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E-Book

Sich selbst vertrauen

Kleine Philosophie der Zuversicht

AutorCharles Pépin
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783446263031
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Im Meinungsgewitter auf die eigene Stimme hören. Eine klare Richtung einschlagen, wenn sich grenzenlose Möglichkeiten auftun. Entscheidungen treffen trotz Zweifeln. All das erfordert eine wesentliche Fähigkeit: sich selbst vertrauen zu können. Doch was bedeutet es, sich selbst zu vertrauen? Warum fällt es manchen Menschen leichter als anderen? Worin liegt der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstsicherheit? Charles Pépin findet die Antworten auf diese Fragen in Philosophie, Literatur und Kunst, Psychologie und Pädagogik. Leicht und lebendig zeigt er, wie jeder von uns dem Ungewissen mit mehr Zuversicht entgegentreten kann. Ein stärkendes Buch für unsichere Zeiten.

Charles Pépin, geboren 1973, ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Bei Hanser erschienen zuletzt Die Schönheit des Scheiterns (2017), Sich selbst vertrauen (2019) und Kleine Philosophie der Begegnung (2022). Charles Pépin lebt in Paris.

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Leseprobe

1

Pflege gute Beziehungen


Zwischenmenschliches Vertrauen


Die Güte ist unbesiegbar.

Mark Aurel

Selbstvertrauen kommt zuerst von den anderen. Diese Aussage erscheint paradox, ist es aber nicht. Ein Neugeborenes ist ein fragiles, vollkommen abhängiges Wesen. In den ersten Monaten kann es unmöglich allein überleben. Dass es überlebt, ist für sich genommen schon der Beweis dafür, dass andere Menschen sich seiner angenommen haben. Mithin ist Vertrauen in sich selbst zuerst ein Vertrauen in sie: Selbstvertrauen ist zuerst Vertrauen in die anderen.

Weil wir zu früh geboren werden, sind wir auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Embryologen zufolge bräuchten die Zellen eines Embryos insgesamt etwa zwanzig Monate Zeit, um zur vollen Reife zu gelangen. Schon Aristoteles hat festgestellt, dass wir unfertig auf die Welt kommen. Als hätte die Natur an dieser Stelle einen Defekt und ihr Werk nicht vollendet, wirft sie uns, schwächer und hilfloser als jedes andere Säugetier, zu früh ins Leben. Wir kommen auf die Welt, ohne laufen zu können, und brauchen ungefähr ein Jahr, um es zu erlernen, während ein Fohlen schon nach wenigen Stunden, manchmal sogar wenigen Minuten auf die Beine kommt und herumtrabt. Und wir sollen uns selbst vertrauen?

Also kompensieren wir dieses Manko der Natur durch Kultur: Familie, gegenseitige Hilfe, Bildung. Dank unserer zwischenmenschlichen Beziehungsfähigkeit vollenden wir das, was die Natur uns in der Rohfassung geliefert hat, und gewinnen eben jenes Vertrauen, das die Natur uns nicht mitgegeben hat.

Nach und nach fasst ein Kind Vertrauen zu sich selbst dank der Beziehungen, die es zu anderen Menschen aufbaut, dank der Fürsorge, die sie ihm angedeihen lassen, der Aufmerksamkeit, die es erfährt, und der bedingungslosen Liebe, die ihm geschenkt wird. Das Kind spürt, dass diese Liebe durch nichts bedingt ist, weder durch das, was es in Angriff nimmt, noch durch das, was ihm gelingt: Es wird geliebt für das, was es ist, und nicht für das, was es tut. Das ist das solideste Fundament für sein späteres Selbstvertrauen. Geliebt und mit liebenden Augen angeschaut worden zu sein, schenkt uns Kraft fürs Leben.

Das Erringen von Selbstvertrauen beginnt also mit dem Kampf gegen die »infantile Hilflosigkeit«, wie Sigmund Freud es nannte. Wenn ein Jugendlicher den Drang verspürt, die große, weite Welt zu entdecken, wenn ein Erwachsener zuversichtlich seine Projekte in die Tat umsetzt, dann geschieht das in erster Linie deshalb, weil sie das Glück hatten, in den allerersten Lebensjahren bei den »frühen Interaktionen«, wie der Psychiater und Resilienzforscher Boris Cyrulnik sie nennt, jene »Selbstsicherheit« zu gewinnen, die, wie Psychologen nachgewiesen haben, von grundlegender Bedeutung ist.

Im Unterschied zur Selbstachtung, der eine Beurteilung des eigenen Wertes zugrunde liegt, hat Selbstvertrauen mit unserem Verhältnis zum Handeln zu tun, mit unserer Fähigkeit, uns trotz aller Zweifel aufzumachen, uns in die komplexe Welt hinauszuwagen. Um den Mut aufzubringen, uns in die Welt da draußen zu begeben, brauchen wir Selbstsicherheit.

