[7]1 Der lautlose Tod
Soldaten der Roten Armee kämpfen im Stahlwerk »Roter Oktober« in Stalingrad, Oktober 1942.
Es ist Nacht in der zerstörten Halle des Stahlwerkes »Roter Oktober«. In einer Ecke glimmen die Reste von Balken, die sich bei den Angriffen deutscher Sturzkampfbomber am Vortag entzündet hatten. Brand- und Leichengeruch schwebt über den Trümmern. Tote Soldaten liegen in den Ruinen, gestorben im Hagel der Bomben oder gefallen beim folgenden Angriff deutscher Stoßtrupps. Die Schreie eines Verwundeten sind inzwischen verstummt. Ist er tot oder haben ihn Kameraden bergen können? Nun hocken deutsche Infanteristen den die Halle verteidigenden sowjetischen Soldaten im Dunkeln gegenüber. In ihre Deckungen gekauert, versuchen sie Ruhe und etwas Schlaf zu finden, bevor der Wahnsinn im Morgengrauen wieder losgeht. Ein Kampf um jeden Meter steht ihnen bevor. Überall lauert der Tod. Die Männer sind erschöpft, bangen um ihr Leben und haben Angst vor schweren Verletzungen. Alle hoffen auf Verstärkung. Werden ihnen die Kameraden beistehen können, werden sie gerettet werden? Wann endlich wird dieses Abschlachten ein Ende haben?
[8]Doch nicht alle ruhen. Nahezu lautlos arbeiten sich zwei dunkle Gestalten durch Stein- und Metalltrümmer voran, Zentimeter um Zentimeter, ihre Gewehre in Planen gehüllt. Ihre Gesichter sind rotbraun wie Rost oder Ziegelmehl und wirken entschlossen. Sowjetische Scharfschützen! Sie schieben sich in eine erhöhte, vorgelagerte Position. Lautlos bezieht der eine Stellung, bringt sein Gewehr in Anschlag. Unter der Plane lugt ein Zielfernrohr hervor, doch es ist noch nicht an der Zeit, dieses zu enthüllen. Die Jagd beginnt erst, wenn es wieder hell wird. Vorsichtig tarnt sich der Soldat mit Trümmern, einer Decke, mit Staub und Schmutz. Der andere beobachtet, wie sein Kamerad mit der Umgebung verschmilzt, bis er nicht mehr erkennbar ist. Zuletzt weist die Hand mit dem Handschuh auf eine Stelle, an der der Zweite nun in Stellung geht. Auch er ist bald unsichtbar geworden. Beide werden einander Deckung geben oder bei Bedarf gezielt die Aufmerksamkeit der Gegner wechselseitig auf sich ziehen. Sie haben das oft geübt, bei der Scharfschützenausbildung im Werk »Lasur« und später in den umkämpften Fabriken. Jeder Fehler kann den Tod bedeuten.
Das könnte eine Szene aus einem der vielen sowjetischen Spielfilme über die Schlacht um Stalingrad aus der Nachkriegszeit sein. Sie könnte aber ebenso gut aus der zeitgenössischen sowjetischen Frontpropaganda stammen. Die Konstruktion von Heldenfiguren war eine wesentliche Aufgabe der sowjetischen Propaganda, die Soldaten und Bevölkerung im Kampf gegen die deutschen Eroberer zu motivieren hatte. Ihre Popularisierung nach dem Krieg bildete einen wichtigen Beitrag zur Prägung des Mythos von der »unbesiegbaren« Sowjetarmee. Tatsächlich aber sind solche Szenen in den Häuserkämpfen der Schlacht hundertfach vorgekommen und haben den Charakter dieser Kämpfe wesentlich mitbestimmt. Doch folgen wir dem Geschehen zunächst weiter:
Als der Morgen dämmert, wird es lebendiger in den Hallen. Vereinzelt huschen Schatten umher. Es sind Melder, die Befehle für den kommenden Tag übermitteln, und Soldaten, die Verpflegung und Wasser in die vordersten Reihen bringen. Die dort Eingesetzten müssen nach der strapaziösen Nacht wieder zu Kräften kommen, um die Hallen endgültig zu erstürmen oder aber das eroberte Terrain mindestens in der Hand zu behalten. In der Morgendämmerung rückt Ersatz heran, frische Stoßtrupps, die dem Angriff neue Kraft geben, bzw. Verteidiger, die standhalten oder den Kampf wenden sollen. Zu dem Brand- und Lei[9]chengeruch gesellt sich trotz der Kälte Schweiß – Schweiß der Anstrengung beim Vorwärtsrobben, Schweiß der Angst vor dem Kommenden. Kaum merklich setzen sich auch die Scharfschützen in Bewegung. Vorsichtig werden die Gewehrmündungen freigelegt, das Zielfernrohr entblößt. Die Optik tastet nun die gegenüberliegenden Trümmer ab. Die Schützen sind bemüht, keinen Lichtschein auf das Objektiv fallen zu lassen, damit nicht Spiegelungen ihren Standort verraten. Die Meister der Tarnung und des Anschleichens haben ihr Handwerk gelernt und spähen nach einem lohnenden Ziel. Offiziere, Artilleriebeobachter und Melder werden bevorzugt beschossen, ebenso Proviantgänger, denn ohne Verpflegung sinkt die Moral der Kämpfenden.
