Einleitung
Der deutsch-sowjetische Krieg, der am 22. Juni 1941 begann, war voller Besonderheiten, Extremfälle und Grenzerfahrungen. Dazu gehören insbesondere die Gewalt, mit der das Deutsche Reich die Sowjetunion überzog, aber auch die Antworten, die die stalinistische Sowjetunion fand, um die Niederlage abzuwenden. Gleichermaßen Leidtragende wie auch Exekutoren waren auf sowjetischer Seite die bis zu 35 Millionen Rotarmisten und die knapp eine Million Rotarmistinnen,1 die diesen Krieg auszufechten hatten. Von der Wehrmacht sollten sie vernichtet werden und mussten sich zunächst verlustreich und schmachvoll zurückziehen; von der eigenen Führung wurden sie massiv repressiert. Schließlich kamen sie als Sieger und Besatzer nach Mittel- und Osteuropa, wo die Männer der Roten Armee Abertausende von Zivilistinnen vergewaltigten: deutsche Frauen, befreite Frauen, slawische Frauen.2 Wie konnte es zu dieser überbordenden sexuellen Gewalt kommen? Diese Frage steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit.
Die Rote Armee changiert in vielerlei Hinsicht zwischen Regelfall und Ausnahmeerscheinung. So mag die Anzahl sowjetischer Soldaten,3die von den eigenen Institutionen mit dem Tod bestraft wurden, immens hoch erscheinen. Doch sind die drakonischen Maßnahmen der sowjetischen Führung letztlich nichts anderes als eine Fortsetzung des Stalinismus vor 1941, und andere Armeen zogen in ähnlich ausweglosen Situationen ähnliche Register.4 Nichts anderes gilt für die massive sexuelle Gewalt, die die Rotarmisten verübten, als sie nach Deutschland vorrückten. Denn sexuelle Gewalt gegenüber den Frauen der jeweils verfeindeten Nation gehört zu kriegerischen Auseinandersetzungen, seitdem wir von Krieg wissen. Sie findet als staatlich organisierte Prostitution oder in Form von Übergriffen einzelner Soldaten statt, manchmal wird sie gar zur Terrorisierung des Feindes instrumentell eingesetzt.5 Doch die sexuellen Übergriffe der Rotarmisten stechen zum einen aufgrund der sehr hohen Zahlen hervor: Verschiedene Studien sprechen von über zwei Millionen vergewaltigter Frauen allein auf deutschem Boden. Zum anderen konnten die Vergewaltigungen sehr brutal sein, aber auch als Nötigung ohne Einsatz physischer Gewalt stattfinden. Aber v. a.: Sie hatten nicht nur die Frauen des militärischen Gegners zum Ziel, sondern auch befreite und slawische Frauen.
Diese Varianz, was die Art und Weise der Vergewaltigungen sowie die Opfergruppen anbelangt, erfordert eine Abkehr von monokausalen Erklärungen hin zu einer alltagsgeschichtlichen. Deshalb stellt diese Arbeit das Erleben und die Erfahrungen der Rotarmisten (und der Rotarmistinnen) im Alltag des Großen Vaterländischen Krieges, wie die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion nach russischer Lesart genannt werden, ins Zentrum. Davon ausgehend soll untersucht werden, welche Geschlechterverhältnisse und Gewaltdynamiken sich in dem durch Mangel und stalinistische Willkür geprägten Frontraum der Roten Armee herausbildeten, die als Erklärung für die sexuelle Gewalt der Rotarmisten gegen Kriegsende herangezogen werden können. Hierbei kann die Arbeit auf einen großen Literaturbestand zurückgreifen: Alle genannten Themen wurden immer wieder von der Forschung und den Erinnerungsdiskursen der beteiligten Länder aufgegriffen, bislang aber kaum zusammengedacht.
