1Flow Yoga
Vinyasa
Alles ist in Bewegung. Alles kommt und geht. Da ist nichts, was wir festhalten könnten. Beständig ist nur das Fließen.
Die Permanenz liegt im Fließen, nicht in der Statik.
Achtsamkeit weckt in uns die Fähigkeit, dieses Fließen und zugleich die Ruhe in aller Bewegung zu erfahren.
WILLIGIS JÄGER
Flow Yoga basiert auf dem Konzept des Vinyasa. Vi bedeutet »in einer speziellen Weise«, und nyasa kann als »anordnen, platzieren« wiedergegeben werden. Im Vinyasa und somit im Flow Yoga werden die Asanas in einer speziellen Weise angeordnet, platziert und variiert. Das bekannteste Vinyasa, der bekannteste Flow, ist der Sonnengruß.
Vinyasa ist wie das Arrangement der Noten in einer Melodie, die Schritte in einem Tanz, die Worte in einem Gedicht. Nachdem wir die Noten gelernt haben, die Technik der Bewegungen und die Asanas, kreieren und spielen wir damit. Unsere Melodie, unser Tanz, unser Flow kann sanft, sinnlich, weich und verspielt sein oder anregend, dynamisch, kraftvoll und herausfordernd. Flow Yoga ist ein fließender Strom der Veränderungen, harmonisch verbunden mit unserem Atem.
Im Flow Yoga gibt es keine festgelegte Reihenfolge, keine vorgegebenen Sequenzen. Yoga Flow ist vielfältig, ein sich immer wieder veränderndes Üben. Es ist ein spielerischer, freier und kreativer Umgang mit den Asanas, mit den Variationen in den Asanas und den bewegten Verbindungen.
Ein Asana verwandelt sich in das nächste in choreografierten Abläufen. Mit unserem Atem initiieren wir harmonisch das Hineingleiten in ein Asana und das Wiederherausgleiten. Wir gleiten in das Asana, verweilen darin und lösen es wieder auf; wir kreieren, erhalten, zerstören und kreieren aufs Neue in einem fortlaufenden Fluss. Nicht dem Asana allein gilt im Flow Yoga unsere volle Achtsamkeit, sondern auch den bewegten Verbindungen. Die Asanas werden Teil eines Ganzen, sind nicht mehr nur isolierte Formen.
Wir fließen von einer Erfahrung in die nächste, bewegen uns in einem Zustand nahtloser Konzentration und der Zeitlosigkeit. Die Übergänge zwischen den Asanas erscheinen unauffällig, natürlich und leicht. Ein Gefühl der Einheit von Körper, Bewegung, Atem und Geist entsteht. Wir erleben die Meditation in Bewegung.
Im Yogasutra heißt es: »Wenn Gedanken und Eindrücke im gleichmäßigen Strom den Geist durchfließen, sammelt sich der Mensch – das ist Yoga.«3
Die Quellen des Flow – T. Krishnamacharya
Flow Yoga schöpft aus den zahlreichen traditionellen Quellen des Yoga, wie dem Yogasutra des Patañjali (siehe Kap. 6), der Bhagavad Gita4, dem Grundkonzept des traditionellen Sonnengrußes (siehe S. 91) und im Besonderen aus dem Lebenswerk des Gelehrten T. Krishnamacharya (1888–1989).
Yoga ab dem 20. Jahrhundert und wie wir es heute kennen wurde wesentlich von dem großen Meister Krishnamacharya und seinen vier wichtigsten Schülern geprägt, die ihrerseits zu weltweit bekannten, herausragenden Persönlichkeiten des Yoga wurden: Indra Devi, B. K. S. Iyengar, Pattabhi Jois und T. K.V. Desikachar.
Krishnamacharya begann bereits als Kind, Sanskrit und Yoga von seinem Vater zu lernen, widmete sich später an Universitäten unter anderem philologischen und religiösen Studien, studierte Musik, Rechtswissenschaft und Ayurveda.
Krishnamacharyas Sohn T. K. V. Desikachar erklärte einmal in einem Interview: »Mein Vater hatte nach unseren heutigen Maßstäben sechs Professorentitel, darunter einen in Logik. Er war ein Genie, und es war für ihn die größte Ehre, als Yogalehrer und Heiler betrachtet zu werden. Alles, was Yoga seit Jahrtausenden ausmachte, hatte er in den Bergen Tibets im Himalaya von den Gurus direkt gelernt, und – und das ist wahrscheinlich sein größtes Verdienst – er hat Yoga revolutioniert, indem er es an die modernen Verhältnisse anpasste.«5
1928, als Krishnamacharya nach acht Jahren Lehrzeit mit dem spirituellen Meister Sri Ramamohan Brahmachari den tibetischen Himalaya verließ, war Yoga eine aussterbende Kunst, die nur von wenigen praktiziert wurde. Als 1931 Krishnamacharya vom Maharaja von Mysore nach Südindien berufen wurde, begannen für ihn zwei fruchtbare Jahrzehnte. Die königliche Familie des Maharaja förderte seit über zweihundert Jahren die indische Kultur und Yoga. Im königlichen Palast in Mysore befindet sich noch heute die Sritattvanidhi, eine der ältesten bebilderten Sammlungen von Asanas.
