Claudia Lenssen
Ula Stöckl ist eine Pionierin und Grenzgängerin unter den Regisseur*innen des deutschen Films. Als eine der ersten Frauen studierte sie in den 1960er Jahren an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, einem der Bauhaus-Idee verpflichteten Labor der Moderne, das von Inge Aicher-Scholl, einer Schwester der Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl, mitgegründet worden war. Ursprünglich mit dem Wunsch, Drehbuchautor*in zu werden, absolvierte sie in der neugegründeten Filmabteilung der Hochschule ab 1963 als erste Frau in der Bundesrepublik ein Studium, das sie zur professionellen Autorenregisseur*in ausbildete.
Das visuelle Erzählen fasziniert Ula Stöckl von jeher, auch in ihrer Tätigkeit an der State University in Orlando/Florida, wo sie Film lehrt und seit 2005 eine Professur auf Lebenszeit innehat. Im Atmosphärischen der Bilder, schrieb sie, ist das »nicht Gesagte oder durch Worte allein nicht Vermittelbare«1 enthalten. Darin spiegele sich die Situation wider, aus der sie mit ihrer Entscheidung für den Regie-Beruf ausbrechen wollte: »Frauen wurden nicht genannt, nicht gehört, waren unsichtbar, eine Negativfolie der männlichen Welt, in der wir lebten.«2
Das vorliegende Heft 53 der »Film-Konzepte« ist nicht in erster Linie aus dem Geist entstanden, Defizite dingfest zu machen oder Ula Stöckls Œuvre als Exempel für den Kampf um Sichtbarkeit, gegen sexistische Ausschlussmechanismen, aufoktroyierte Beschränkungen und generell das marginalisierte Filmschaffen von Frauen zu untersuchen. Umgekehrt geht es uns darum, ihre Plädoyers für die Vielfalt und Verschiedenheit der Welt, ihren unbestechlichen Blick auf Machtstrukturen bis in die intimsten Beziehungen und den besonderen Touch ihrer Filme genauer in den Blick zu nehmen. Wiederzuentdecken sind alle ihre Filme, auch ihre frühen Dokumentarfilme und die der späten Periode sowie ihre mittellangen, die sie in unverwechselbarer Handschrift in den 1970er Jahren für das Fernsehen realisierte.
26 Kurz-, Dokumentar- und Spielfilme realisierte Ula Stöckl im Lauf ihrer Karriere zwischen 1963 und 1993. Ihr Debütfilm NEUN LEBEN HAT DIE KATZE (1968), großes Kino in Farbe und Breitwandformat, war lange ein Geheimtipp und ist inzwischen zum Kultfilm avanciert. Die restaurierte Fassung der Kurzfilmserie GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (1969–1971) macht ein Zeugnis ihres anarchistischen Humors wieder zugänglich, das nur selten und in verstümmelter Form zu sehen war.
Ula Stöckl 1975, Digne Meller Marcovicz © bpk-Bildagentur Preußischer Kulturbesitz
Jedes ihrer Drehbücher hat Ula Stöckl als »Ausgrabung« einer Situation, einer Konstellation oder Parabel verstanden. Bei jedem Film »wurde es eine Lebensaufgabe, das Private zu untersuchen und das Politische daran herauszustellen«. Ihre Haltung und ihre Anliegen haben an Überzeugungskraft und Dringlichkeit nichts eingebüßt.
Die Idee zu dieser Publikation entstand nach einer erfolgreichen Werkschau zu Ehren von Ula Stöckls 80. Geburtstag am 5. Februar 2018. Sechs Tage in Folge präsentierte das Arsenal Kino Berlin in Anwesenheit von Ula Stöckl und weiteren Gästen ein sehr gut besuchtes Programm, das die Experimentalfilmerin Bärbel Freund und der Kameramann, Produzent und Weggefährte von Ula Stöckl, Thomas Mauch, gemeinsam kuratiert hatten.3 Der Werkschau war eine intensive Recherche nach spielbaren Filmkopien vorausgegangen. Bärbel Freund kontaktierte dafür die Archive der Fernsehanstalten, für die vor allem in den 1970er Jahren Filme entstanden, und arbeitete mit Basis Film Verleih zusammen, die ihre späteren DER SCHLAF DER VERNUNFT (1983/1984) und DAS ALTE LIED (1991) produzierten.
Bis auf den verschollenen Film SONNTAGSMALEREI (1971), der für die ZDF-Redaktion »Das kleine Fernsehspiel« entstand (siehe Ula Stöckls literarische Filmskizze dazu in diesem Heft), konnte Bärbel Freund das Gesamtwerk erschließen, einige Filme jedoch nur in streifigen VHS-Kopien oder farbschwachen DVDs ausfindig machen – bislang zumindest. Ihr vorläufiges Rechercheergebnis, eine Filmografie, die den derzeitigen Forschungsstand darstellt, exakte Längen, Herstellungsdaten und technische Daten verzeichnet, ist diesem Heft beigefügt.
Vor allem die für das Fernsehen produzierten Filme von Ula Stöckl stellen exemplarische Beispiele für die Defizite bei der Rettung des audiovisuellen Erbes dar. Diese Publikation macht auf die Notwendigkeit der Arbeit für eine bessere Sichtbarkeit des vernachlässigten Erbes aufmerksam. Wir verstehen die vorliegende Arbeit auch als Appell an die Stiftung Deutsche Kinemathek, die beteiligten Archive und Rechteinhaber sowie die Regisseurin selbst, die Restaurierung und digitale Verfügbarkeit ihrer Filme voranzubringen.
