1.1.1 | Realität 1: Fachkräftemangel nimmt zu |
Mitarbeiter, die jetzt Anfang 50 oder älter sind, sind als Generation Babyboomer (Geburtsjahr 1955 bis 1968) noch in eine Arbeitswelt hineingewachsen, deren maßgebliches Ziel es war, Arbeitsplatzsicherheit zu finden. Persönliche Entwicklungschancen wurden diesem Ziel eher untergeordnet. Die neuen Generationen suchen oft das Gegenteil: Während die Generation X (Geburtsjahr 1969 bis 1979) bereits auf eine ausgeprägte Work-Life-Balance achtet, ohne die finanzielle Sicherheit zu verlieren, will die Generation Y (Geburtsjahr 1980 bis 1994) den Sinn der Arbeitstätigkeit verstehen und bevorzugt flache Hierarchien, Teamwork und Vernetzung. Über die Generation Z (Geburtsjahr ab 1995), die gerade erst das Arbeitsleben beginnt, wissen wir noch zu wenig, wie sie sich verhalten wird (vgl. Mihovilovic, Knebel 2017).
Auch wenn das Konzept der Kategorisierung in die benannten Generationen gerne kritisiert wird, werden Unternehmen in den nächsten Jahren die Auswirkungen des demografischen Wandels spüren: Während die geburtenstarken Babyboomer ausscheiden, profitiert vor allem die Generation Y von dem dadurch entstehenden Vakuum an fehlenden Fachkräften. Sie können sich ihren Arbeitgeber nach ihren Präferenzen aussuchen.
Arbeitnehmer der Generation Y wollen ein anderes Arbeitsleben: Sie wollen die Sinnhaftigkeit in ihrer Arbeit sehen, anstatt losgelöste Arbeitspakete zu bearbeiten. Sie wollen in einem Team oder Netzwerk mit flacher Hierarchie arbeiten, statt Befehlsempfänger in einer hierarchischen Kette zu sein.
Arbeitgeber müssen sich attraktiv für die Generation Y aufstellen, um nicht in naher Zukunft in die Lage zu geraten, keine passenden Fachkräfte zu bekommen. Oder andersherum: Die heranwachsende Generation an Fachkräften wird sich nicht bei Unternehmen bewerben, die noch in alten Denkmustern agieren. Diese Generation wird sich die Unternehmen aussuchen, die das für sie vielversprechendste Arbeitsleben ermöglichen.
1.1.2 | Realität 2: Keine kundenzentrierten Produkte und zu lange Entwicklungsdauer |
Strategie- oder Roadmap-Meetings sind in Organisationen weitverbreitet: Auf einem Zeitstrahl ordnen Führungskräfte die gewünschte Fertigstellung verschiedener Projekte oder Produktentwicklungen an, die dann nach Diskussion feierlich beschlossen werden. Der Zweijahresplan steht, und alle haben ein „gutes Gefühl“. Der eigentliche Fehler passiert bereits hier: Es werden die vermeintlich richtigen Lösungen beschlossen, ohne zu wissen, ob diese wirklich vom Nutzer benötigt oder angenommen werden.
Dieses Vorgehen ist nicht mehr Erfolg versprechend. Denn wir leben zunehmend in einer VUCA-Welt, die durch Volatility (Unberechenbarkeit), Uncertainty (Ungewissheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Ambivalenz) geprägt ist.1 Dahinter steckt, dass unsere Welt durch die Globalisierung und den Einfluss der unterschiedlichsten Faktoren immer weniger vorhersehbar geworden ist (Hofert 2018).
Das Stacey Landscape Diagram (Stacey 1996) verdeutlicht diese Situation: Das Diagramm zeigt auf der x-Achse die Sicherheit der Technologie und auf der y-Achse die Klarheit der Anforderungen (vgl. Bild 1.1). Sichere Technologie bedeutet, dass diese von den Umsetzern verstanden und beherrscht wird. Im Gegensatz dazu steht zu wenig oder keine Erfahrung der Umsetzer mit der Technologie, die sich scheinbar jeden Tag anders verhält oder nicht mit der Dokumentation übereinstimmt. Klare Anforderungen können vorab detailliert aufgeschrieben und dann ohne Überraschungen in das System integriert werden, und die beschriebenen Funktionen sind genau so, wie vom Nutzer benötigt. Im Gegensatz dazu können unklare Anforderungen nicht detailliert aufgeschrieben werden oder es stellt sich bei der Fertigstellung heraus, dass eigentlich etwas anderes benötigt wurde.
Bild 1.1 Stacey Landscape Diagram (Stacey 1996)
Stacey unterscheidet vier Bereiche in seinem Diagramm: einfach (klare Anforderungen und beherrschte Technologie), kompliziert (unsichere Technologie oder unklare Anforderungen), komplex (noch unsicherere Technologie oder noch unklarere Anforderungen) und chaotisch. In dem einfachen Bereich greifen Best Practices: Wir müssen kaum nachdenken und können „einfach machen“. In dem komplizierten Bereich können wir analysieren und entsprechend einen Plan erstellen, den wir anschließend ausführen. Im komplexen Bereich müssen wir anders agieren, denn wir können den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang erst im Nachhinein sicher analysieren (retrospektive Kohärenz). Und sind wir im chaotischen Bereich, lassen sich Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge selbst hinterher nicht analysieren (Roock, Wolf 2016).
Vor ein paar Jahrzehnten befanden wir uns vornehmlich in einem komplizierten Bereich, während wir in der aktuellen VUCA-Welt uns fast ausschließlich im komplexen Bereich aufhalten. Wir wissen im Vorfeld nicht, was der Kunde wirklich will oder benötigt (unklare Anforderungen), und oft wissen wir nicht, mit welcher Technologie wir das umsetzen wollen oder in unserer technologischen Umgebung ermöglichen können (unsichere Technologie). Wir müssen also einen Umgang mit der existierenden Ungewissheit finden, da die traditionelle und von vielen Unternehmen gelernte Vorgehensweise nicht mehr funktioniert.
Unternehmen sehen sich mit einer immer größer werdenden Schere konfrontiert: Der Markt und der Endnutzer erwarten schnelles und regelmäßiges Liefern des Produkts und werden ungeduldig, wenn das nicht passiert. Das Realisierungsteam in der Produktentwicklung hat (noch) nicht die Fähigkeit, schnell zu entwickeln oder auszuliefern.
1.1.3 | Realität 3: Mangelnde Innovationskraft und Bedrohung durch disruptive Technologien |
Während es früher kein Problem war, sich längere Analysephasen zu nehmen und entsprechend längere Entwicklungsphasen zu haben, besteht heute immer öfter die Gefahr, dass die Konkurrenz schneller entwickelt und eine Innovation früher auf den Markt bekommt. Eine weitere Gefahr birgt die...