Ein deutscher Soldat arbeitet sich kriechend voran, hinter sich mehrere Kochgeschirre ziehend und doch bemüht, kein Geräusch zu machen. Sein Gesicht ist rot vor Anspannung, aber auch vor Angst. Der Soldat sieht schmutzig und alt aus, dabei hat er das zwanzigste Lebensjahr noch nicht überschritten. Sein älterer Kamerad ist deutlich hinter ihm zurückgeblieben. Ist das Absicht, Erfahrung oder Instinkt? Noch hat er die eigene vordere Linie nicht erreicht, auch wenn die Kameraden in ihrer Deckung bereits zu erkennen sind. Der Junge weiß, dass unbedachte Bewegungen tödlich enden. Die Furcht vor sowjetischen Scharfschützen ist in den deutschen Reihen allgegenwärtig. Zu oft haben sie zugeschlagen und Schrecken verbreitet. Doch der Tod ist meist lautlos und schnell, präzise wie ein Chirurg. Das ist vielleicht besser, als von Granaten zerfetzt oder von Maschinengewehren zerschossen zu werden. Aber wer will denn wirklich sterben? Alle hoffen und beten zu Gott, er möge sie in dieser Hölle verschonen, auch wenn mancher bereits seinen Glauben verloren hat.
Der Scharfschütze hat den kriechenden Soldaten bemerkt. Er wägt ab, ob das Ziel lohnend und ein sicherer Treffer möglich ist. Es gilt, das eigene Versteck nur preiszugeben, wenn die Jagd Erfolg verspricht. Sein Adrenalinspiegel steigt, der angepeilte Deutsche erscheint im Fadenkreuz, hebt nur leicht den Kopf, der Finger am Abzug krümmt sich. Mit Gewichten haben sie in der Ausbildung das Abdrücken ohne Verreißen der Waffe geübt. Gehör und Blick schärfen sich, der Schütze ist voll auf seinen Gegner als namenloses Ziel fixiert, moralische Zweifel gelten nicht. Töten ist sein Handwerk. Mit einem trockenen Klacken, der Mündungsfeuerdämpfer verschluckt den Knall, verlässt das Projektil den [10]Lauf und bohrt sich in die Stirn des Proviantgängers, der zusammensackt. Der Stadtkampf hat ein weiteres Opfer gefordert. Lautlos rollt sich der Schütze aus seiner Deckung und verschwindet hinter den Trümmern, ehe noch ein gegnerisches Maschinengewehr (MG) oder eine Granate sein Versteck erreichen kann. Der zweite Schütze bleibt regungslos liegen und wartet ab, manchmal Stunden oder Tage, ohne sich zu bewegen. Scharfschützen sind Einzelkämpfer, sie führen ihren eigenen Krieg – die Jagd in den Trümmerbergen von Stalingrad.
Wassilij Saizew bei der Ausbildung von Scharfschützen 1942
Die Wirkung von sowjetischen Scharfschützen wie Wassilij Saizew oder Nikolai Ilin war immens, auch wenn nur ein geringer Teil der deutschen Soldaten, die in den Kämpfen um Stalingrad starben, von ihrer Hand fiel. Ihre Zunft, der auch Frauen wie Ljudmila Pawlitschenko oder Tanja Tschekowa angehörten, erzeugte große Furcht bei den deutschen Infanteristen. Ilin brachte es laut offizieller Bestätigung auf 185 erschossene deutsche Soldaten und gehörte damit zum Kreis der »Edelschützen« mit mehr als 40 tödlichen Treffern. Saizew war einer der Ersten, [11]die durch die sowjetische Militärpropaganda, wie in der Armeezeitung Zur Verteidigung unseres Landes, zum Helden stilisiert wurden. Wegen seines Erfolges erhielt er den Auftrag, in den Ruinen der chemischen Fabrik »Lasur« eine Scharfschützenschule aufzubauen. Bald berichtete die Zeitung täglich über die besten Schützen und zählte deren Treffer. So machte man die Einzelkämpfer in der Roten Armee und der Bevölkerung bekannt, ihre Taten wurden bereits im Krieg zum Mythos.
Der umstrittene Kinofilm Enemy at the Gates von Regisseur Jean-Jacques Annaud aus dem Jahr 2001, der das deutsch-russische Duell zweier Scharfschützen in den Ruinen von Stalingrad thematisierte, setzte Saizew ein weiteres Denkmal. Der Film erzählt wie das zugrundeliegende Buch von David L. Robbins War of the Rats (1999) aus sowjetischer Perspektive und reduziert, so die Kritik, das Grauen und massenhafte Sterben dieser Schlacht auf ein Duell zweier Spezialisten. Saizews Duell mit einem deutschen Major König ist allerdings historisch nicht belegt. Die Geschichte entstammt wohl eher der sowjetischen Propaganda und sollte den Heldenmut der sowjetischen Soldaten befördern. In der Russischen Föderation stieß besonders die Einstiegsszene, die ein ›Verheizen‹ der sowjetischen Soldaten im Kampf um die Stadt zeigt, auf heftige Kritik.
Plakat des Films Enemy at the Gates mit Jude Law und Joseph Fiennes aus dem Jahr 2001
Die Schlacht von Stalingrad war eine der grausamsten und blutigsten des Zweiten Weltkriegs. In der russischen Erinnerung lebt sie als heroischer Sieg über das »faschistische« Deutschland und als Wende im Zweiten Weltkrieg fort. Aber war dem wirklich so? War Stalingrad die Wende im Deutsch-Sowjetischen Krieg, hätte...