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E-Book

Wenn der Mensch, den du liebst, depressiv ist

Wie man Angehörigen oder Freunden hilft

AutorLaura Epstein Rosen, Xavier F. Amador
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644405363
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als Psychotherapeuten und Lehrende in der Psychotherapieausbildung haben die beiden Autoren immer wieder beobachtet, wie stark sich eine Depression auf diejenigen Menschen auswirkt, die einer depressiven Person nahestehen. Meist machen sich diese Freunde oder Angehörigen Sorgen und haben Fragen, die die Symptome oder die Behandlung der Depression betreffen. Oft genug wollen sie aber auch wissen, wie sie selbst damit umgehen und die Belastung der Beziehung bewältigen können. In diesem Buch stellen Rosen und Amador dazu Strategien vor, zeigen Handlungsoptionen und machen Mut, sich die Hilfe zu holen, die gebraucht wird - nicht nur für den depressiven Menschen, sondern auch für sich selbst.

Dr. Laura Epstein Rosen ist Familientherapeutin und klinische Psychologin. Sie hat sich auf die Behandlung von Depressionen und Beziehungsproblemen spezialisiert.

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Leseprobe

Sammeln Sie soviel Wissen, wie Sie können


Kehren wir kurz zu den Beispielen zurück, die wir eingangs anführten. Im zweiten Kapitel finden Sie detaillierte Informationen, die Ihnen helfen werden, die vielfältigen Symptome und Erscheinungsformen der Depression zu identifizieren. Abgesehen davon gibt es aber eine andere wichtige Quelle des Wissens über Depressionen, an die Sie vielleicht noch nicht gedacht haben, nämlich Ihre eigenen Gefühle und Reaktionen auf den Konflikt in der Beziehung. Wir betrachten sie als frühe Warnzeichen oder Alarmsignale, die Sie nutzen können, um herauszufinden, ob die Schwierigkeiten in der Beziehung auf eine Depression zurückzuführen sind.

Wenn ein Mensch, an dem Sie interessiert sind, depressiv ist, werden Sie an sich selbst ein weites Spektrum an Emotionen und Reaktionen erfahren, von Wut bis Kummer, von Rückzug bis zu bissigen Bemerkungen wie «Nun nimm dich doch nicht so furchtbar wichtig!». Sie sind nicht der einzige Mensch, der dem geliebten anderen gegenüber solche Gedanken und Gefühle hat. Jeder, der sich um einen depressiven Menschen sorgt, macht einige oder alle dieser Empfindungen und Reaktionen durch. Sie sind absolut normal, und man sollte mit ihnen rechnen. Sie fragen sich vielleicht, was wir damit sagen wollen. Ist es für Gail nun normal, daß sie auf ihre alte Mutter, die depressiv ist und sterben will, wütend ist? Schlagen wir etwa vor, daß Gail ihrer Mutter sagen sollte, daß sie wütend ist oder daß sie aufhören sollte, sie zu besuchen? Wenn Gails Situation anders wäre, würden wir nicht im Traum daran denken, ihr ein so unsensibles Verhalten nahezulegen. Wenn nicht mehr, so fordert doch allein unser Gefühl für gute Manieren von uns, die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und mitfühlend und hilfsbereit zu sein, wenn jemand auf dem Tiefpunkt ist. Wäre Gails Mutter nur einige Tage oder eine Woche lang niedergedrückt gewesen, hätte die Situation eine solche krasse Direktheit in der Tat nicht gerechtfertigt. Aber die alte Dame war schon einen Monat lang in diesem Zustand, und es war kein Ende ihres Leidens in Sicht. Lang anhaltende Verstimmungen sind ein typisches Kennzeichen der Depression; Gail und ihre Mutter waren also nicht einfach mit den normalen Stimmungsschwankungen konfrontiert, denen die meisten Menschen in ihrem Alltagsleben begegnen. Normalerweise fühlte Gail sich durch ihre Mutter überhaupt nicht belastet; sie hatten ein gutes Verhältnis, und Gail war gern mit ihrer Mutter zusammen. Die Tatsache, daß sie sich nun überfordert fühlte und Groll empfand, war eine wichtige Information, aber Gail ignorierte das Signal. Weil sie ihren Gefühlen nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte, dauerte es lange, bis Gail erkannte, daß etwas Ungewöhnliches vor sich ging, und bis sie dazu kam, für ihre Mutter und für sich selbst Hilfe zu besorgen.