In seinem bahnbrechenden Text über das sogenannte Spiegelstadium beschreibt der Psychoanalytiker Jacques Lacan die ersten Momente der Entstehung des Selbstbewusstseins im Kind. Schon nach wenigen Monaten — in der Regel ab dem sechsten bis zum achtzehnten Monat — erkennt sich ein Kind im Spiegel. Aber was passiert da beim ersten Mal eigentlich? Das Kind ist auf dem Arm eines Erwachsenen, der es vor einen Spiegel hält. Kaum, dass es sich darin wiederzuerkennen glaubt, dreht es sich zu dem Erwachsenen um mit der Frage im Blick: Bin ich das — bin ich das wirklich? Der Erwachsene antwortet mit einem Lächeln, einem Blick oder ein paar Worten. Er gibt ihm die Rückversicherung: Ja, du bist es wirklich. Die philosophischen Implikationen dieses ersten Mals sind enorm: Zwischen mir und meinem Selbst ist der andere — von Anfang an. Nur durch den anderen bin ich mir meiner selbst bewusst. Das Kind vertraut dem, was es im Spiegel zu sehen bekommt, nur deswegen, weil es dem anderen vertraut. In den Augen der anderen sucht es Selbstsicherheit; in den Augen der anderen sucht es sich selbst.

Der gleiche Versuch wurde mit Makaken durchgeführt, einer Affenart, die uns genetisch sehr nahesteht. Dabei wurde ihre Intelligenz deutlich: Sie benutzen den Spiegel sehr schnell, um Körperpartien zu betrachten, die sie sonst nicht sehen können, etwa ihren Rücken oder ihr Gesäß. Allerdings drehen sie sich dabei nicht nach den anderen Makaken im Raum um: Sie richten keinen fragenden Blick an ihre Artgenossen. Makaken sind soziale Wesen, lernen viel von den anderen, aber anders als wir sind sie für ihre Weiterentwicklung nicht von den untereinander aufgebauten Beziehungen abhängig. Sie sind viel weniger Beziehungswesen, als wir es sind. Wir können ohne die anderen unser Menschsein nicht weiterentwickeln: Ohne die anderen können wir nicht zu dem Menschen werden, der wir sind.

Man denke an die wilden Kinder, die nach der Geburt ausgesetzt und von Tieren (Bären, Wölfen, Schweinen usw.) »adoptiert« und aufgezogen wurden, wenn sie viele Jahre später gefunden werden. Wie der Film Der Wolfsjunge von François Truffaut (1970) zeigt, sind sie in Ermangelung von Beziehungen zu anderen Menschen in ihrer Entwicklung stehen geblieben. Zu Tode verängstigt wie gehetztes Wild, unfähig, sprechen zu lernen, scheinen sie verloren zu sein. Im besten Fall, mit viel Geduld und Behutsamkeit, schaffen es die Spezialisten, denen diese Kinder anvertraut werden, vorsichtig Bindungen aufzubauen und sie zu kleinen Fortschritten zu bewegen. Das bisschen Selbstvertrauen, das sie gewinnen, ist allerdings brüchig und schwindet bei der kleinsten Irritation dahin. In den Worten der modernen Psychologie leiden diese »Wolfskinder« an einem »Bindungsmangel«. Als sie klein waren, wurden sie nicht an andere Menschen »gebunden«, die sie beschützt, ihnen Sicherheit gegeben, mit ihnen gesprochen und sie angeschaut haben. Ohne die Selbstsicherheit, die diese Bindung gibt, ist es ihnen nicht möglich, jenes Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen, dank dessen die Welt und die Mitmenschen nicht feindselig erscheinen.

Psychiater wie John Bowlby oder Boris Cyrulnik betonen: Wenn ein kleiner Junge von zwei Jahren imstande ist, einen Unbekannten, der ins Haus kommt, zu begrüßen, ihn anzulächeln, zu ihm zu gehen, um ihn anzusprechen oder ihn gar zu berühren, geschieht das, weil er genug Selbstsicherheit besitzt, um dem Neuen zu begegnen. Seine Bindungspersonen haben ihm ausreichend Vertrauen vermittelt, dass er in der Lage ist, sich von ihnen zu entfernen und auf den Unbekannten zuzugehen.

Erziehung ist erst gelungen, wenn »Schüler« ihre Lehrer nicht mehr brauchen, wenn sie genug Selbstvertrauen haben, um den Moment auszuhalten, in dem sich ihre Erzieher zurückziehen. Wenn der kleine Junge die wenigen Schritte auf den Unbekannten zugeht, macht er sich bereits auf den eigenen Weg. Die anderen haben ihm Vertrauen geschenkt, nun liegt es an ihm, zur Tat zu schreiten und sich dessen würdig zu erweisen. Um sich aufzumachen, schöpft er aus der Liebe, aus der Zuwendung, die er von seiner Familie und von all denen bekommt, die ihn erziehen.

Die ersten Jahre sind also entscheidend, aber glücklicherweise können wir in jedem Alter Bindungen aufbauen, die uns Vertrauen geben. Auch wenn wir als Kind nicht das Glück hatten, von unserem affektiven Umfeld ein ausreichend starkes Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu bekommen, ist es nie zu spät, um Bindungen aufzubauen, die uns gefehlt haben. Das setzt allerdings voraus, dass wir uns selbst gut kennen und uns über dieses Manko und über die Notwendigkeit, es zu kompensieren, im Klaren sind.

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