Mein Rucksack und ich – hoffentlich vertragen wir uns
Das ist mein Rucksack, geliehen von Michael, einem Kollegen und Freund. Darin mein Hab und Gut für die nächsten zwei Monate. Ich geize, schließlich muss ich ja alles tragen: ein Paar Turnschuhe, Flip-Flops, zwei Paar Socken, zwei Unterhosen, zwei Wanderhosen, zwei T-Shirts fürs Gehen, ein Shirt für die Nacht und ein Langarmleiberl aus Merinowolle für die kälteren Tage. Trekkingschuhe. Da die Fleecejacke, eine leichte Windjacke und ein Regenponcho, ein Hüttenschlafsack – auch er ist geliehen – und ein Funktionshandtuch, Zahnpaste und Zahnbürste, eine Kernseife, eine Tube Hirschtalg für die Füße. Das ist mein Rucksack, mein Begleiter, ja, dann ein E-Book: Ich habe den Wanderführer eingescannt, um Gewicht zu sparen. Dann ein Handy mit einer Wander-App, der Fotoapparat und, ganz wichtig, mein unbeschriebenes Moleskine-Buch mit vielen Seiten. Eigentlich gar nicht so bescheiden, wie anfangs gedacht. Natürlich gibt es dann noch die Bankomatkarte und auch die E-Card der Krankenversicherung fehlt nicht. Eigentlich bin ich gut abgesichert. Knapp acht Kilogramm wiegt mein Rucksack.
Es gibt ein Gedicht von Günter Eich, ein Gedicht am Ende des Krieges, 1945, es heißt Inventur. Da schreibt er, was er noch hat:
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Er hat nicht viel, ihm ist nicht mehr geblieben. Der Krieg hat alles genommen. Was geblieben ist, waren Trümmer. Ja, und die Liebe zum Schreiben:
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Vollkommen konträr zu damals, natürlich nicht vergleichbar. Damals nahm der Krieg, heute versucht man freiwillig, sich von vielem zu trennen, damit man wieder mehr hat – denkt man. Hoffentlich auch richtig gedacht. Es ist nicht viel, was ich mitnehme. Ich schultere meinen Rucksack, geh im Gang unseres Ordenshauses einmal auf und ab. Ein komisches Gefühl. Irgendwie noch fremd auf meinem Rücken. Aber er wiegt nicht schwer. Die Schuhe scheinen zu passen. Sind neu und eigentlich nicht erprobt.
Frankenburg, 21. August
Bin gestern weggegangen. Papst Franziskus hat ein „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen und in diesem Jahr möchte ich von Dachsberg in Oberösterreich nach Rom gehen. Gute tausendfünfhundert Kilometer. Ich lass eine Baustelle an unserer Schule zurück. Hoffentlich geht sich das bis Schulbeginn aus. Irgendwie plagt mich ein schlechtes Gewissen, eigentlich möchte ich noch bleiben, bis das Ende der Um- und Neubauarbeiten in Sichtweite ist.
Vor mir liegen unendlich viele Schritte der Unabhängigkeit, Schritte des freien Willens und hinter mir doch noch ziemlich viel Staub, Unfertiges. Hier neue Räume in unserer Schule in Dachsberg und dort ein unendlich weiter Raum, in dem ich mich zu Fuß bewege. So viele Wege, Kilometer, Berge, Ebenen und ein Körper, der schon einmal deutlich trainierter war. Ich gehe, Schritt für Schritt, denke viel, noch ist es ein Wirrwarr.
Die Baustelle hätte ich irgendwie noch gern zu Ende gebracht, aber von Ferdinand Treml, dem Autor von Der Pilgerweg nach Rom, an dessen Route ich mich ab Innsbruck halten will, kam der Rat, Mitte August aufzubrechen, damit es vor Rom nicht zu kalt und zu nass wird.
Bevor ich weggehe, treffen wir uns um acht Uhr in der Kapelle, meine Mitbrüder und unsere Köchin Renate mit ihrem Mann und unserem Schulwart Bruno. Aufmunternde Worte gibt mir unser Rektor P. Hans Schurm mit: „Pilgern meint, Gott entgegengehen. Und: Gott ist der eigentliche Pilger, er möchte in die Herzen der Menschen.“ Das kann ein langer und mühsamer Weg sein. Ich bekomme den Reisesegen. Renate sagt mir noch: „Bitte, denk an uns!“
So machen wir uns auf den Weg, mein Rucksack und ich, vorbei am Friedensmahnmal unserer Schule, auf die Baustelle schaue ich nicht mehr. Eine Erinnerung an voriges Jahr kommt mir in den Sinn: Am 8. Mai hatte unsere gesamte Schulgemeinschaft im Gedenken an siebzig Jahre Frieden bemalte Steine beim Mahnmal abgelegt. Auf dem stählernen Mahnmal saßen vier Schüler: Xaver, Paul, Martin und Maxi. Sie trommelten gute fünf Meter über der Erde mit Hämmern einen Rhythmus, der bewegte. Im Echo klang es wie in Stahlgewittern. Ein symbolischer Akt mit achthundert jungen Menschen, der unter die Haut ging. Eine große Sehnsucht nach Frieden und Freiheit. Und irgendwie – beim Vorbeigehen – möchte ich alle achthundert und dazu unsere gut achtzig Lehrerinnen und Lehrer und unsere Angestellten, die gesamte Schule auf meinem Weg mitnehmen. In Gedanken sind sie mit dabei. Ich möchte auch für sie gehen, ich mag unsere Schule und all die Menschen, die hier aus- und eingehen, wir haben ein tolle Mannschaft.