Reaktionen, auf die Sie achten sollten


Die üblichen, allgemein verbreiteten Reaktionen auf die Depression eines geliebten Menschen können sich über eine weite Skala erstrecken; an einem Pol liegt das Extrem des Überfunktionierens und Zu-Hilfe-Eilens, am anderen Pol das Extrem der Vermeidung und des Rückzugs von der depressiven Person. Gails erste Reaktion war, überzukompensieren und dauernd mit dem Auto hin- und herzufahren, um bei ihrer Mutter zu sein und sie durch ihre Gesellschaft aufzuheitern. Jane übernahm Aufgaben, die normalerweise zu den Pflichten ihres Mannes gehörten, weil er offenbar nicht in der Lage war, sie zu erfüllen. Peter wollte seine Frau nicht noch mehr belasten, also zog er sich zurück und vermied es, ernsthaft mit ihr zu reden oder sexuell die Initiative zu ergreifen. Über diese Beispiele hinaus gibt es tausende anderer verbreiteter Reaktionen. Eine häufige, natürliche Reaktion ist der Versuch, die depressive Person aufzumuntern, indem man vorschlägt oder darauf insistiert, sie solle aktiver sein. Ein Mann traf so viele Verabredungen für sich und seine depressive Frau, daß sie kaum noch Zeit hatten, miteinander allein zu sein oder sich einfach zu entspannen. Er gab zu, daß er auf diese Weise versuchte, sie «auf Trab zu halten». Er glaubte, wenn sie zu Hause bliebe, würde sie sich nur «in ihrer Traurigkeit suhlen» und sich nie besser fühlen. Eine weitere typische Reaktion, die auf den ersten Blick keinen Sinn zu ergeben scheint, ist, mit der depressiven Person Streit anzufangen. Wenn wir uns über den Rückzug und das Desinteresse unseres depressiven Partners ärgern, werden einige unter uns einen Streit vom Zaun brechen, einfach um ihn oder sie aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Obwohl diese Reaktionen sehr unterschiedlich sind, haben sie doch alle einen gemeinsamen Nenner: Sie sind Versuche – wenn zum Teil auch sehr ineffektive –, der depressiven Person dazu zu verhelfen, daß sie sich besser fühlt.

Gefühle, auf die Sie hören sollten


Die Gefühle, die als die eigentlichen Auslöser hinter unseren Reaktionen auf einen depressiven Menschen stehen, reichen ebenfalls von einem Extrem bis zum anderen. Wenn jemand depressiv wird, sind Sie anfangs vielleicht verwirrt und verunsichert über die Veränderungen. Wenn die Depression sich fortsetzt, vermissen Sie die frühere Lebendigkeit und Aufgeschlossenheit des anderen und werden traurig; Sie fühlen sich einsam und der anderen Person entfremdet. Wahrscheinlich leiden Sie unter dem Gefühl der Hilflosigkeit, weil es Ihnen offenbar nicht gelingt, ihr oder ihm aus der Talsohle herauszuhelfen. Mit dieser Hilflosigkeit geht vielleicht Frustration oder Wut auf den anderen einher, der scheinbar nicht fähig ist, sich «zusammenzunehmen», und gleichzeitig haben Sie Schuldgefühle, weil Sie so denken und empfinden. Viele Angehörige depressiver Patienten berichten uns, daß sie ein ganzes Spektrum solcher Gefühle erfahren, die sich von einem Augenblick auf den anderen verändern können. In unseren Beispielen sahen Sie, daß Jane Ärger und Groll empfand, Peter traurig war, und Gail sich sorgte und unter Schuldgefühlen litt. Vielleicht beobachten Sie an sich selbst, daß Ihre Gefühle manchmal sehr schnell wechseln; in diesem Augenblick tut Ihnen der andere noch leid, weil er so traurig ist, im nächsten Moment sind Sie wütend, weil er oder sie sich weigert, an einem gesellschaftlichen Ereignis oder einer Aktivität, auf die Sie sich gefreut haben, teilzunehmen.