Ula Stöckl hat eine lange Geschichte als beredte Interpretin ihres Werks. Seit in den 1970er Jahren die Frage nach der weiblichen Identitätsfindung wider die patriarchale Hegemonie als ein Kernthema der Filme von Frauen in den Blick rückte, entstand eine Filmliteratur der authentischen Selbstaussagen.4 Auch Ula Stöckl nahm in Interviews, Statements zu ihren Filmen und autobiografischen Selbsterkundungen häufig Stellung. Ihre Äußerungen sind Teil der Geschichtsschreibung über den Beitrag der Frauen im Neuen Deutschen Film5. Dabei stieß in den 1970er Jahren ihr individueller künstlerischer Ansatz, jenseits von Theorien und politischen Programmen Geschichten über »Macht – Krieg – Liebe« zu erzählen, in der Diskussion um die Frage einer feministischen Filmästhetik z. T. auf Skepsis und Abwehr, beispielsweise in dem historischen Heft 12 der Zeitschrift Frauen und Film, das ihr 1977 gewidmet war.6 Ula Stöckl wollte ihrerseits auf keinen Fall dem Etikett »Frauenfilm« untergeordnet werden, das sie für ein Nischenprädikat des öffentlichen Diskurses hielt und konsequent ablehnte. Die filmhistorische Einordnung dieser Kontroversen findet sich in einigen Beiträgen dieses Hefts wieder, sie steht allerdings nicht im Zentrum. Es geht uns vielmehr um eine Neubewertung aus heutiger Perspektive.
Anders als in der Rezeptionsgeschichte der männlichen Zentralfiguren des Neuen Deutschen Films stehen den Selbstauskünften von Ula Stöckl relativ wenige ausführliche Studien zu einzelnen Filmen und Werkgruppen gegenüber.7 Sie gilt als Zeitzeugin, aber weder existiert bislang eine Monografie, die die Zusammenhänge zwischen Leben und Werk untersucht, noch eine Schriftensammlung mit ihren (unverfilmten) Texten.
Der Filmhistoriker, Essayist und Autor der Zeitschrift Filmkritik Helmut Färber, ein langjähriger Beobachter der Laufbahn von Ula Stöckl, machte mich auf dieses Manko aufmerksam. Dieses »Film-Konzepte«-Heft nimmt seine Anregung auf. Es versteht sich als ein erster Schritt, denn ein Überblick über ihre 50-jährige Karriere, ihre Lebensthemen und Erzählformen kann hier nur an ausgewählten Filmen dargestellt werden.
1. »Zuhause ist da, wo ich was verändern will.«
Ula Stöckl sagte über sich, dass sie von Kriegs- und Nachkriegsbildern geprägt sei und diese Erfahrungen im Rückblick die Wahl ihrer Themen erklärten. Geboren am 5. Februar 1938 in Ulm, erlebte sie als Sechs- und Siebenjährige die Bombennächte, in denen ihre Geburtsstadt vollkommen zerstört wurde. Ihre Familie verlor das gesamte Hab und Gut, lebte lange in Notquartieren und musste von Null beginnen. Drei Geschwister starben, der Vater kehrte spät aus dem Krieg zurück. Alles konzentrierte sich auf die Reorganisation des Alltags, zu der die Mutter durch öde Fabrikarbeit beitrug, sich der Pflicht opferte, während der Vater, ein Musiker, versuchte, beruflich wieder Fuß zu fassen. In ihren Filmen sei davon viel zu finden, sagt Ula Stöckl: »Immer wieder geht es um die Vaterfigur und die Rolle der Mutter, Generationen, Geschlechter- und Beziehungsfragen, Familie und Struktur, Arbeit und Liebe.«
Der Beitrag von Eva Hiller gibt der Wucht der prägenden Erfahrungen Raum. Ihr Text ist eine Collage aus berührenden autobiografischen Passagen mit zeitgeschichtlichen Momentaufnahmen, vom Nationalsozialismus über die Kindheit und erste Emanzipationsversuche bis zum Studium an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, der folgenden Desillusionierung über die Filmszene Anfang der 1970er Jahre, und schließlich ein charakteristisches Erlebnis männlicher Dominanz mit Rainer Werner Fassbinder am Frankfurter Theater am Turm.
Ula Stöckl schildert da in der ihr eigenen bildreichen Sprache, wie sie mit 16 Jahren eine Ausbildung als Sekretärin begann, mit 20 in London und Paris die Landessprachen studierte und Ende der 1950er Jahre einen Bürojob in der französischen Hauptstadt annahm. Sie wollte fort aus Ulm, wollte aus den vorgezeichneten Mustern als Ehefrau, Mutter und Zuverdienerin ausbrechen, nicht passiv sein, sondern anders leben und arbeiten als die Generation ihrer Mutter.
Sabine Schöbels Essay über den Film DEN VÄTERN VERTRAUEN, GEGEN JEDE ERFAHRUNG (1982) setzt sich mit Ula Stöckls Versuch auseinander, den Schock zu thematisieren, den eine junge Deutsche als Au-pair in Paris erlebt, als ihre französischen Gasteltern sie mit dem Holocaust und der Schuld der Elterngeneration konfrontieren. Paris war Ende der 1950er Jahre ein Traumziel für junge Frauen, von denen einige später den Neuen Deutschen Film prägten. Wie Jutta Brückner, Ulrike Ottinger, Hanna Schygulla, Helma Sanders-Brahms (in...