Schnell gehe ich weiter.
8. Mai 2015 – „70 Jahre Frieden“ Gedenkfeier beim Friedensmahnmal unserer Schule
Ich beginne meinen Weg mit Dankbarkeit, dass mein Orden mir diese Auszeit ermöglicht und dass unser Administrator Hans Angleitner seinen Pensionsantritt aufschiebt und mich als Direktor vertritt. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es ist schon ein großes Privileg, so viel Zeit zu bekommen. Zwei Monate liegen vor mir und ein Weg in die Ewige Stadt.
Nach zehn Kilometern frühstücke ich bei guten Freunden in Pollham. Maria, meine Hausärztin, feiert heute Geburtstag, Wolfgang, ihr Mann, unterrichtet bei uns und ist Diakon. Zusammen mit ihrem ältesten Sohn Lukas begleiten sie mich ein Stück des Weges. Wir gehen gemeinsam bis Grieskirchen und dann noch einen Teil der St. Georgener Allee, bis sie kehrtmachen. Eine herzliche Umarmung, Menschen, die mir nahe sind!
Ich geh allein weiter. Nach ein paar Schritten bekomme ich nasse Augen. Was ist in mich gefahren? Allein nach Rom? Irgendwie schmerzt jetzt schon mein Körper. Hab ich den Mund zu voll genommen? Ich weiß nicht, ob ich mein Vorhaben umsetzen kann. Es wird sehr schnell verdammt einsam. Aber die Einsamkeit suche ich halt auch. Immer wieder. Und doch ist in meinem Herzen eine Ursehnsucht, eine ganz große Bitte, dass niemand an Einsamkeit zu Grunde gehen muss. Einsamkeit – wenn dich niemand mehr braucht, sieht, anerkennt, wenn du das Gefühl hast, im Leben nicht mehr vorzukommen. Und wenn niemand dir gegenüber barmherzig ist.
Zwei ziemlich gute Freunde. Maria und Wolfgang begleiten mich auf meiner ersten Etappe.
Ich gehe im Jahr der Barmherzigkeit nach Rom, im Willen, auch darauf aufmerksam zu machen, es zu sagen, davon zu schreiben. Meine zwei T-Shirts habe ich beflockt mit dem Schriftzug Jahr der Barmherzigkeit und Anno della Misericordia. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich für mehr Barmherzigkeit auf dieser Welt gehen möchte.
An einer kleinen Kapelle bleibe ich stehen. Eltern von Zwillingen haben sie gebaut, nachdem sie ihre jugendlichen Kinder in einer Silvesternacht verloren haben. Sie sind bei der Explosion eines selbstgebastelten Böllers ums Leben gekommen. Schon wird die Barmherzigkeit auf die Probe gestellt. Großartig die Eltern, dass sie die Kraft hatten, an diesem Ort des Sterbens eine Kapelle zu bauen, dass sie offensichtlich die Kraft hatten, das Schlimmste, das man sich vorstellen kann, in die Hände Gottes zu legen.
Ein paar Schritte weiter kommt mir Alois entgegen, ein Lehrerkollege und guter Freund. Er wird mich bis Weibern begleiten. Ich merke schon meine knapp zwanzig Kilometer in den Beinen. Er ist noch fit. Ich versuche, sein Tempo zu halten. Mir nur nichts anmerken zu lassen. Eigentlich ziemlich kindisch. Wir gehen noch gut fünfzehn Kilometer. Und weit und breit nichts zu trinken. Äußerst müde kommen wir in Weibern an. Ich gehe früh schlafen und im Bett liegend denke ich mir: „Wie kann ich ohne größeren Gesichtsverlust aus dem Unterfangen wieder aussteigen?“ Vollkommen erledigt und mit Schmerzen liege ich im Bett, schlafe aber bald ein, freilich mit der Ungewissheit, wie das Unternehmen weitergehen soll.
Ich hab erstaunlich gut geschlafen, bin aber skeptisch aufgewacht. Silke, die Frau von Alois, hat meine Wäsche gewaschen und nach einem mehr als reichhaltigen Frühstück breche ich auf.
Es hat die Nacht über kräftig geregnet, jetzt fallen nur noch wenige Tropfen, die nicht stören. Bis Geboltskirchen gehe ich auf Asphalt, ehe es in den Kobernaußerwald geht. Mehr oder weniger zwei Tage geh ich im Wald, eigentlich bis Schneegattern. Der Wald macht das Gehen angenehm. Vom Regen kommen nur wenige Tropfen durch die fast dichten Baumkronen. Mein rechter Schuh drückt beim Knöchel. Ich müsste mit der Ferse ein bisschen höher stehen und lege ein Taschentuch unter die Einlage meines Schuhs. Das hilft. Ich gehe bis Frankenburg und spüre, dass ich mich gestern, an meinem ersten Tag, überanstrengt...