Zur Forschungs- und Erinnerungslandschaft
Sowjetische und westliche Perspektiven auf den Krieg
Die Geschichte der Roten Armee wurde in West und Ost zumeist als Geschichte großer Männer und Schlachtenverläufe erzählt. In der Sowjetunion war es Josef Stalin,6 der sich zum Generalissimus und alleinigen Sieger des Großen Vaterländischen Krieges erklärte und die einfachen Armeeangehörigen zu »Schrauben« und »Rädchen« in der Kriegsmaschinerie degradierte.7 Dementsprechend war die sowjetische Geschichtsschreibung der Nachkriegsjahre auch die eines großen Mannes und seiner großen Taten. Sie ignorierte nicht nur das Handeln, den Einsatz und das Leiden der Frauen in der Roten Armee, sondern die Erfahrungen eines jeden einfachen Soldaten, egal welchen Geschlechts.8
Dies sollte sich mit der Entthronung Stalins ändern. Mit der sogenannten Geheimrede von Nikita Chruschtschow 1956 erschienen die ersten Enzyklopädien und Memoiren mit Bezug auf den Krieg, die zumindest eine Kritik an Stalin und seiner Kriegführung zuließen. Insbesondere unter Leonid Breschnew wurde der »Sieg über den deutschen Faschismus« im »Heiligen Krieg« schließlich an das sowjetische Volk zurückgegeben.9 Auch um einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herzustellen, entstanden unzählige historische Arbeiten, Kriegserinnerungen und Gedenkrituale, die vorwiegend Heldengeschichten erzählten. Dies galt ebenfalls in Bezug auf (einzelne) Rotarmistinnen,10 um zu zeigen, wie fortschrittlich die Sowjetunion in der Frauenfrage war.11
Spätestens mit der Perestroika brachen die russischsprachigen Diskussionen zum Zweiten Weltkrieg ein weiteres Mal auf. Vielfach entstanden Arbeiten und Quellensammlungen, die sich auch mit den weniger heroischen Seiten des Großen Vaterländischen Krieges auseinandersetzten. Die letzten Entwicklungen im russischen Geschichtsdiskurs sind jedoch ambivalent: Neue Quellenkorpora sowie vielfältige Informationen, Berichte und Einschätzungen der pluralisierten und unübersichtlichen Medienlandschaft stehen auf den ersten Blick einer staatlichen Politik gegenüber, die versucht, jeden Ansehensverlust der Roten Armee zu verhindern, und den Krieg entmoralisieren will.12 Doch der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und die Ehre der Roten Armee scheinen auch gesamtgesellschaftlich umso sakrosankter werden, je weiter sie zurückliegen und Patriotismus sowie Ost-West-Konfrontationen zunehmen.13
Auch die Geschichtswissenschaft in Westeuropa und den USA hat sich des Kriegsalltags der Rotarmisten erst relativ spät und mit einigen Wendungen angenommen: Vor allem im angelsächsischen Raum wurde der Große Vaterländische Krieg als Antwort auf das deutsche Unternehmen Barbarossa gesehen. Dementsprechend wurde er vielfach einem militärgeschichtlichen Duktus gemäß entlang von Frontverläufen und Schlachten sowie anhand politischer und militärischer Persönlichkeiten erzählt.14 Neuere Arbeiten beschäftigen sich damit, in welchem Verhältnis der Krieg und das stalinistische System standen, welchen Zugriff der Staat auf das Individuum hatte und in welchem Verhältnis der »Angst-Faktor« oder andere den Soldaten äußerliche Faktoren sowie die Freiwilligkeit, die im sowjetischen System noch möglich war, stehen.15
In Deutschland fehlt es weitgehend an einer Forschung zur Roten Armee: Hier lag und liegt das Hauptaugenmerk auf der Wehrmacht. Dazu kommen Arbeiten zum Kriegsende und zur sowjetischen Besatzung Deutschlands sowie zur sexuellen Gewalt der Rotarmisten, auf die noch zurückzukommen sein wird. Besonders relevant für meine Arbeit sind aber die theoretischen Diskussionen, die sich in der westlichen Historiografie entspannten. An diesen sind die neueren Publikationen zu den einfachen Angehörigen der Roten Armee und zu deren Gewalt zu messen.
Kulturgeschichtliche Ansätze und die Frauen in der Roten Armee
Die prägendste theoretische Entwicklung begann mit der zweiten Welle16 der Frauenbewegung, die in den 1960ern und 1970er Jahren den mannigfaltigen Ausschluss von Frauen kritisiert hatte. Um diese Leerstelle zu füllen, entstand eine vielfach additive Frauengeschichtsschreibung, die Frauen entweder als Marginalisierte und Unterdrückte oder in ihren positiven, gar heldinnenhaften Beiträgen sichtbar machte.17 Insbesondere die Rotarmistinnen passten zu diesen Ambitionen, sodass auch im Westen Heldinnengeschichten entstanden, die in einem ereignisgeschichtlichen, oftmals biografischen Narrativ auf sie verwiesen.18
Mit dem cultural beziehungsweise dem linguistic turn und der Alltagsgeschichte sollte sich die Frauengeschichtsschreibung zu einer Geschlechtergeschichtsschreibung entwickeln. Diese fragt, welche Rollen und Attribute Männern und Frauen als geschlechtlichen Wesen in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zugeschrieben werden und wie sie ihre geschlechtliche Identität (gender) annehmen, ausfüllen und neu erschaffen (doing gender), sodass eine bestimmte Gesellschafts- oder gar Herrschaftsordnung entsteht. Im Fokus stehen Alltags- und Sprachpraktiken, die es dicht zu beschreiben und zu interpretieren gilt,19 sowie die subjektiven Identitäten, die Menschen ausmachen.
Die Anleihen feministischer Historikerinnen wie Joan Scott bei Michel Foucault, der wie kein Zweiter für den linguistic turn in der Geschichtswissenschaft steht, sind überdeutlich. Laut Foucault bestimmen Diskurse als sich verändernde und sprachlich strukturierte Sagbarkeitsregime nicht nur, was auf welche Art und Weise...