 

Die Gefühle und Reaktionen, die wir hier beschreiben, können frühe Warnsignale dafür sein, daß ein Partner in einer Beziehung depressiv ist. Gail zum Beispiel machte sich Sorgen, und ihre Sorge trieb sie dazu, jeden Nachmittag zu ihrer Mutter hinauszufahren, um ein Auge auf sie zu haben. Gail kam zu dem vorschnellen Schluß, daß ihre Mutter einfach einsam war und daß sie ihr am besten helfen könnte, wenn sie ihr Gesellschaft leistete. Peters Frustration und Sorge waren dafür verantwortlich, daß er es vermied, mit seiner Frau ins Gespräch zu kommen; er nahm irrtümlich an, daß es am besten sei, sie in Ruhe zu lassen. Wenn Gail gleich zu Anfang mit ihrer Mutter über ihre Gefühle gesprochen hätte, oder Peter mit seiner Frau, hätten sie einen konstruktiven Dialog beginnen und schließlich erkennen können, daß Depression die Ursache der Schwierigkeiten in ihren Beziehungen war. So hätten sie das Wissen erlangt, das notwendig ist, um der anderen Person in ihren Bedürfnissen entgegenzukommen und ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Aber indem sie vorschnelle Schlüsse zogen und auf die Situation reagierten, ohne sich mit der anderen Person in der Beziehung zu beraten, erkannten Gail und Peter die Depression ihres geliebten Menschen erst sehr spät und verzögerten dadurch ihren Eintritt in das Stadium der konstruktiven Problemlösung. Sie blieben in den Stadien der Reaktion und der Informationssuche stecken, weil sie annahmen, daß sie wüßten, wo das Problem lag und wie sie am besten damit umgehen könnten.

Als Gail schließlich einen konstruktiven Weg fand, mit ihrer Mutter über ihren Ärger und ihre Sorge zu sprechen, sagte die alte Dame, sie verstehe, wie stark die Belastung sei, und Gail brauche sich nicht mehr die Mühe zu machen, zu ihr zu kommen. Gail merkte, daß sich hier etwas ganz und gar Außergewöhnliches abspielte – ihre Mutter hatte ihr nie gesagt, daß sie nicht kommen solle –, und sie fragte nach, was die alte Dame mit dieser Äußerung eigentlich meinte. Die beiden lachten sogar, als sie weiter über das Thema sprachen, denn diese Gefühle und dieser Kommentar waren für Gails Mutter völlig untypisch. Nach diesem Gespräch wurde Gail bewußt, wie sehr das, was mit ihrer Mutter geschah, aus dem gewohnten Rahmen fiel, und nun bemühte sie sich darum, ihre Mutter davon zu überzeugen, daß es gut und sinnvoll wäre, kompetenten professionellen Rat einzuholen. Mit anderen Worten: Sie erkannte, daß die Erwartung, ihrer Mutter würde es besser gehen, wenn sie, Gail, sie öfter besuchte, nicht realistisch war. Dadurch daß Gail ihre Wut und ihre Besorgnis bewußt wahrnahm und mit ihrer Mutter darüber sprach, gelang es beiden gemeinsam, die Dinge in die richtige Richtung zu lenken. Gail sah ein, wo ihre eigenen Grenzen lagen, und schließlich konnte sie ihre Mutter dazu bringen, einen Psychiater zu konsultieren. Seine Empfehlung an die Mutter war, ein Antidepressivum einzunehmen, und drei Wochen später berichtete Gail mit großer Erleichterung, daß die alte Dame wieder zu ihrem früheren Selbst zurückgefunden hatte.

Wenn Sie bei einem Menschen, der Ihnen nahesteht, mit der Möglichkeit einer Depression konfrontiert sind, bringen Sie darüber in Erfahrung, soviel Sie können, so daß Sie schneller erkennen, ob es sich in der Tat um eine solche Störung handelt. Achten Sie genauer...

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