Während Krishnamacharyas Zeit in Mysore waren Indra Devi, B. K. S. Iyengar und Pattabhi Jois seine Schüler. 1950, nach der Unabhängigkeit Indiens, zog Krishnamacharya nach Chennai (Madras) und entwickelte dort seinen individuellen Ansatz weiter.
T. Krishnamacharya leistete Pionierarbeit in der Verfeinerung der Asanas, ihrer therapeutischen Anwendung und dem Ausüben der Asanas in einer sinnvollen Reihenfolge (Vinyasa Krama). Er legte den Akzent darauf, die Asanas immer mit dem Atem zu verbinden, und machte sie so zu einem wesentlichen Teil der Meditation, statt sie nur als einen Schritt zu sehen, der zu Meditation führt. Er betonte die Hingabe in jeder Handlung, die innere Ruhe in jedem Asana und die spirituelle Bedeutung des Atems.
In seiner tiefen Ehrfurcht und Achtung vor der Einzigartigkeit eines jeden Menschen hob er hervor, Yoga solle immer dem Menschen angepasst werden, nicht der Mensch dem Yoga. So wurde Krishnamacharya immer zu dem Lehrer, den ein Schüler gerade brauchte, getreu seiner Maxime: »Lehre einen Schüler immer das, was er braucht, nicht mehr und nicht weniger.« Er betonte das Konzept des Vinyasa Krama als einen kunstvollen Zugang zum Leben, für alle Rhythmen, Phasen und Zyklen des Lebens, für unsere Beziehungen und unsere persönliche Entwicklung.
Indra Devi (1899–2002), die »First Lady des Yoga«, übte als erste Frau eine herausragende und nachhaltige Wirkung auf den internationalen Yoga aus. Sie gründete 1939 die erste Yogaschule in Shanghai, überzeugte den Kreml von den Vorzügen des Yoga, woraufhin das Yogaverbot aufgehoben wurde. 1947 zog sie nach Hollywood und löste von dort die erste populäre Yogawelle aus. 1952 schrieb sie den ersten Yoga-Bestseller. 1985 machte Indra Devi Buenos Aires zu ihrer Heimatstadt und gründete dort sechs Yogaschulen.
B. K. S. Iyengar (geb. 1918) ist der Meister der wissenschaftlichen und therapeutischen Analyse der Positionen. Er brachte eine neue Dimension der Genauigkeit und präzisen Ausrichtung in das Üben der Asanas und verhalf dadurch dem Yoga im Westen zu Akzeptanz und Anerkennung.
Pattabhi Jois (geb. 1915) ist die Leitfigur des Ashtanga-Vinyasa-Yoga, einer körperlich stark herausfordernden Form des Hatha-Yoga. Diese Form des Übens erfordert höchste Kraft, Flexibilität und Ausdauer und besteht aus sechs festgelegten Serien.
T. K. V. Desikachar (geb. 1937), Krishnamacharyas Sohn und einer seiner langjährigsten Schüler, betont die Wichtigkeit des Atems, das emotionale Heilen und das Individuelle im Üben. Er gründete 1976 in Chennai das Krishnamacharya Yoga Mandiram, ein gemeinnütziges Yoga-Institut. Yoga Mandiram ist ein Ort, der die Lehren T. Krishnamacharyas erhält, lebt und weitervermittelt.
Sein immenses erlebtes Wissen und tiefes Verständnis, sein überzeugendes Charisma und seine Integrität machten ihn zu einem respektierten und einflussreichen Erneuerer und Reformer des Yoga. T. Krishnamacharya arbeitete immer im Stillen mit den einzelnen Menschen, scheute den Ruhm und den Reichtum – und begann eine sanfte und stille Revolution, die das Yoga neu belebte.
Parinamavada – der Fluss der Veränderung
Alles, was erscheint, erscheint nur im Wandel.
YOGASUTRA6
Das Bewusstsein vom großen Wandel, Parinama, verleiht der kreativen Energie im Menschen Gestalt.
R. SRIRAM7
Parinamavada, alles ist im Wandel. Der kontinuierliche Strom der Veränderungen und vorübergehender Erscheinungen prägt unsere gesamte Existenz. Wir wissen nie, was im Leben geschehen wird. Yoga ist die Erkenntnis dieser unausweichlichen Tatsache. Indem wir lernen, durch unser Üben des Yoga zu fließen, lernen wir auch, uns mit Kraft, Vertrauen und Hingabe diesem Fluss des Wandels hinzugeben.
So wie wir die Dinge heute sehen, haben wir sie vielleicht gestern nicht gesehen und empfunden. Unsere Situation, unsere Beziehung zu den Dingen haben sich verändert, oder wir selbst haben uns verändert. Die Art, wie wir ein Asana gestern empfunden haben, wird nicht die Art sein, wie wir es heute empfinden oder wie wir es in den noch kommenden Phasen unseres Lebens empfinden werden.
Im Flow Yoga befinden...