefahren, aus Angst, keinen Parkplatz zu finden. Ich fahre ins 13. Arrondissement von Paris, nördlich der Place d’Italie. Und wie gewöhnlich finde ich gleich einen Parkplatz, einige Fußminuten von Henry entfernt. Ich bin ungeduldig. Während ich warte, bis es Zeit für unseren Termin ist, bleibe ich hinter dem Lenkrad sitzen und nutze die Gelegenheit, mich mit lauter Stimme an meinen Vater zu wenden und an alle anderen Verstorbenen meiner Familie, die mich in der anderen Welt hören könnten. Ich mache das nun schon seit einigen Tagen. Ich bitte sie um Hilfe. Hilfe für dieses Buch. Hilfe für Papa, damit er es schafft, Henry zu sagen, was ich in seinen Sarg gelegt habe. Während ich laut in meinem Auto rede, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass es für ein Medium quasi unmöglich ist, den Titel des Buches von Dino Buzzati, Die Tatarenwüste, zu verstehen, selbst wenn Papa ihm den Titel vermittelt, wenn ja schon ein einfacher Name so schwer zu erhalten ist. Wird denn eines der Medien es schaffen, diesen Roman zu nennen? Die anderen Gegenstände scheinen einfacher zu sein, aber dieses Buch? Ich bin noch weit davon entfernt, mir auszumalen, dass sich in etwas mehr als einer Stunde mitten in der Sitzung eine unglaubliche Synchronizität ereignen wird, wenn mein Vater die Lösung dieses Problems findet …
Ich trete in eine Wohnung mit zugezogenen Vorhängen. Henry ist wie immer freundlich und fröhlich. Er sieht gut aus. Ein Mann, der immer glücklich zu sein scheint, selbst wenn das Leben ihm manchmal zusetzt. Er bittet mich ins Wohnzimmer, in dem er seine Sitzungen abhält. Ein einfacher Raum, ein kleiner Tisch, der schräg im Eck steht, ein leichter Zigarettengeruch. Ich spüre sofort, dass auch er etwas angespannt ist. Er erzählt mir, dass er schon lange keine Sitzung mehr gemacht hat. Nach familiären Verpflichtungen und einer hartnäckigen Bronchitis wird er mit mir seine erste Sitzung seit einigen Wochen machen. Oje! Rostet ein Medium, wenn es nicht in Verwendung ist?
Es ist bereits recht dunkel, aber jetzt schließt er auch noch die Fensterläden, und es wird noch finsterer. Henry arbeitet gern im Dunklen. Zunächst gebe ich ihm keinen Hinweis und auch kein Foto, um zu sehen, wer sich spontan zeigt. Welche Verstorbenen möchten gerne etwas mitteilen?
Henry setzt sich an seinen kleinen Tisch, der überhäuft ist mit Papierkram, Heiligenbildern, einer kleinen Ikone, die Pater Pio darstellt und einem Aschenbecher. Er bedeckt sein Gesicht mit beiden Händen, um sich zu sammeln, geistig umzuschalten. Ich sitze ihm gegenüber, konzentriert, und warte. Die Minuten verstreichen in einer Stille, die manchmal von Hustenanfällen unterbrochen wird. Bronchitis und Zigaretten vertragen sich nicht besonders gut. Ich frage mich, wie er sich bei so einem Husten konzentrieren kann. Und dann beginnt es langsam.
»Zündest du oft Kerzen an?«, fragt er mich.
Komisch, dass er mir diese Frage stellt, denn gerade heute Früh, bevor ich hierhergekommen bin, habe ich eine angezündet – was ich sonst nie mache. Vor dem Kerzenlicht habe ich zu meinem Vater gesprochen. Für meine Frau Natacha allerdings ist es eine quasi alltägliche Geste, eine Kerze anzuzünden, um ihrer Angehörigen zu gedenken.
»Ich nicht, aber Natacha macht das oft.«
»Es gibt spirituellen Dank für die Kerzen, die regelmäßig für mehrere Verstorbene angezündet werden, ob von dir oder Natacha ist gleich.«
»Also ich habe heute eine angezündet, bevor ich hergekommen bin …«
»Es gibt Dank für dieses Licht … Das sehe ich jetzt schon länger, auch schon vorhin, bevor ich überhaupt...